Neues vom letzten Realismus

Milo Rau hat Essays und Kommentare mit dem Titel „Althussers Hände“ veröffentlicht

Von Sebastian SchreullRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Schreull

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein überaus erfolgreicher Theaterregisseur schreibt (über) Theorie. Ein Kritiker schreibt über die Ödnis der Kritik und der mit ihr verbundenen Apparate. Ein Intellektueller schreibt darüber, dass das den Intellektuellen nachgesagte gesellschaftskritische Engagement doch nur das Schmiermittel der (Selbst-)Verwertung sei. Er schreibt über Nicole Kidman und trotzkistischen Protestantismus, der die RAF und die Bush-Administration beseelt habe, veröffentlicht Traumprotokolle und die Diskursfetzen jener studentischen Partys, auf denen der Soundtrack von Pulp Fiction nicht enden wollte.

All diese Rollen inszeniert Milo Rau, meist durch ein „ich“ zusammengehalten, in einem Band mit diesem anspielungsreichen Titel. Die erste Referenz ist eine Selbstreferenz, denn „Althussers Hände“ heißt auch Raus Blog, auf dem der Großteil der Texte bereits veröffentlicht wurde, eingestreut einige Beiträge aus der „Wochenzeitung“ oder der „Neuen Zürcher Zeitung“. Raus Texten vorangestellt findet sich ein freundliches Vorwort Rolf Bossarts. Eigentlich hätte das Blog ein Romanprojekt werden sollen, „ausgehend von Louis Althussers Mord an seiner Frau“, von dem am Ende des Bandes noch ein Kapitel überliefert wird.

Wer angesprochen durch den Titel eine theoretische Anstrengung  erwartet, der darf getrost seinen Stift zur Seite legen. Es könnte anstrengend werden, wollte man all dies nachvollziehen, was in diesen Texten angespielt, gepriesen oder endgültig begraben wird. Das ist amüsant und muss reizen. Und wer auf diese Reizungen hereinfällt, der macht sich mindestens des „in Besserwisserei versteinerten Nachkriegsmarxismus“ verdächtig, „der überall nur die Kulturindustrie oder Verblendungszusammenhänge globaler Natur sah und von den so viel feineren Bewusstseinsverwerfungen der Alltagskultur keine Ahnung hatte“. Rau proklamiert, Abstand zu nehmen von solchen „theoretische[n] Flächenbombardements“. Weder befriedigt er die „therapeutischen Bedürfnisse einer völlig erniedrigten Neuen Linken“ noch ergreift er Partei für die großen revolutionären Subjekte. Totalitarismustheoretisch ist Rau gegen solche tumben Verführungen gewappnet:

Stalin, Hitler und Mao sollten zu Meistern dieser Strategie werden, in der Begriffe wie Arbeiterschaft oder Revolution nur noch die seltsame doppeldeutige Präsenz des staatlichen Terrorismus meinten – eines Terrors, der von Hegel die Regel geerbt hatte, dass ein A immer auch ein Nicht-A sei und man seiner Sache deshalb nie sicher sein konnte.

Wenn dem so wäre, dann hätte Hegels Wissenschaft der Logik nicht viel mehr als den Widerspruch präsentiert, dass etwas es selbst und dessen Negation sei, so dass es dann eben der Willkür bedürfe, um überhaupt etwas Bestimmtes zu sagen. Dies spricht dann der Besserwisser in uns, dass A und Nicht-A nur in A überhaupt als Unterschiedene zu begreifen seien und dies nicht mehr als eine Reprise der Popper’schen Ahnengalerie der geschlossenen Gesellschaft sei. Das ist sicher wahr, doch Rau ist schon längst weiter: Hegel „ist unverwüstlich. Man kann ihn nicht widerlegen. Man kann nur aufhören, ihn zu lesen“. Was eben noch als Hegels Regel fungierte, die der Totalitarismus beerbt habe, wird in einem anderen Text zur Leseanweisung: Das sei unwiderlegbar und so könne man dem nur entgehen, indem man es eben nicht länger zur Kenntnis nehme. Als Motto des Blogs wird Paolo Pasolini zitiert: „Ich weiß sehr wohl, wie widersprüchlich man sein muss, um wirklich konsequent zu sein.“

