Lenin und seine Freunde

Eine Neuauflage von Dominique Noguez‘ Analyse des Dadaismus-Leninismus

Von Martin IngenfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Ingenfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seinem Tagebuch berichtet Max Frisch unter dem 30. Juni 1966 von folgendem Traumgeschehen: Robert Walser sei im Jahr 1917 in der Zürcher Spiegelgasse auf Lenin getroffen und habe ihm die Frage gestellt: „Haben Sie auch das Glarner Birnbrot so gern?“ Und dazu Frisch weiter: „Ich zweifle im Traum nicht an der Authentizität und verteidige Robert Walser, bis ich daran erwache – ich verteidige Robert Walser noch beim Rasieren.“ Warum es Walser hier zu verteidigen galt, lässt Frisch allerdings offen.

Offen muss vorläufig auch bleiben, was Dominique Noguez, 1942 geborener und unter anderem mit dem Prix Femina ausgezeichneter französischer Schriftsteller, Film- und Literatur-Theoretiker und Satrap des Collège de Pataphysique, aus dieser Anekdote machen würde. Gewiss aber wäre in seinem Sinne weniger an ihrer Wahrheit zu zweifeln, als vielmehr weiter zu fragen, worin sich der Hinweis auf das Glarner Birnbrot in den Aktivitäten der Bolschewisten niedergeschlagen habe. Sein nun im Vorfeld des Jubiläumsjahres – 100 Jahre Cabaret Voltaire – im Limmat Verlag neu aufgelegter Band „Lenin Dada“ ist ein essayistisches Kabinettstück, das sich einer anderen bemerkenswerten Koinzidenz widmet: Am 5. Februar 1916 wurde in der Spiegelgasse in der Zürcher Altstadt unter der Hausnummer 1 (an der Ecke zur Münstergasse) das Cabaret Voltaire um Hugo Ball, Emmy Hennings, Tristan Tzara, Richard Huelsenbeck, Marcel Janco, Hans Arp und anderen aus der Taufe gehoben. Nur kurze Zeit später – spätestens am 21. Februar desselben Jahres – zog Lenin mit seiner Ehefrau Nadeschda Krupskaja unter der Hausnummer 14 ein. Noch heute lässt sich diese letzte Exilstation des späteren Revolutionsführers, der bekanntermaßen im Anschluss an die russische Februarrevolution im April 1917 im plombierten Bahnwagon quer durch Deutschland in seine Heimat ausreisen konnte, anhand einer Schrifttafel von jedem Passanten ablesen. Was sagt nun diese räumliche Nähe über Dada, mehr noch: Was sagt sie über Lenin und seine proletarische Revolution?

Obwohl Lenins einstiges Domizil und das Cabaret Voltaire in Zürich nur wenige Meter trennen, ist die Faktenbasis bei Lichte betrachtet schmal. Gewiss aber kann man es sich gut vorstellen, dass Lenin, vorrevolutionär dem kabarettistischen Vergnügen abseits der bürgerlichen Hochkultur nicht abgeneigt, auf den nächtlichen Tumult von gegenüber aufmerksam geworden ist. Hugo Ball notierte Lenin betreffend später in seinem Tagebuch „Die Flucht aus der Zeit“ unter dem 7. Juni 1917: „Seltsame Begegnisse: während wir in Zürich, Spiegelgasse 1, das Kabarett hatten, wohnte uns gegenüber in derselben Spiegelgasse […] Herr Ulianow-Lenin. Er mußte jeden Abend unsere Musiken und Tiraden hören, ich weiß nicht, ob mit Lust und Gewinn.“ Für Noguez, der für sein Buch die wenigen historischen Belege zusammenträgt – auch in der Neuauflage bleibt es hier allerdings bei dem Stand des Jahres 1989 – und sie dort, wo es ihrer mangelt, mithilfe souveräner Spekulation konsequent fortspinnt, zweifellos mit Gewinn. Zwar weiß selbst Krupskaja in ihren sonst detaillierten „Erinnerungen an Lenin“ nichts über das Cabaret Voltaire zu berichten, aber das muss ja nichts heißen. Dagegen verzeichnet wiederum Hugo Ball, beim Eröffnungsabend des Cabaret Voltaire habe ein Balalaika-Orchester „russische Volkslieder und Tänze“ zum Besten gegeben – Noguez dazu: „Augenblicklich bemächtigt sich eine Hypothese unseres Verstandes: Lenin und seine Freunde!“

Noguez denkt diese Hypothese konsequent zu Ende. Dem Datierungsproblem, dass das Cabaret Voltaire etwa zwei Wochen vor Lenins vermutlichem Einzug in der Spiegelgasse eröffnet wurde, begegnet Noguez mit allerlei Anhaltspunkten, die anderes denkbar machen. Mehr noch präsentiert er zahlreiche Spuren und Zeugenberichte, die eine Nähe von Lenin und Dada denkbar machen, einschließlich einer weiteren hübschen Erklärung, was die Herkunft des Wortes „Dada“ angeht: Ist es ein französisches Kinderwort für ein Steckenpferd, schlicht ein Wort ohne jede Bedeutung oder gar die von Ball später bekundete doppelte Anrufung des Dionysius Areopagita? Bei Noguez sieht man den begeisterten Lenin mit Janco und Tzara im Cabaret Voltaire springen und tanzen, dabei in der russischen Muttersprache rufend: Da! Da!  Und schließlich ist da noch ein Gedicht von Tristan Tzara, dem Noguez per graphologischer Untersuchung eine Autorschaft des späteren Revolutionsführers abzulesen vermag.

