Diagnose: Daten mit großer Wirkung

Ein von Peter Langkafel herausgegebener Sammelband gibt einen Überblick über Chancen und Risiken bei der Nutzung von anfallenden Gesundheitsdaten

Von Rafael Arto-HaumacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rafael Arto-Haumacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Big Data – in diesem Schlagwort spiegeln sich alle Aspekte der gegenwärtigen Diskussion um das Sammeln und die Ver- und Auswertbarkeit großer Datenmengen. Dem einen ist es Chance, scheinbar zusammenhanglose Daten mithilfe modernster Technologien zusammenzuführen und mit gezielten Analysen verwertbare Ergebnisse zu erzeugen, um besser auf den Bedarf von Verbrauchern, sozialen Gruppen oder Patienten reagieren zu können. Dem anderen ist die Vorstellung unheimlich, Daten, die beispielsweise aus Bewegungsprofilen, Käuferprofilen oder Patientenuntersuchungen stammen können, zusammenzuführen, um am Ende den gläsernen Konsumenten, Patienten oder Bürger zu erhalten. In diesem Zusammenhang wird auch gern von „Datenschatz und Datenschutz“ gesprochen.

Es ist nicht verwunderlich, dass die Diskussion zwischen diesen dichotomischen Polen gerade im Gesundheitsbereich ebenso vielversprechend wie heikel ist. Vielversprechend, weil niemand in Abrede stellen würde, dass es beispielsweise sinnvoll ist, die Daten klinischer Studien, pharmakologischer Forschung und patientenbezogener Diagnose und Therapie im Zusammenhang auszuwerten, um Krankheitsverläufe signifikant zu verbessern oder Krankheiten wie  HIV oder Krebs stetig besser therapierbar zu machen. Heikel, weil kaum ein Bereich so sensibel ist wie der der Patientendaten und hier ein ganz besonderes Schutzbedürfnis zu berücksichtigen ist. Letztendlich bewegt sich die Diskussion im Spannungsfeld, das durch die simplen Fragen markiert wird: Was kann man mit den Daten machen, was sollte man mit ihnen machen und was darf man mit ihnen machen?

Einzug gehalten in den technologischen, politischen und datenschutzrechtlichen Diskurs hat der Begriff „Big Data“ mit der Entwicklung neuer Technologien, die in der Lage sind, unvorstellbar große Datenmengen aus unterschiedlichsten Quellen in Echtzeit zu verarbeiten. Insofern spricht man, um Big Data zu charakterisieren, auch von den drei „Vʼs“: Volume, um das hohe Datenaufkommen zu kennzeichnen; Velocity, um die schnellen Veränderungen des Datenbestandes zu bezeichnen und Variety, um deutlich zu machen, dass es sich um Daten unterschiedlichster Formate handelt: strukturierte und unstrukturierte Daten, Textdateien, Bilddateien, Audiodateien und so weiter. Ein solchermaßen beschaffenes Datenaufkommen lässt sich nicht mehr mit herkömmlichen Technologien, etwa relationalen Datenbanken und entsprechenden Abfrage-Mechanismen, verarbeiten. Vielmehr benötigt man Verfahren, wie etwa die von dem deutschen Software-Hersteller SAP mitentwickelte In-Memory-Technologie, bei der die Datenmengen direkt im Arbeitsspeicher eines Rechners in einem Rechnerverbund verarbeitet werden.

Peter Langkafel bekleidet bei SAP eine Management-Position und ist zugleich gelernter Mediziner. Insofern ist die Ausrichtung des von ihm herausgegebenen Bandes vorgezeichnet: Unter vorwiegend technologisch-medizinischen Aspekten befassen sich knapp 30 Autoren in 19 Beiträgen mit dem aktuellen Stand der Diskussion um Big Data im Gesundheitswesen. Auch wenn dies der Fokus des Bandes ist, sind dennoch Beiträge vorhanden, die das Thema auch aus anderen Blickwinkeln beleuchten: Beispielsweise wird die aktuelle Lage zum Datenschutz dargestellt, das Thema unter ethischen und philosophischen Fragestellungen erörtert und grundlegende Verfahren wie die semantische Suche in großen Datenmengen vorgestellt.

In den technologieorientierten Beiträgen erfährt man, welche Entwicklungen Siemens, SAP, Accenture und die Telekom bei ihren Kunden aus dem Gesundheitsbereich sehen, welche Ausprägungen Big Data-Strategien haben können und mit welchen Technologien diese realisiert werden. Hier wird insbesondere deutlich, welche Möglichkeiten heute schon bestehen, Daten auszuwerten, die bei den Hauptakteuren im Gesundheitsbereich – Krankenhäuser, Ärzte, Apotheken, Pharmaunternehmen, Forschungseinrichtungen, Behörden und so weiter – anfallen, und zu welch zweckmäßigen Ergebnissen dies führt.