Da geht es nicht um angemessene Interpretationen oder das wohlbegründete Urteil, das Hin- und Herschieben der Argumente:

Es macht keinen Sinn, die abgewetzten Diskursbälle, nur weil sie uns von alten Männern zugeworfen werden, mit roten Wangen weiter in die Luft zu schleudern. Wen wollen wir damit beeindrucken? Wer belohnt uns dafür? Aus alten Wörtern wird keine neue Sprache, sondern bloß das, was man in der Schule auch schon getan hat: Nachsagen, was der Lehrer gesagt hat, aus Angst vor schlechten Noten.

Wie kann man kein alter Mann sein, wenn man solche Sätze äußert? Raus Texte leben von diesen Richtersprüchen, die stets mit „akademische[m] Besserwissertum und hohler Phrasendrescherei“ verwechselt werden können, denen Rau mit großem Pathos den Kampf ansagt. Während sich jene „Nerd-Kommunisten“ und andere Theoretiker noch nicht  „damit abgefunden [haben], dass die Welt zu kompliziert ist“, urteilt Rau in dieser ganzen Kompliziertheit Theorien, Traditionen und Schulen in einem expressiven Stakkato ab, als könnten sie sich so wie Moden verflüchtigen. Dazu dient dann auch der Zug ins Biographische, all die Psychologismen, die etwa Jacques Lacans Autismus dafür anführen, „weshalb es oft schwierig ist, hinter seinen gezierten Sätzen die sehr simplen Gedanken zu entdecken“, oder jenes schwierige Denken Louis Althussers, der „so langsam, so versteinert von seinen Depressionen“ gewesen sei, „dass ich ihn mir auch als Mörder nur in Zeitlupe denken konnte“.

Ist es nicht dieser alternde Gedanke, dass man die Ehrfurcht der Jugend vor den Schriften noch älterer Männer abgelegt hat und sich dies mit Lebensklugheit endlich zu dechiffrieren traut, was einem kein Seminar lehren konnte? Auszusprechen, was das in seiner Saturiertheit verödete, ominöse linke Establishment nicht mehr zu denken wagt? Ja, auch mit Anrüchigem spielen, einmal den „Nachmittag eines Linksfaschisten“ erzählen, der den „Selbsthass […] ein[en] deutsche[n] Nationalsport“ sein lässt – mit aller nötigen Post-Post-Ironie. Gönnen wir uns mit ihm die kleine Sentimentalität, dass man sich früher noch „mitten in einem ganz unfairen und erniedrigenden Dostojewski-Roman“ wiederfand, als man noch „Schneid“ hatte, wenn man antibürgerlich war.

Da schmunzeln nicht nur die alten Männer, die Renegaten und Revisionisten, deren Geschichten so erzählt werden. Doch heute seien die „wichtigen Stellen des Fortschritts […] mit Spaß-Utopisten, Hobby-Revolutionären und professionellen Bohemiens besetzt […], die alles Irreale und Unmögliche so schnell zur Möglichkeit und Tatsächlichkeit, zum Produkt oder zum Stil machen, dass jeder Versuch zum fundamental Anderen sofort am bereits Vorhandenen erstickt“. Ist es dann nicht schon wieder diese Ironie, dass Raus Prosa dort besonders glückt, wo es um Gemeinplätze geht, etwa wenn das Theater als „Kühlkette der jeweils nationalen Hochkultur“ gebrandmarkt und virtuos die Haltung der Kritik vorgeführt wird?