Eine verbindliche Antwort auf die für sich genommen schon originelle Frage, ob nun Lenin mit kahlem Schädel tatsächlich im Publikum des Cabarets saß oder gar bei Dada miteiferte, muss zwar offenbleiben, doch ist man geneigt, Noguez derlei gern zu glauben, auch wenn die Parallelführung sein kurzweiliges Essay schließlich zu scharfen Folgerungen nötigt. Denn während die im Schatten des Weltkrieges von Exilanten aus aller Herren Länder in Zürich inaugurierte Dada-Bewegung in ihrem Protest gegen die in den Schützengräben des Krieges zugrunde gehenden bürgerlichen Ideale nach kurzer Blüte rasch zerfällt und wieder in alle Richtungen auseinanderströmt, erlebt sie schließlich eine Nachblüte in Russland. Der Leninismus erscheint als Übersetzung des Dadaismus in die politische Praxis. Der dadaistische „Kult um den Widerspruch, die Verachtung der Kunst, der Kultur und der humanistischen Werte, die Verherrlichung von Zerstörung und Chaos“ und so weiter, kurz und gut: der fröhliche Nihilismus der Dadaisten wird von Lenin politisch verwirklicht. Er liefert, kaum an der Macht, sein halbes Land um des Friedens willen dem deutschen Feind aus, um es sodann in einen blutigen Bürgerkrieg zu stürzen. Die Kunst wird im sozialistischen Realismus negiert. Willkürliche Massenerschießungen dürfen wir als praktizierten Dadaismus begreifen. Alle Widersprüche, Hakensprünge, Kehrtwenden in Lenins Politik mitsamt ihrer Opfer: dadaistische Aktion, bis hin zur Auswahl des Nachfolgers Josef Stalin.

Hier darf man innehalten und sich fragen, ob es Noguez mit seiner anfangs charmanten Idee eines Dadaismus-Leninismus nicht etwas weit getrieben hat. Dada lehnte sich auf gegen den Wahnsinn der Epoche, um nun hier für den nächsten Wahnsinn verantwortlich gemacht zu werden. Lenin als „strahlende Inkarnation des dadaistischen Widerspruchs“: zweifellos eine peinliche Verwandtschaft, und man darf zweifeln, ob sie den Dadaisten im Nachhinein gefallen würde. In seinem schon zitierten Tagebucheintrag vom 7. Juni 1917 schrieb Hugo Ball weiter: „Ist der Dadaismus wohl als Zeichen und Geste das Gegenspiel zum Bolschewismus? Stellt er der Destruktion und vollendeten Berechnung die völlig donquichottische, zweckwidrige und unfaßbare Seite der Welt gegenüber?“ Noguez stellt die bei allem Hohn und Spott über die Verlogenheit der im Krieg vergehenden bürgerlichen Welt zuletzt doch humanistische Gesinnung der Dadaisten auf den Kopf. Andererseits kann man wohl annehmen, dass den Dadaisten Noguez‘ Blick auf die Zufälle, Verschränkungen und Überschneidungen ihrer Geschichte durchaus gefallen haben könnte.

„Lenin Dada“ ist heute wie vor 25 Jahren ein origineller und erhellender Blick auf Lenin nicht weniger als auf Dada sowie auf die Zürcher Emigrantenwelt in der Zeit des Ersten Weltkriegs. Für die Neuauflage hätte eine Aktualisierung der editorischen Bemerkung, die uns mehr über den Autor verraten würde, sicherlich nicht geschadet. Autor und Geschichte des Buches bleiben etwas im Dunklen, der Verlag beließ es dabei, den Wortlaut des 1990 erst- und bis dato letztmals erschienenen Buches neu zu setzen. Auch die etwas verwirrende typografische Gestaltung mit Fuß- und Endnoten blieb daher unangetastet. Dass der Limmat Verlag diesen seit vielen Jahren vergriffenen und nur mehr antiquarisch erhältlichen Band nun in einer von Trix Krebs sehr schön gestalteten kleinen Hardcover-Edition neu auf den Markt gebracht hat, ist nichtsdestoweniger eine verlegerische Glanztat an einem Glanzstück der Essayistik.

Titelbild

Dominique Noguez: Lenin dada. Essay.
Herausgegeben von Jan Morgenthaler.
Übersetzt aus dem Französischen von Patrick Straumann und Jan Morgenthaler.
Limmat Verlag, Zürich 2015.
191 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-13: 9783857917974

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