Die unwahrscheinliche Geschichte des Neil Young

Erzählt zu seinem 70. Geburtstag

Von Walter ErhartRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Erhart

Am Anfang war keine Stimme. Die erste veröffentlichte Schallplatte von Neil Young: instrumentals ohne Gesang. Es spielten „The Squires“, eine Schülerband, die sich Anfang der 1960er Jahre in Winnipeg, Kanada, zusammengefunden hatte; 1963 durften sie im Tonstudio eines Radiosenders eine Platte aufnehmen, eine Single mit zwei von Neil Young geschriebenen Songs: „The Sultan“ und „Aurora“.

Nur wenige Jahre später war Young mit der Band Buffalo Springfield bereits in den amerikanischen Hitparaden, gleich neben den Beatles und Bob Dylan, den Rolling Stones und den Beach Boys. Und doch war er noch kein Sänger: Die erste Single der Band war ein von ihm geschriebener, jedoch nicht von ihm, sondern von Richie Furay gesungener Song („Nowadays Clancy Can’t Even Sing“). Auf der B-Seite war der zweite Songschreiber und der zweite Sänger der Band zu hören, Stephen Stills mit „Go And Say Good-Bye“. 1968 erschien Neil Youngs erstes Soloalbum, und auch hier, am Anfang, in Erwartung der ersten Plattenseite, ein Lied ohne Sänger, ein instrumental: „The Emperor Of Wyoming“. Und nach dem Umlegen der Vinyl- Platte dasselbe Spiel, man hört einen eigentümlichen Country-Song – ohne Stimme: „String Quartet From Whiskey Boot Hill“.

All dies waren keine Zufälle. Der Sänger Young kam aus dem Verborgenen. Obwohl seine Stimme zu einem eigenen Markenzeichen in der Geschichte der Pop- und Rockmusik wurde, war sie anfangs nichts wert. Und obwohl sie nicht wenig zur Bedeutung dieses neben Bob Dylan vermutlich einflussreichsten Rockmusikers beitragen konnte, hat er sie zunächst versteckt. „Seine Stimme war seltsam, zittrig“, erinnerte sich einer seiner ersten Produzenten, Ahmet Ertugan vom Plattenlabel Atlantic. „Er hatte nicht viel Zutrauen zu seiner Stimme“, gab sein zweiter Produzent Jack Nitzsche zu Protokoll. Er „hasste seine Stimme“, so erzählte es der Produzent seines ersten Soloalbums, Elliot Roberts, in den späten 1970er Jahren.

Kein Wunder, dass diese Beobachtungen auch das Bild des Sängers von sich selbst beeinflusst haben. Bereits nach den zweiten Plattenaufnahmen in einem kanadischen Radiosender soll ihn der Toningenieur beiseitegenommen haben: „Du bist ein guter Gitarrenspieler, aber du wirst es nie zu einem Sänger bringen.“ Wenig später, bei Buffalo Springfield, als es immer wieder darum ging, welche Songs der Gruppe für die entscheidenden (und dann doch mäßig erfolgreichen) Singles ausgewählt werden sollten und wer auf den Alben wie oft mit eigenen Kompositionen vertreten sein durfte, habe sich kein Geringerer als der enge Freund Stephen Stills darüber beschwert, wie quietschend und piepsig („squeaky“) Neils Stimme nun mal klingen würde.

Anders als Bob Dylan, dessen herber Gesang schon immer das ganze Selbstbewusstsein dieses Sängers verkörperte und der dieses Organ von Anfang an virtuos und für alle seine musikalischen Zwecke und Strategien einzusetzen wusste, begann der Sänger Young als Außenseiter, seiner selbst nicht sicher, von Kollegen und Kritikern beargwöhnt. „Neil hatte panische Angst vor dem Mikrophon“, und darüber habe sich auch niemand wundern können, so noch einmal Jack Nitzsche: „Diese ganze seltsame Sache mit seiner Stimme – all dies Zittern und Schütteln, man konnte meinen, der Kerl hat gerade einen Nervenzusammenbruch.“ Heute markiert seine Stimme sowohl die Innigkeit von Folkballaden als auch die Vehemenz und Aggressivität der ganz großen, mit den elektrischen Gitarren wetteifernden Rock-’n’-Roll-Stimmen. Kurz: Er konnte nicht singen, und trotzdem wurde sein Gesang berühmt. Vielleicht ist deshalb der Weg dieses Sängers geradezu typisch für die Rockmusik selbst: für ihre Herkunft aus einer zunächst abseitigen und verborgenen Gegenkultur, für eine anfangs befremdliche Klangwelt, die in kurzer Zeit ihren Siegeszug über die ganze Welt angetreten hat.

