Das „fragwürdige Ich“ erinnert sich

Zu Günter Grassʼ letztem Buch „Vonne Endlichkait“

Von Martin MannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Mann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seinem Berliner Journal notierte Max Frisch im Februar 1974 seine Schwierigkeiten mit Günter Grass: Dieser könne sich nur im Modus der „Proklamationen“ äußern; all sein Sprechen und Schreiben sei letztlich Verlautbaren. Sein Selbstbewusstsein, immer als Instanz aufzutreten, bleibe stets im Vordergrund. Dieser lange gültige Befund muss sich über 40 Jahre später angesichts von Grassʼ letzter Veröffentlichung, dem postum erschienenen Band Vonne Endlichkait, einer Revision unterziehen, denn der alte Grass begegnet uns hier mitunter zurückhaltender und zaghafter als gewohnt.

Das brave Gymnasiastenwissen, Autor und lyrisches Ich müssten streng getrennt betrachtet werden, versagt im Fall von Günter Grass, denn die erste Person Singular ist seine literarische Weise der Zuwendung zur Welt. In Vonne Endlichkait stoßen wir auf kurze autobiografische Texte, die sich formal im Übergangsraum von Kürzestprosa und Dichtung ansiedeln und an der Schwelle von Erinnerung und Dichtung tänzeln – und solche Unterschiede letztlich unwichtig machen. Wenn sich Grass an sein Leben erinnert, dann heißt das vor allem, er streift noch einmal über sein Schaffen als Dichter und genießt es, dabei zahlreiche Zeitgenossen wie etwa Paul Celan, Claude Lévi-Strauss, Hans Magnus Enzensberger oder Albert Camus vorbeidefilieren zu lassen. In „Über das Schreiben“ rekonstruiert er seine Schreib- und damit seine Lebensweisen: von der Sütterlinschrift bis zur Olivetti, also jener Schreibmaschine, die ihm als „Gespielin“ einen lustvollen Zugang zur literarischen Produktivität ermöglichte. So berichtet er, wie er sie am Leben zu halten versucht, indem er alte Farbbänder beschafft, was mit den Jahrzehnten zunehmend schwieriger wird. Diese Bänder sind für ihn das Maß des noch übrigen Lebens, wie für andere der Sand in der Sanduhr: Seine Hoffnung hängt daran, dass sie bis zum Schluss reichen mögen.

Das Schreiben geht bei Grass der Existenz voraus. Und sein Ende rückt näher, wenn er feststellen muss, dass er gewisse Sätze schon einmal in ähnlicher Weise geschrieben hat, jedoch „um eine Ecke genauer“. Das ist die Last des Autors: Die Spannung des eigenen Lebens bemisst sich an der Produktivität und Güte des eigenen Schaffens. Grass macht deutlich, dass er sich im Erinnern immer selbst begegnet, jedoch jeweils als Autor mit je eigener Schreibweise. In „Bilanz“ führt er Existenz und Werk aufeinander zurück: „In Reihe Bücher, eng gestellt, auf deren Rücken Name, Titel mein Ausweis sind, der gültig bleibt, obgleich er längst verjährt ist, abgegriffen.“ Grass nimmt den Begriff „Lebenswerk“ wörtlich und lässt die Differenz zwischen Leben und Werk kollabieren. Nun, in der Rückschau, ist er durchaus bereit, sich von seinen Büchern verunsichern zu lassen: „Enteignet sind sie mir seit langem und dennoch drückend Last geblieben. Das ist die Summe. Fehlt noch was, das unterm Schlußstrich zählen könnte?“ Vonne Endlichkait ist die letzte Position, die er in seiner Lebensbilanz verbuchen kann.

Grass weiß aber auch von der Unzuverlässigkeit des Erinnerns. So fragt er „Das soll von mir sein?“, wenn er eine Mappe von Zeichnungen betrachtet, die er um 1950 an der Kunstakademie Düsseldorf geschaffen hatte und die nur noch unvollständig einen Platz in seinem Gedächtnis einnehmen. Mit dem Erinnern wird auch das Selbstbild labil. Das „fragwürdige Ich“ versucht sich mit seinen Erinnerungen zu versöhnen, scheitert aber immer wieder an deren Leerstellen und Unsicherheiten. Schließlich gehört zum Leben auch dessen ungelebter Anteil, jene Dinge, gegen die man sich entschieden hat, die aber dennoch präsent sind: „kühn ungehaltne Reden schwingen, Geschichte rückwärts neu datieren, gestrichne Wörter abermals beleben […] und ab und an die Uhr belügen.“ Der gealterte Autor schreibt hier im Schatten seines eigenen Lebenswerks, das ihn nun, der eigenen literarischen Schaffenskräften zum großen Teil beraubt, auch als Last bedrückt.

Vonne Endlichkait berichtet also von allerhand Verlusten, auch von der sich zurückziehenden Erotik. In „Abschied vom Fleisch“ gibt Grass einen lüsternen Hölderlin und lobt in einer Ode das alternde weibliche Geschlecht und die Frauenkörper abtastende Hand – „als wolle sie Abschied nehmen / von einst bis zur Glätte gespannter, / nun trocken knisternder Haut“. Brüste sind weiter anziehend, aber abgegriffen und von der Angst vor wuchernden Knötchen gezeichnet. Das Lustvolle muss jedoch nicht ganz absterben, da Sprache für Grass eine Erotik beherbergt, die bis zum Schluss heiß bleibt. „Bücher, die mir lebenslang nah waren, zum zweiten, zum dritten Mal lesen, hat doch der Reißwolf Zeit dem Spracherguß“ nichts genommen. Lektüre und Relektüre sind lustvolle Akte, passend zum „Schwellkörper Butt“, der als Text offenbar selbst mit erotischer Potenz ausgestattet ist. Das Alter kostet Kraft und Klarheit, aber nicht die Freude am Frivolen und mitunter Ordinären.

