Herrschaft ohne Namen und Gesicht

Ingo Elbe versucht, den Begriff der anonymen Herrschaft für die politische Philosophie zu erschließen

Von Felix BreuningRSS-Newsfeed neuer Artikel von Felix Breuning

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Politische Philosophie war und ist in der Kritischen Theorie der BRD ein eher stiefmütterlich behandeltes Gebiet. Insbesondere gilt das für eine der möglichen Verbindungsstellen der heftig umkämpften Marx’schen Kapital- und Wertkritik mit einer Theorie des bürgerlichen Rechts wie des Politischen: den Begriff der anonymen Herrschaft. Ingo Elbe, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Oldenburg und Mitherausgeber der Zeitschrift für kritische Sozialtheorie und Philosophie, legt mit seiner überarbeiteten Habilitationsschrift Paradigmen anonymer Herrschaft einen Versuch vor, diesen Begriff für die politische Philosophie zu erschließen. Er versucht, sachlich-abstrakte, apersonale Herrschaft als die der verselbstständigten kapitalistischen Produktionsweise entsprechende politische Form zu begreifen.

„Anonyme Herrschaft“ ist auch der programmatische Titel, unter dem Elbe sich schon in den letzten Jahren der ideologiekritischen Aneignung politischer Philosophie gewidmet hat. Der gut 500 Seiten starke Band versammelt daher, bis auf eine ganz neue Studie über Hannah Arendt, ausschließlich bereits an anderer Stelle veröffentlichte und nun überarbeitete Aufsätze. Die meisten von ihnen sind in Sammelbänden des Oldenburger Forschungszusammenhangs zur Kritischen Theorie oder mit AutorInnen des Arbeitskreises Rote Ruhr-Universität erschienen. In diesem Geist schreibt daher auch Elbe: Er leistet undogmatisch linksradikale, kritische Theoriearbeit mit dem Anspruch, akademische Philosophie als Gesellschaftskritik zu betreiben. In explizit ideologiekritischer Ausrichtung soll anhand wirkmächtiger Legitimationstheorien das kapitalistische Wesen der unpersönlichen Herrschaft erschlossen werden. Den klassischen liberalen Begründungsversuchen von Thomas Hobbes, John Locke und Immanuel Kant folgen hier die nachnaturrechtlichen Antagonisten Carl Schmitt und Hans Kelsen. In den Deutungen anonymer Herrschaft als Souveränität der Vernunft, der Norm oder des Gesetzes erkennt und kritisiert Elbe ein zentrales Legitimationsmotiv der kapitalistischen Produktionsweise. Die genannten Vertreter werden daher weitgehend als Ideologieproduzenten betrachtet, die zum richtigen Verständnis apersonaler Herrschaft hauptsächlich negativ beitragen können. Locke, Hobbes, Kant und Kelsen liest Elbe auf immanente Widersprüche hin, die er dann mit einem vor allen an Marx gewonnenen Begriff anonymer Herrschaft als Herrschaft verselbstständigter Produktionsverhältnisse ins richtige Licht zu rücken versucht. Obwohl so vor allem Kelsen, aber auch Schmitt zu wenig positiver Beitrag zugetraut wird, sind doch die Ergebnisse wertvoll: An die Kritiken der Genannten schließen sich Problematisierungen der maßgeblichen Epigonen derselben an, die natürlich prominente Vertreter der jüngeren politischen Philosophie sind: Robert Nozick und Murray Rothbard, Wolfgang Kersting, Otfried Höffe und H.L.A. Hart.

Eine systematische oder begriffshistorische Bestimmung anonymer Herrschaft dürfen die Leser von diesem Vorgehen nicht erwarten. Nur in dem äußerst knappen Vorwort versammelt Elbe die verschiedenen Bedeutungen eines kritischen Begriffs anonymer Herrschaft. Zwar entwirft er geschickt typologisierend eine Matrix, die ebenso als Forschungsprogramm wie als systematisches Inhaltsverzeichnis verstanden werden kann. Doch fasst diese Matrix nur zusammen und entwickelt nicht selbst, so dass die Aufsätze systematisch weitgehend nebeneinander stehen und Querverbindungen nur gelegentlich hergestellt werden. Enger zusammengehalten als durch das gemeinsame Oberthema werden die Beiträge durch die kritische Haltung gegenüber gegenwärtig hegemonialen politischen Philosophien. Diese Haltung macht nicht zuletzt ihren Wert aus. Die Gewichtung von einführender Rekonstruktion und kritischer Argumentation ist geglückt: Anders als in Elbes ähnlich umfangreicher Dissertation Marx im Westen werden hier keine Debattenüberblicke gegeben, sondern Wortmeldungen zur aktuellen Diskussion um Klassiker formuliert. Wichtiger aber ist, dass auf diese Weise vorherrschenden politischen Philosophien elegant die Notwendigkeit gezeigt wird, kritische Theorien zu rezipieren, um ihre eigenen Probleme, anonyme Herrschaft zu begreifen, aufzuklären.

So ist auch Elbes Versuch zu verstehen, in den Beiträgen über Marx, Jürgen Habermas, Theodor W. Adorno und Erich Fromm, Jean-Paul Sartre und Hannah Arendt die mit der kapitalistischen Produktionsweise stets gegebene Möglichkeit und Gefahr des kollektiven Rückfalls in personale Herrschaftsstrukturen zu begreifen. Die Shoah steht im Mittelpunkt der Beiträge über Fromm/Adorno, Sartre und Arendt. Dass der Autor in der Tradition kritischer Theorie zuhause ist, merkt der Leser an der ungewöhnlichen Breite der Literatur, auf die er sich dazu bezieht. Wenig Politikwissenschaftliches ist darunter, dafür viel Soziologisches, Beiträge aus der NS-Täterforschung, der Psychoanalyse und Argumente aus den politischen Debatten jenseits der Akademie, in die Elbe sich eingemischt hat. Hervorzuheben ist die konsequente Aufmerksamkeit für die besondere Bedeutung der Irrationalität faschistischer und nationalsozialistischer Herrschaft, die in Theorien über den Staat allzu oft auf Begleiterscheinungen reduziert oder erst gar nicht thematisiert wird. Die (erneute) Kontaktaufnahme von Sozialpsychologie und Staatstheorie, die Elbe anbahnt, verdient Aufmerksamkeit und Nachahmung. Es ist der politischen Philosophie wie der Kritischen Theorie der BRD zu wünschen, dass sie der von Elbe angestrebten Konfrontation nicht ausweichen.

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Ingo Elbe: Paradigmen anonymer Herrschaft. Politische Philosophie von Hobbes bis Arendt.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2015.
525 Seiten, 64,00 EUR.
ISBN-13: 9783826057373

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