Es gehört zu den Rätseln dieser an Rätseln nicht gerade armen Geschichte der Pop- und Rockmusik, warum Young also nicht trotz, sondern gerade wegen seines Gesangs zu einem Klassiker und einer großen Figur dieser Geschichte werden konnte. Man muss dabei gar nicht – wie Rockkritiker es natürlich getan haben – zu einem berühmten Vertreter der postmodernen Theorie, zu Roland Barthes’ Ausführungen über die „Körnung der Stimme“ („le grain de la voix“) greifen, nach der es nicht das Melodiöse, das technisch Brillante und Gekonnte einer Stimme ist, aufgrund dessen sie geliebt und bewundert wird. Es gehe vielmehr um ihre mit dem Körper geheimnisvoll verbundene, sich den Zuhörerinnen und Zuhörern mitteilende, nur schwer in Worte zu fassende Fleischlichkeit, eine stimmliche und jeweils regellos und einzigartig geformte Einheit von Leib und Seele. Youngs Gesang ist beileibe kein Liebhaberobjekt, vielmehr konnte seine Stimme die Bedeutung dieses Künstlers genau deshalb so genau repräsentieren, weil sie den Weg von der Peripherie ins Zentrum, den Wechsel von Befremdung und überraschender Souveränität immer wieder neu vorführt. Ihr fast „außerirdischer“ Klang habe sie paradoxerweise stark und intensiv gemacht, aber auch Neil Youngs Außenseitertum begründet, so hat es der Rock-Historiker Bob Hoskyns in seinem Buch über die kalifornische Musikszene der späten 1960er Jahre beschrieben.

Diese Stimme, sie gibt in der Tat Rätsel auf und lasst seltsam aufhorchen, „eigensinnig und zerbrechlich“, wie sie der franzosische Schriftsteller Michel Houellebecq in einem Essay zu umschreiben versucht hat: „Sie kommt von weit her, aus den Tiefen der Seele. Sie gibt nicht auf. Es ist keine sehr männliche Stimme. Sie klingt ein wenig wie die einer Frau, eines Greises oder eines Kindes.“  Diese Stimme gehört „dem bis heute wohl schwächsten unter den schwachen Sängern“, so hat es Diedrich Diederichsen in seinem Standardwerk Über Popmusik (2014) noch einmal harsch hervorgehoben (und zugleich die Erfolgsgeschichte solch schwacher Stimmen nachgezeichnet).

„Neils Stimme ist eine Stimme und ist keine Stimme“, so formulierte es Bruce Palmer, der frühe Weggefährte und Bassist von Buffalo Springfield: „Sie ist ein Geheimnis, aber sie muss irgendeinen zelebralen Punkt in unserem Unbewussten treffen.“ Und Young selbst? „Meine Stimme ist ein verdammtes Mysterium für mich. Ich habe verschiedene Stimmen in mir.“ Handfester und praktischer wusste es Navid Kermani in seinem Buch Das Buch der von Neil Young Getöteten (2002) zu berichten: Die Darmkoliken seiner neugeborenen Tochter konnten überraschenderweise nur durch die Stimme von Neil Young gelindert werden, noch dazu am besten mit einem seiner stimmlich fragilsten, most squeaky Lieder: „The Last Trip To Tulsa“ (1968). Die beruhigende Wirkung, so sinniert Kermani, konnte von dem intra-uterinären, vorgeburtlichen Klang ausgelöst worden sein, einem ätherischen, von anderswo und von weit her kommenden Laut. „It’s a voice and it isn’t a voice.“