Der Gott der Kritik blickt zu uns herunter aus seinen ewigen Bezügen, sieht seine Geschöpfe auf den Feldern stolz die Hände in die Hüfte stemmen, die frisch umgepflügt irgendwie uncool aussehen, irgendwie so physisch, irgendwie so hingedaddelt, irgendwie auch noch moralisch und geschwätzig, […] und der Gott der Kritik schüttelt ironisch den Kopf: Wieso freuen die sich? Wurde hier vielleicht zum ersten Mal gepflügt? […] Das ist doch jedes Jahr so. Man lese die Bibel. Die Odyssee. Alles über die Landwirtschaft wurde doch schon bei Homer gesagt! Und besser! Die eigentliche Frage (sagt der Gott der Kritik) ist doch: Macht Pflügen im Zeitalter von MTV, Second Life und Irakkrieg noch Sinn? Ist nicht die Unmöglichkeit des Pflügens das eigentliche Thema? Die Ironie des Pflügens, die Kritik des Pflügens, das Baudrillard’sche des Pflügens, die Science-Fiction des Pflügens, das Pflügen in seinen Bezügen zur Lage der polnischen Saisonarbeiter? […] Und wenn überhaupt, Kinder: man lerne erst mal richtig pflügen! […] Und majestätisch zeigt der Gott der Kritik auf ein Feld, das zufällig vor zwanzig oder fünfzig Jahren umgepflügt wurde, und ruft: “Das, Kinder! Das ist Landwirtschaft!“

Wenn es keinen Ausstieg aus diesem ganzen Spektakel gibt, wenn man diesen Gott nie befriedigen wird, was bleibt uns dann? „Wir sprechen wie die Papageien, kein Wort ist neu. Und trotzdem sind wir wir. Denn etwas ist in uns, irgendetwas ist von dieser Welt nicht zu bewegen.“ Ist das Neue das Unbewegte? Und trotz aller Abneigung Raus gegen das Innerliche und Authentische – in uns soll es sein? Da findet sich das Eigentliche, was der Kritikergott übersehen haben muss? „In einer zivilisatorischen Situation, die für eine hohe Zeit der Komödie geradezu geschaffen erscheint, […] da Rollen endgültig als Rollen durchsichtig geworden sind und wir hinter den Klassen, Geschlechtern und Gefühlen endlich den Menschen in seiner ursprünglichsten Komplexität sehen könnten“, da erblicken die jungen Männer im Altern die Realität, die „Differenz, die sich zwischen uns und der Welt […] auftut“.

Kunst, unser Tun sei die „Regeln dieses Spiels“ zu beschreiben „und immer so weiter, bis in alle Ewigkeit“. Bis das Beschreiben ein solches Spielen geworden ist, dass man wieder das Beschreiben spielt: „Aber ich bin in Fahrt gekommen und wiederhole hier nur die persönlichen Vorurteile, die ich schon in vielen anderen Artikeln gesagt habe. Ganz eindeutig macht es keinen Unterschied, ob man den Wittgenstein’schen oder, zum Beispiel, den Deleuze’schen Autismus nachplappert – was ich übrigens gleich tun werde. Die Intensität zu geißeln, um sie geißelnd zu beschwören, ist mein privates kleines Steckenpferd. Mein ‚Ventil‘, hätte vermutlich meine Großmutter gesagt. Aber Schluss damit und noch einmal: Was ist Klarheit?“ Mindestens den Schweizerischen Nationalfond zur Förderung eines Bandes zu gewinnen, ergo mindestens ein paar alten Männern gefallen und in Parolen sprechen: „Gegen das Drama. Gegen den Tiefsinn. Gegen die Kritik“. Das hat etwas mit Kunst zu tun, und wer dies nun zu einem Skandal erklärt, dem darf man zu seiner Rolle beglückwünschen.

Wer also Lust auf zeitgenössisches Feuilleton mit all dieser Flapsigkeit und dessen Blitzurteilen hat, der wird die entsprechenden Sentenzen finden, die für Erheiterung und Stirnrunzeln im Small Talk nach der Aufführung sorgen werden. Wer auf sein politisches oder theoretisches Bekenntnis vertraut, der wird „Verrat!“ rufen dürfen und sollte damit auftrumpfen, nun die Schablonen zur Beurteilung des theatralischen Werks von Rau gefunden zu haben. Das sorgt mit Gewissheit für konterrevolutionäre Langeweile. Und all die anderen „ewigen Schüler“ arbeiten weiter an ihren Mitteln, die kein endgültiger Lektüreschlüssel sein werden, aber irgendetwas treffen. Amen.

Titelbild

Milo Rau: Althussers Hände. Essays und Kommentare.
Herausgegeben von Rolf Bossart.
Verbrecher Verlag, Berlin 2015.
266 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783957320872

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