In einer Art Best-Practise-Ansatz wird in weiteren Beiträgen aufgezeigt, welche Big Data-Strategie die AOK hat, um künftig die Prävention oder die Fehlverhaltensbekämpfung verbessern zu können, oder welche Vorteile sich im kommunalen Modell „Gesundes Kinzigtal“ für den Patienten, aber auch für Ärzte und Krankenhäuser durch eine integrierte datengestützte Versorgung ergeben.

Um den medizinischen Nutzen von Big Data zu beleuchten, wird von einer Langzeitstudie berichtet, in der eine größere Gruppe von Patienten über einen längeren Zeitraum beobachtet und anfallende Untersuchungsdaten erfasst werden sollen, um neue Erkenntnisse über die Entstehung von Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Demenz- und Infektionserkrankungen zu gewinnen. Hierbei wird betont, dass die Durchführung einer solchen Langzeitstudie durch den Anfall der großen Datenmengen vor wenigen Jahren noch undenkbar gewesen wäre.

Es ist weder verwunderlich noch verwerflich, wenn technologie- und medizinbegeisterte Herausgeber und Beiträger eher die Chance denn das Risiko für Big Data im Gesundheitsbereich sehen. Immerhin hat Langkafel auch einige kritische Stimmen versammelt: Ob denn wirklich alles „zum Wohle des Patienten“ geschehe, wird ebenso kurz diskutiert wie auch die derzeitige Lage zum Datenschutz skizziert wird. Bei Letzterem wird deutlich: Verfahren zur Anonymisierung und Pseudonymisierung von Patientendaten gibt es, wobei eine Rückverfolgung nie gänzlich auszuschließen ist; auch kann die Anwendung der einschlägigen Datenschutzbestimmungen komplex werden, weil Bundesdatenschutz, Landesdatenschutz und individuelle Regelungen von Einrichtungen miteinander konkurrieren können.

Zudem unterschlagen die Autoren auch das Vorhandensein von Stolpersteinen nicht: So wird die Entwicklung von Big Data-Szenarien nicht allein durch datenschutzrechtliche Bestimmung eingeschränkt, sie stößt in der Praxis auch auf ganz triviale Herausforderungen: Viele Daten werden nach wie vor in Papierform erfasst und stehen somit für Big Data-Anwendungen nicht zur Verfügung. Zudem hat nicht jeder der im Prozess beteiligten Datensammler – vor allem niedergelassene Hausärzte, so wird in einem Beitrag deutlich – die technische Ausstattung, um Daten abzugeben oder von Auswertungsergebnissen ad hoc zu profitieren.

Langkafel gibt in seinem Band einen spannenden Überblick über den aktuellen Stand der Dinge zum Thema Datensammlung und -auswertung im Gesundheitswesen. Die thematische Bandbreite der Beiträge ist stattlich, wobei sich die einzelnen Aspekte letztlich nicht zu einem großen, runden Gesamtbild fügen – zu heterogen sind die Inhalte der Beiträge, zu vielschichtig und in Teilen volatil ist das Thema. Das kann man dem Band indes nicht vorwerfen, die multiperspektivische Herangehensweise hat hier Vorrang vor einem plakativen Gesamtergebnis. Langkafel selbst nennt die Beitragsvielfalt ein „Kaleidoskop“ und verweist somit nicht nur auf das Spektrum an Facetten, sondern ebenso auf den Charakter der Momentaufnahme.

Mitunter hätte man sich mehr Kontroverses, mehr Brisanz gewünscht, etwa durch ein noch kritischeres Hinterfragen, welche genuin eigenen Interessen die einzelnen Akteure im Gesundheitswesen haben und welche Motive somit eine Big Data-Strategie mit beeinflussen (Wohl des Patienten, Einfluss, Umsatz et cetera), zumal einer der wichtigsten Vertreter, die Pharma-Industrie, nicht mit einem eigenen Beitrag vertreten ist. Dennoch: Big Data verändert die Medizin jetzt und in Zukunft – warum das so ist und wie genau dies geschieht, wird nach der Lektüre des Bandes ein wenig deutlicher.

Titelbild

Peter Langkafel (Hg.): Big Data in Medizin und Gesundheitswissenschaft. Diagnose – Therapie – Nebenwirkungen.
medhochzwei Verlag, Heidelberg 2014.
284 Seiten, 69,99 EUR.
ISBN-13: 9783862161829

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