Der unerwartete Erfolg dieser Stimme, der verhaltene Seiteneinstieg des zunächst nur Gitarre spielenden Sängers und die alsbald unbestrittene Stärke und Bedeutung des von Neil Young verkörperten Gesangs: Etwas Ähnliches scheint sich bei dem Gitarristen Neil Young zu wiederholen. Technik und Bandbreite seines Gitarrenspiels, zumal im Vergleich mit seinen Zeitgenossen Eric Clapton, Jimi Hendrix oder Jimmy Page, seien durchaus begrenzt, so war und ist es häufig zu lesen. Und doch steht gerade dieser Sound – mit der akustischen und der elektrischen Gitarre – für eine eigentümliche Virtuosität und hat wie wenig andere über ein halbes Jahrhundert lang die Rockmusik geprägt: mit Riffs, Melodien und ohrenbetäubenden Gitarrensolos, mit kreischenden Rückkoppelungen und Pinch Harmonics (bei denen kurz mit dem Fleisch die Saite angeschlagen wird und ein quiekender oder pfeifender hoher Ton entsteht). Die dabei entstandenen Songs, Alben und Live-Konzerte wurden vor allem im symbiotischen Zusammenspiel mit seiner Band Crazy Horse einzigartig und unverwechselbar: „Southern Man“, „Like A Hurricane“, „Cortez The Killer“, Rust Never Sleeps oder „Rockin’ In The Free World“.

Die Stimme, das Gitarrenspiel, die beschwerlichen Anfange in der kanadischen Provinz, aber auch das oftmals Skurrile von Neil Young, das nur bedingt Medientaugliche und so wenig Medienwirksame seiner Person – all dies macht seinen Erfolg als ein Zentralgestirn der Pop- und Populärkultur immer auch unwahrscheinlich und überraschend. Und genauso oft, wie er sich als ebenso berühmter wie historisch bedeutsamer Rockmusikkünstler hervorgetan hat, ist er auch immer wieder im Abseits des Musikbusiness gelandet. Nicht seine Stimme, auch die ihn treibende, oftmals als ‚stur’ bezeichnete egomanische Leidenschaft für zuweilen abseitige Musikrichtungen, für eigentümliche Filmproduktionen, kostspielige Hobbys (Young kaufte irgendwann die darniederliegende amerikanische Spielzeugeisenbahnindustrie im Alleingang auf), aber auch für technologische Großprojekte (eines konzentrierte sich auf umweltfreundliche Elektroautos, das andere auf ein gegen die gesamte Musikindustrie gerichtetes neues Aufnahmeverfahren namens Pono), die Regelmäßigkeit, mit der er seine Fans und Kritiker vor den Kopf stieß und deren Erwartungen enttäuschte – all das deutet nicht gerade auf einen umjubelten Rockstar, sondern eher auf einen eigenbrötlerischen Tüftler und Besessenen, einen Außenseiter und Hobbykünstler, der es vielleicht nur durch Zufall zu einiger Bekanntheit gebracht haben mag. Pop- und Rockmusik feierte das Außergewöhnliche und das Rebellische, ist counterculture und doch schnell wieder mainstream. Genauso gehörte es zu den Merkmalen ihrer Vertreter und ihrer Helden, dass diese schnell Kultstatus bekommen und kommerzielle Erfolge feiern können und sich trotzdem immer noch als Außenseiter, Abweichler und Rebellen inszenieren.

Young scheint diese Pendelbewegung zwischen Randständigkeit und Mittelpunkt auf charakteristische und doch auf ganz eigene Weise zu verkörpern. In den 1960er Jahren prägte er mit Buffalo Springfield in Kalifornien den Westcoast-Sound – obwohl er nur ein einfaches und dabei eigentlich stimmloses Mitglied dieser Band war. Mit einer der ersten sogenannten supergroups, mit Crosby, Stills, Nash & Young, spielte er 1969 auf dem sagenumwobenen Woodstock-Festival (ist aber – auf eigenen Wunsch – im berühmten Film nicht zu sehen), wurde in den 1970er Jahren als Gitarrist und Sänger zu einer Ikone der Rockmusik und taucht seither immer dann auf, wenn es die noch tätigen bzw. noch lebenden Großmeister des Rock ’n’ Roll zu feiern gilt. Gleichzeitig aber war Young nie auszurechnen, sorgte immer wieder für Überraschungen und hat verlässlich und in regelmäßigen Abständen seine eben erst neugewonnenen Fans vergrault und die Kritiker düpiert: Nach seinem erfolgreichsten Album mit seinem einzigen Billboard-Number-One-Song (Harvest mit „Heart Of Gold“) hat er stilistisch genau entgegengesetzte Platten veröffentlicht. Und nachdem er in den späten 1970er Jahren (mit Rust Never Sleeps und Live Rust sowie dem Best-of-Dreifachalbum Decade) seinen fast schon musealen Kultstatus (zurück)gewonnen hatte, produzierte er in den 1980er Jahren nahezu unverkäufliche Schallplatten – und dürfte der einzige Musiker in der Rockgeschichte gewesen sein, der von seiner neuen Plattenfirma Geffen Records verklagt wurde, weil er entgegen vermeintlicher Absprachen und kommerzieller Hoffnungen ,nicht-repräsentative’ Musik produziert hatte.