Humor kommt dabei – hier hat sich Grass im Vergleich zu seinen großen Büchern nicht geändert – nur in geringen Dosen vor. Eine Ausnahme bildet eine dreiteilige und über das Buch verstreute Erinnerung an die Anschaffung zweier Särge für das Ehepaar Grass. Beide lassen sich „Erdmöbel“ nach eigener Vorstellung anfertigen („Kiefer für meine Frau, Birke für mich“). Als diese nach etlichen Wartemonaten geliefert werden, erlauben sich beide mit kindlicher Freude das memento mori, sich selbst in die frischen Särge zu legen: „Wenig später bedauerte meine Frau, kein Foto von mir in der Kiste gemacht zu haben, war aber entschlossen, bei nächster Gelegenheit mit ihrem Apparat zur Stelle zu sein. ‚Du sahst so zufrieden aus‘“. Die Särge werden, gewissermaßen als Zwischennutzung, zur Lagerung von Dahlienknollen verwendet. In einer weiteren Textpassage wird der Diebstahl der bewunderten letzten Ruhestätten geschildert, und in einer dritten schließlich wieder behoben: „Sie sind wieder da, beide Kisten, länglich und einladend. […] Seit an Seit [darin] zwei verhungerte Mäuse von zierlicher Schönheit“. – Verspielt und humorvoll wird Grass genau dort, wo er sich mit einem Fuß bereits im Jenseits wähnt.

Der sich ankündigende Tod reizt jedoch auch zur Bitterkeit. So klagt er: „Mir fehlts an Kraft mit grobem Keil den groben Klotz zu spalten“; Spott und Zorn reichen nicht mehr für energische Verlautbarungen. Der Verfall an produktiver Kraft kommt Hand in Hand mit jenem des Körpers. So stellt der Autor fest: „Vor Jahren schon hatte sich mein Oberkiefer entvölkert“ und hebt an zu einem gedichteten Abschied von den übrigen Zähnen – bis nur noch ein letzter Stumpf übrig bleibt. Der Prozess zur körperlichen Hinfälligkeit gipfelt in der Schilderung, wie schließlich Geruchs- und Geschmackssinn verloren gehen. Der Erzähler verabschiedet sich von Käse, Flieder und Brot, um schließlich festzustellen, dass die Entfernung zu sich selbst schon so weit ist, dass Abschied genommen werden muss vom „vertrauten Mief, dem eigenen Furz.“ Grass schreibt dem Tod entgegen und zeigt, dass dieser immer stärker als das Jetzt ist, das „auf dünnem Seil“ tanzt. Der Tod „ist immer da, ihm ist die eine Silbe vorbehalten, die jederzeit auf Abruf wartet“. Das schreibt ein Autor, der sich selbst schon auf Abruf wähnt.

Am schönsten ist Vonne Endlichkait, wo Grass die Dinge besingt und verkostet, etwa wenn er sich dem einzelnen Laubblatt widmet und es detailverliebt betrachtet: „Trocknend nimmt es verzückte Gestalt an, spreizt sich, rollt Ränder ein, erstarrt in Ekstase.“ Er beweist sich hier noch einmal als Staunender, der das Große gerade in den einfachen Dingen (und immer wieder in den Speisen) entdeckt. Dem steht eine Eindimensionalität gegenüber, die dann zutage tritt, wenn sich Grass in Gegenwartsdiagnosen versucht. Er klagt über Rettungsschirme, Vernetzung, Gütesiegel, staatliche Überwachung (durch „Mutti“), Drohnen und Facebook. Es liegt nahe, hier zu diagnostizieren, der Autor sei von zeitgenössischen Entwicklungen überfordert und komme daher immer zu einem kulturpessimistischen (und mitunter peinlichen) Schluss. Anders ist nicht zu erklären, warum er aus dem Rückgang handgeschriebener Briefe ableitet, bald würden „wir uns nichts mehr zu sagen haben“. Wieviel treffender sind da seine Oden auf die Schönheit der Dinge!

Das Buch gipfelt im kurzen und namensgebenden Text Vonne Endlichkait. Hier nimmt der Autor Abschied – ohne Pathos und Bitterkeit. „Nu war schon jewäsen. / Nu hat sech jenuch jehabt. / Nu is futsch un vorbai.“ Es ist eine Meditation auf den bevorstehenden Abschluss. Dieses Ende bindet Grass an seinen biographischen Anfang, denn er schreibt es auf Ostpreußisch, der Sprache seiner Kindheit in Danzig. Es ist das fröhliche Glaubensbekenntnis des Existenzialisten, der dem Tod versöhnt die Hand entgegenstreckt: „Nu mecht kain Ärger mähr / un baldich bässer / un nuscht nech ibrich / un ieberall Endlichkait sain.“

Hinweis der Redaktion: Der Beitrag ist seit dem 8.12.2015 auch bei Literatur Radio Bayern zu hören.

Titelbild

Günter Grass: Vonne Endlichkait.
Steidl Verlag, Göttingen 2015.
175 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783958290426

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