„Zerstörung“ sei das Wesen seiner Musik, hat Young einmal gesagt – und damit nicht nur das Geheimnis seiner wandlungsfähigen Produktivität und mancher Klangmuster seines E-Gitarren-Spiels benannt, sondern auch einen wesentlichen Impuls der gesamten rockmusikalischen Kultur. Zu seinem Werk gehören bis heute Filme, mit denen er sein Fanpublikum und die Filmkritiker zutiefst verstörte, schräge, fast unerträgliche Schallplatten (wie die Kakophonie-Ansammlung Arc) sowie rätselhafte Kehrtwendungen. Als man sich in den 1990er Jahren darauf eingestellt hatte, von ihm nur noch Wiederholungen zu hören und eine abschließende Werkschau besichtigen zu können (die lange angekündigten und erst 2008 erschienenen Archives Volume One), legte er 2003 ein bis heute kolossal unterschätztes Konzeptalbum über eine amerikanische Kleinstadt im 21. Jahrhundert vor (Greendale), wenig später eine voluminöse Autobiographie (Waging Heavy Peace, 2012), und davon sogar eine Fortsetzung, mit eigens gemalten Aquarellen des Autors, nämlich Special Deluxe. A Memoir of Life & Cars (2014). William Echard hat in seinem Buch Neil Young and the Poetics of Energy 2005 einige dieser Neil-Young-Bewegungen quer durch die Rockgeschichte und die musikalischen Stile nachverfolgt. Zu nennen sind Folk, Rock ’n’ Roll, Rockabilly, Country, Blues und auch Punk. Young hat diese musikalischen Stile immer wieder kombiniert, integriert, miteinander verschmolzen, sie gleichzeitig jedoch in ihrer Vereinzelung bis ins verstörende Extrem getrieben: Das Country-Album Old Ways aus dem Jahr 1985 zum Beispiel wollte niemand richtig hören; die meisten Liebhaber des Folkmusikers Young wiederum konnten mit den lärmigen E-Gitarren-Klanggewittern der Crazy-Horse-Konzerte wenig anfangen.

Neil Young: ein verlässliches ,Urgestein’ der Rockmusik und gleichzeitig ein Chamaleon, dem niemand auf seiner Spur folgen kann, der immer wieder in neuen Verwandlungen auftaucht und in immer neue Richtungen geht. Auch dies verbindet sich mit einer klassisch gewordenen Geschichte der Rockmusik, die vom Aufstieg, dem Fall und dem Überleben ihrer Helden erzahlt. Nie hat Neil Young solche Drogen- und Alkoholexzesse durchgemacht wie Eric Clapton, David Crosby, Joe Cocker oder Keith Richards – und doch gilt auch er als einer der Überlebenden, einer jener Helden, die mehr oder weniger gezeichnet durch die Rock-Ära hindurchmarschiert und erstaunlicherweise immer noch da sind. Bereits 1972 hat Young über die Gefährdung der Musik durch ihre Drogenopfer einen Song geschrieben („The Needle And The Damage Done“); sein düsterstes Album Tonight’s The Night von 1975 war Trauerarbeit nach dem Tod seiner Freunde Danny Whitten und Bruce Berry; mit Sleeps With Angels (von 1994) setzte er einen denkwürdigen Grabstein für Kurt Cobain (und eine ganze Epoche). Zur Mythologie der Rockmusik gehört es auch, dass schon immer ihr eigener Tod ausgerufen wurde – ihre Erstarrung im mainstream, das Ableben ihrer besten Musiker und Sänger, die Erschöpfung einstmals ungebändigter Energien. „The day the music died“, heißt die berühmte Songzeile bereits 1971 in Don McLeans „American Pie“ (gemeint war damals der Tod von Buddy Holly im Jahr 1959). „Hey hey, my my, Rock and Roll can never die“, lautet die entsprechende Songzeile in einer schon selbst zum mainstream-Zitat gewordenen Hymne von Young auf seinem Album Rust Never Sleeps von 1979.

Young hat an diesem Mythos der sterbenden und doch immer überlebenden Rockmusik mitgeschrieben, zugleich ist er selbst einer ihrer mythischen Repräsentanten geworden. Eindringlich ist sein eigenes Muster von Wiederkehr und Verwandlung gerade deshalb, weil es mit einer charakteristischen Geste verbunden ist, die ein weiteres großes Thema der Rockgeschichte variiert: Einsamkeit und Liebeskummer, Schmerz und Trauer, die Klage um den Verlust sowie der mit jedem Aufbruch verknüpfte Wehmut des Abschieds. Der 24-jährige Folksänger imaginierte sich bereits in den späten 1960er Jahren als „old man“, er betrauerte den Auszug aus der nie überwundenen Kindheit („Sugar Mountain“, „I Am A Child“), dann das düstere Ende der Hippie-Jahre und der Flower-Power-Träume („Tonight’s The Night“, „Hippie Dream“), er beschrieb die Eroberung des unberührten lateinamerikanischen Kontinents durch „Cortez The Killer“ und klagte über die Niederlagen der amerikanischen Ureinwohner, aber auch über die vergebliche Suche der Siedler nach ihrem nie gesehenen homeland („Broken Arrow“, „Pocahontas“), er wetterte gegen die Zerstörung der Erde durch Menschenhand („After The Gold Rush“, „Mother Earth“, „Natural Beauty“, „Be The Rain“) und sah in dem schon lange zurückliegenden Verfall Amerikas („Are There Any More Real Cowboys?“) den Auszug aus einem imaginären Paradies, mehr noch: die verlorene Unschuld einer vielleicht einmal heil gewesenen Welt.

Auch dies ist zuallererst mit seiner Stimme verbunden gewesen. Ein „präadoleszentes Jaulen und Jammern“ hörte 1970 ein Kritiker auf dem Album After The Gold Rush, seine Stimme sei durchgängig klagend und leidend, „perpetually mournful“, kommentierte der Rolling Stone sein zweites Soloalbum Everybody Knows This Is Nowhere von 1969. Über die Jahrzehnte hinweg ist Young eine Art Schmerzensmann der Folk- und Rockmusik geblieben. Dabei war den meisten wohl gar nicht bewusst, dass der vermeintlich schwermütige Kanadier manche Schmerz- und Verlusterfahrungen auch der eigenen Biographie verdankte. Als er 14 war, ließen sich seine Eltern scheiden; in einigen Folksongs des über 50-jährigen wurde die Versöhnung zwischen Vater und Mutter, zu der es nie gekommen war, in der Phantasie nachgeholt („Red Sun“, „Daddy Went Walking“, 2000).

Seine Biographie tragt jedoch auch in anderer, viel konkreterer Hinsicht Züge einer Leidens- und einer Krankengeschichte: eine lebensbedrohliche Kinderlähmung in der Kindheit, ein daraus resultierendes muskuläres Ungleichgewicht der linken Körperhälfte, epileptische Anfälle, schwere Bandscheibenvorfälle in den frühen 1970er Jahren, eine Kehlkopfoperation, zuletzt während der Aufnahmen zu Prairie Wind 2005 ein Gehirnaneurysma mit komplizierter Operation. Zwei seiner drei Kinder, der erste Sohn Zeke (aus der Beziehung mit der Schauspielerin Carrie Snodgress) und der zweite Sohn Ben aus der Ehe mit Pegi Young, wurden mit einer Behinderung (Zerebralparese) geboren; mit dem schwerstbehinderten Ben organisierte das Ehepaar Young über Jahre hinweg aufwendige Therapie-Programme. Manche seiner Alben, etwa Tonight’s The Night (1975), Sleeps With Angels (1994), Broken Arrow (1996) und Le Noise (2010), sind Trauer- und Grabgesänge für die gestorbenen Freunde und Kollegen, auch die Autobiographie Waging Heavy Peace von 2012 besteht aus einer Reihe von Gedenkreden und Nekrologen für die zahlreichen, inzwischen gestorbenen Weggefährten.

In vielerlei Hinsicht hat immer auch das Private die Musik von Young beeinflusst, anders als etwa bei Bob Dylan sind die Lieder und Verse, auch die Entwicklung der Werkphasen zutiefst (auto-)biographisch geprägt. „Für mich ist jede meiner Schallplatten eine fortgesetzte Autobiographie“, gab er bereits 1975 in einem Interview zu Protokoll. Mit all den privat motivierten Erfahrungen ist er jedoch nicht im Rahmen der eigenen Biographie verblieben. Sowohl Wandel als auch Kontinuität dieses Musikers erzählen nicht nur von ihm selbst, sondern in sehr viel größerem Maße von etwas anderem, von einer Person, die ihr Eigenes immer auch als etwas Allgemeines und Zeittypisches präsentiert hat. Der melancholische Gestus seiner Songs und seiner Stimme, jene von Neil Young besungene Welt, in der alles mit Trauer unterlegt scheint, intoniert nicht nur eine typische Erzählung der Rockmusikgeschichte, sondern ist mit einer viel größeren (Verlust-)Geschichte verbunden, die bald keine historischen und geographischen Grenzen mehr kennen sollte.

Nicht ohne Grund verbindet sich die Klage über das Ende der Rockmusik mit einer Bilderwelt, die bei Neil Young immer wieder die Anfänge Amerikas, die indianische Urbevölkerung und den ,Wilden Westen’ des späten 19. Jahrhunderts beschwört, in vielen Songs und Zitaten, aber auch in der Choreographie der Konzerte und den Emblemen öffentlicher Auftritte: der zerbrochene Pfeil, der einem frühen Lied und Youngs Ranch „Broken Arrow“, unweit von San Francisco, den Namen gegeben hat, auf der Bühne platzierte indianische Totempfähle, Bilder von Indianern, Westernstädten und Teepees auf den Plattencovern. Einer klugen Beobachtung des Popjournalisten Simon Reynolds zufolge befindet sich Youngs Musik im Windschatten zweier traumatischer amerikanischer Desillusionen: der Schließung der western frontier am Ende des 19. Jahrhunderts (man war in Kalifornien angekommen, der Pazifik beendete durch seine bloße Präsenz die immer wieder neue Auswanderung nach Westen und die Erweiterung des gelobten Landes) sowie der Schließung einer psychologischen und existentiellen Grenze, die in den 1960er Jahren aufgebrochen war und den Subjekten eine utopische Freiheit und Erlösung versprochen hatte. Auf diese Weise haben Neil Youngs Lieder die Mythologien des amerikanischen Kontinents noch einmal bevölkert, ein imaginäres Amerika, das Young nicht müde wird zu besingen.

Dabei ist er beileibe kein nostalgischer Geschichtsschreiber geblieben, stattdessen hat er mit seinen Songs eine aus all diesen Vergangenheiten stets neu entstehende poetische und musikalische Bilderwelt geformt, die sich immer auch für die Gegenwart öffnet. Fast ein halbes Jahrhundert lang hat Neil Young auf historisch-politische Ereignisse reagiert: vom Vietnam-Krieg bis zum 11. September 2001, von Woodstock bis zu den ökonomischen Krisen der Jahrtausendwende, von den Kriegen in Nahost bis zu drängenden Fragen der Umweltzerstörung und des Klimawandels im 21. Jahrhundert. Dabei wurden seine Alben und Lieder immer auch konkret: in der Anklage amerikanischer Politik („Ohio“, 1970; Living With War, 2006), im Eintreten für die Wehrhaftigkeit Amerikas („Hawks And Doves“, 1980; „Let’s Roll“, 2002), aber auch mit einem Appell zur Absetzung des Präsidenten („Let’s Impeach The President“, 2006). Er protestierte gegen die Kommerzialisierung der Rockmusik („This Note’s For You“, 1988) und gegen die Digitalisierung ihrer Tonträger („Driftin’ Back“, 2014), er warnte vor den Übergriffen von Free TV und Medienindustrie (Greendale, 2003), attackierte die Ölindustrie („Who’s Gonna Stand Up“, 2014) und machte zuletzt ein Engagement für erneuerbare Energien zu einem neuen Leitmotiv seiner Musik.

Zweifellos gehört er zu den Vertretern und den Erben jener in den 1960er Jahren entstandenen Folk- und Protestbewegung, die sich die Kritik der ,Gesellschaft’ auf ihre Fahnen geschrieben hat; anders als Bob Dylan aber hat er dieses Engagement immer fortgesetzt, nicht als Intellektueller und nicht als politischer Kommentator, sondern mit Musik und mit Songtexten, nie überlegt oder mit langem Atem beim selben Thema verbleibend, sondern eher eruptiv und emotional, auch hier kaum berechenbar und in immer neuen Verwandlungen.

Romantik und Rebellion, Nostalgie und Kritik gehen bei Young eine für die Rockmusik vielleicht nicht untypische Allianz ein. Und an dieser Stelle kommt seine einzigartige Stimme wieder ins Spiel: Sehnsüchtig und klagend besingt er die verschwundenen Welten amerikanischer Landschaften und paradiesischer Unschuld, laut, aggressiv und böse hingegen klingen Ton und Sprache, wenn er die Welt gegen die ihren Untergang betreibenden Kräfte verteidigt. Anders als manche frühen Rebellen und Revolutionäre des Rock ’n’ Roll ist gerade der sich mit traurigen Liebesliedern hervortuende Kanadier zu einem Wortführer eines anderen Amerikas und zu einem Chronisten amerikanischer Zeitgeschichte geworden – auch dies gehört zu der eigentümlichen Geschichte seiner Biographie.

Mit der Beschwörung amerikanischer Traume und der Klage über ihre regelmäßige Zerstörung ist er immer erzkonservativ und kritisch zugleich, zuweilen auch eher schlicht und naiv. Seine ,Politik’ spiegelt die seismographische Macht der Rockmusik, sich zu äußern, Stellung zu nehmen, eine Gegenkultur zu etablieren, sich mit der Politik und der offiziellen Kultur immer wieder zu berühren oder anzulegen, zugleich aber verfehlt sie häufig auch die Komplexität ihrer Gegenstande und beschreibt auf diese Weise ebenfalls eine aufschlussreiche, vielleicht wiederum typische Geschichte der Rockmusik selbst: ihr zutiefst gespaltenes und emotionales Verhältnis zu Politik und Zeitgeschehen, eine seit Rock ’n’ Roll und Folk-Bewegung spürbare Widersprüchlichkeit zwischen Parteinahme und Unabhängigkeit, Kritik und Ignoranz.

Gerade dieses musikalische Werk provoziert deshalb eine ganz allgemeine Frage: Wie reagiert Pop- und Rockmusik auf Gesellschaft? Darüber ist viel, vermutlich viel zu viel geschrieben worden, und doch stellt sich diese Frage im Hinblick auf diesen Musiker immer wieder neu. Dabei kommt es keineswegs auf die einzelnen politischen Statements an, mit denen Neil Young das Weltgeschehen begleitet, vielmehr auf welche Weise die gesellschaftlichen und historischen Ereignisse jeweils in die Form und die Verwandlungen seiner Musik und seiner Texte eingegangen sind. Gerade dieses Werk entstand nicht ruhend aus sich heraus, blieb nicht unverändert, indem es – wie heute zum Beispiel bei den Rolling Stones – die ewig heroische Zeit der Rockmusikgeschichte einfach zu konservieren versuchte. Insbesondere der für Young charakteristische Gestus der rückwärtsgewandten Diagnose war immer von neuem darauf eingestellt, sich dem historischen Wandel und der gesellschaftlichen Gegenwart zu öffnen. Vom musikalischen und gesellschaftlichen Aufbruch der 1960er bis zur Desorientierung der 1970er Jahre, von der rätselhaften (post)modernen Vielfaltigkeit der 1980er Jahre bis zu den globalen, politischen, ökonomischen und ökologischen Erschütterungen der Jahrtausendwende ist seine das Zeitgeschehen begleitende Musik inzwischen selbst zu einer rockmusikalischen (Kultur-)Geschichte Amerikas geworden.

Und ein letztes Paradox dieses höchst unwahrscheinlichen Musikers gilt es zumindest anzudeuten: Obwohl Neil Young – „perpetually mournful“ – allzu oft das Ende aller Hoffnungen und Illusionen besungen hat, ist er wie kein zweiter Poet und Rocksänger doch auch eine immer wieder sich erneuernde Kraft- und Energiequelle der Rockmusik geblieben. Er hat den frühen Ausdruck des Leidens, den Schmerz seiner Stimme, seines Lebens und seiner Musik verwandelt und im Laufe der Jahre kontinuierlich in etwas anderes übersetzt: ins Positive und Produktive, in Therapie, Kunst, Anteilnahme, Zorn, Erinnerung – und in schiere musikalische Energie. Wieder scheint damit ein Nerv dieser gesamten Musik getroffen: die Entfernung von ihren Ursprüngen durch steten Wechsel einerseits, die Ursprünglichkeit einer gleichbleibenden, nie erlöschenden und die Jugendlichkeit bewahrenden Impulsivität andererseits. „People my age / They don’t do the things I do“, beteuert der 50-jährige in dem mit Pearl Jam eingespielten Song „I’m The Ocean“ auf Mirror Ball 1995. Wahrend Bob Dylan stets als der große nobelpreiswürdige Künstler verehrt und interpretiert wurde, als ein ,sentimentalischer’ Dichter, der kunstvoll die Einfachheit herzustellen versucht, galt Neil Young immer als der große ,Naive’ (um ein häufig benutztes Begriffspaar Friedrich Schillers aufzunehmen), als direkt und ungekünstelt, als ehrliche Haut und als ungeschliffener Diamant, weniger anspruchsvoll, dafür aber vital und leidenschaftlich, forever young und – von Ausnahmen und Abwegen abgesehen – immer er selbst.

Daran ist einiges richtig, aber auch einiges falsch und allzu einfach gedacht. Gerade an diesem Musiker ist der „Authentizitätsmythos“ des Rock-’n’-Roll-Zeitalters, wie ihn zuletzt Roger Beebe, Denise Fulbrook und Ben Saunders kritisch beschrieben haben, nur allzu häufig durchgespielt worden: dass die Rockmusik einen Ursprung und einen Kern besitze, die stets in Gefahr stünden, verunreinigt und verschüttet, kommerzialisiert und verdorben zu werden. Young hat diesen Mythos gleichzeitig genährt und immer wieder zerstört. Statt Authentizität zu verkörpern, hat er gerade deren Verlust besungen und betrauert; von Anfang an hat er Grabgesänge auf die Illusionen und Träume der Unschuld angestimmt und sie zugleich als mythische Vorgaben der gesamten amerikanischen Geschichte beschworen. In diesem Sinne ist seine Kunst naiv, also unreflektiert, spontan, von irgendwoher kommend (so hat er selbst es häufig umschrieben) und doch zugleich sentimentalisch, also berechnet und rhetorisch-kunstvoll: der Versuch, zu einer Naivität vorzudringen, die doch schon immer verloren war, das Bemühen, an die Naivität mit den Mitteln der Musik zu erinnern und doch gleich wieder auf sie zu verzichten. Als Folksänger singt er sich mit innigen Balladen und Liebesliedern die Unschuld und das Paradies herbei, mit Crazy Horse zelebriert er brachialen unverfälschten Garagenrock; zugleich aber neigte er immer auch dazu, sich technologischen Experimenten, der Künstlichkeit von Tonstudios und allerlei technischen Kontrollen zu verschreiben. Auch in der Frage von Authentizität und Künstlichkeit – ein weiteres großes Thema der Rockmusik – war auf ihn niemals Verlass, war er genau so wenig auszurechnen wie in seiner Parteinahme für gesellschaftliche Phänomene.

„Neil ist sehr ehrlich“, fasste Dylan 2008 in einem Interview mit dem Rolling Stone seinen eigenen Eindruck zusammen; zugleich findet er für die charakteristischen Widerspruche seines kanadischen Kollegen ein rätselhaftes Bild: Dieser könne sich in die Niederungen des Geschmacks begeben und gehe dann doch mit grandiosen und erhebenden Melodien wieder daraus hervor („He could be at his most thrashy, but it’s still going to be elevated by some melody“). Youngs Stimme kam aus der Unsicherheit und dem Verborgenen – und hat sich auf immer noch rätselhafte Weise als eine der großen Gesangsstimmen des 20. und 21. Jahrhunderts etabliert. Sein musikalischer Stil – ob mit Akustikgitarre, mit Mundharmonika, am Piano oder mit E-Gitarre und Verstärker – ist eher schlicht, gehört inzwischen jedoch zu den stets ‚erhebenden’ und grundlegenden Wesenszügen der amerikanischen (Rock-)Musik. Neil – so Bob Dylan weiter – sei der einzige, der so etwas tue, es gäbe keinen in seiner Kategorie („Neil’s the only one who does that. There is nobody in his category“).

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag ist dem kürzlich im Reclam Verlag erschienen Buch „Neil Young“ von Walter Erhart entnommen. Wir danken dem Autor und dem Verlag für die freundliche Genehmigung dafür. Weitere Informationen über das Buch hier.

Neil Young bei YouTube

Young: https://www.youtube.com/watch?v=_UAGrpw3k5M

Middle: https://www.youtube.com/watch?v=LQ123T3zD2k

Older Man: https://www.youtube.com/watch?v=zBFGkUmVkAs