Baudrillards melancholische Gegenwart

Ein Sammelband erinnert essayistisch und akademisch an den Theoretiker der Simulation

Von Jakob Christoph HellerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jakob Christoph Heller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der 2007 verstorbene Jean Baudrillard gehört zu den prägendsten und umstrittensten französischen Theoretikern des 20. Jahrhunderts. Es ist aber nicht sein bereits 1976 erschienenes und immer noch aktuelles Hauptwerk L’Échange symbolique et la mort (Der symbolische Tausch und der Tod), das in der Öffentlichkeit primär mit dem Namen Baudrillard verknüpft ist. Es ist seine Rolle als provokanter Kommentator der Gegenwart. Zwei Stichworte dazu: Der Golfkrieg habe nicht stattgefunden und der Terroranschlag auf die Twin Towers in New York sei die Realisierung eines Phantasmas der westlichen Welt gewesen. Der Westen habe die objektive Basis für den Terrorakt selbst hervorgebracht und erträumt – als Einbruch eines Ereignisses in den Kreislauf der Simulation.

Im Oktober 2008 fand im Mainzer Antiquariat am Ballplatz das von Caroline Heinrich organisierte Symposium „Die Gegenwart von Jean Baudrillard“ statt. Nun erschien, rund sieben Jahre nach der Veranstaltung und von der Organisatorin herausgegeben, der Tagungsband im Ventil Verlag: Jean Baudrillard. Fest für einen Toten. Der schmale Band versammelt unter anderem Beiträge aus der Medienwissenschaft, der Kulturwissenschaft und der Philosophie.

Zwei eher ungewöhnliche Essays runden die Publikation ab und geben ihr eine eigene, melancholische Note. Zum einen erinnert Thomas Schröder, bis 2014 Inhaber des Veranstaltungsortes, an das ökonomisch bedingte Ende des Antiquariats am Ballplatz. Zum anderen erinnert Baudrillards Witwe, Marine Dupuis-Baudrillard, in ihrem Beitrag „Eine (schwierige) poetische Übertragung der Situation“ aus sehr persönlicher Sicht an das Zusammenleben mit und das Sterben von Baudrillard. Ihr Beitrag beginnt mit den Zeilen „Man darf nicht über andere sprechen, man muss mit ihnen sprechen. Man darf nicht über Tote sprechen, man muss mit ihnen sprechen.“ Er tritt damit in einen heimlichen und intimen Dialog mit dem letzten Essay, den Baudrillard vor seinem Tod veröffentlichte: „Wenn ich von einem Ort spreche, dann deshalb weil er verschwunden ist. Wenn ich von einem Menschen spreche, dann deshalb, weil er schon tot ist“, so die ersten Zeilen von Warum ist nicht alles schon verschwunden? (2007). Dieser letzte Aufsatz ist eine melancholische Auseinandersetzung des Philosophen und Fotografen mit dem Ende der analogen Fotografie und dem Siegeszug des digitalen Bildes – laut Baudrillard Paradigma für die „systematische Verflüchtigung einer Realität, deren Verdämmern wir gewissermaßen auskosten“.

Die Stimmung des Bandes wird mit den beiden Essays und ihrem Bezug auf das Verschwinden treffend vorgezeichnet; der Titel des Symposiums – „Die Gegenwart von Jean Baudrillard“ – benennt diesen Punkt genauer als der Buchtitel. Denn von einem Auskosten der Verflüchtigung kann in gewissem Sinne auch bei der Publikation gesprochen werden: Sie ist, einer Séance gleich, Vergegenwärtigung und Geistergespräch mit dem Philosophen, ihr Modus ist die Melancholie. So beginnt auch der Komponist und Musikwissenschaftler Michael Teichert seinen Beitrag „Das Ende der linearen Zeit: Ist die Zeit in Wahrheit eine Kugel“ mit einer persönlichen Anekdote zu einer These, die Teichert mit Baudrillard hätte diskutieren wollen, und endet melancholisch: „Das ist die Frage, die ich Jean Baudrillard gerne gestellt hätte.“

Gegenwart und Dialog aber stehen in einer gewissen Spannung zum Versuch einer Vergegenwärtigung Baudrillard’schen Denkens. Soll nach der Aktualität von Baudrillards Denken gefragt werden, soll, wie Heinrich im Vorwort schreibt, Baudrillard „analysiert und gegenüber seinen Gegnern verteidigt, reflektiert und strategisch weiterentwickelt“ werden, so ist Trauerarbeit nur begrenzt dazu geeignet. Diese Spannung durchzieht den Band. Auf der einen Seite Melancholie, auf der anderen ein Beitrag wie der des Medienwissenschaftlers Thomas Weber: Weber diskutiert in „Jean Baudrillard und der Geist des Bösen“ dessen Thesen zum Terrorismus im Allgemeinen und zum Terroranschlag vom 11. September im Besonderen. Im Zuge seiner Auseinandersetzung wurde Baudrillard damals zu einem antimodernen „Apokalyptiker der Gegenaufklärung“ (Thomas Assheuer) erklärt. Weber nähert sich mit zeitlichem Abstand und nüchterner Distanz jenen einst die Öffentlichkeit entrüstenden Thesen. „Ich habe mich bemüht, den Prozess zu analysieren, durch den die ungehemmte Expansion der Globalisierung die Bedingungen für ihre eigene Zerstörung schafft“, hatte Baudrillard selbst seine Thesen verteidigt. Diesen Weg zeichnet Thomas Weber nach. Sein Augenmerk gilt der Ambivalenz zwischen „moralische[r] und politische[r] Verurteilung des Terrorismus“ einerseits und der „Faszination für das von ihm verursachte Ereignis“ andererseits.

Hierfür rekonstruiert er Baudrillards Konzept einer ‚integralen Realität‘. Laut Baudrillard habe sich in der Postmoderne die Praxis und Struktur des gesellschaftlichen Austausches von Zeichen verändert: Es habe eine „Substituierung des Realen durch Zeichen des Realen“ (Weber) stattgefunden – der Verlust der Zeichenreferenz sei das Ergebnis. Weber zeigt dabei eine interessante Aktualisierung des Baudrillard’schen Gedankengangs auf, indem er en passant die Anwendung der These auf das globalisierte Finanzsystem vorführt. Der Verlust der Referenz und des Realen ist im Zeitalter der ‚integralen Realität‘ ein wuchernder Prozess: Alle „tatsächlichen Ereignissen [werden] unablässig in Medienereignisse transformiert“, so Webers Zusammenfassung.

Ausgehend von der ‚integralen Realität‘ nähert sich Weber vorsichtig einem anderem umstrittenen Begriff Baudrillards, der ‚Intelligenz des Bösen‘. Drei Aspekte vereint das Konzept: Erstens sei es eine „Gegenreaktion auf die Tendenz des Systems zur Vereinheitlichung“, eine „Widerständigkeit des Einzelnen“. Zweitens, und eng damit verknüpft, gebe es einen „Eigensinn“, eine „Trägheit von Individuen und Gesellschaften“, drittens sei die „Sehnsucht nach dem Ereignis […] nach dem Realen oder auch Authentischen“ Basis der ‚Intelligenz des Bösen‘. Schon in Der symbolische Tausch und der Tod hatte Baudrillard ein so überraschendes wie banales Beispiel gefunden, um die drei Aspekte zu illustrieren: den (in den 1970er-Jahren grassierenden) Unwillen vieler Autofahrer, sich anzuschnallen. Gegen jede Vernunft wird gegen die Gurtpflicht so individuell wie unbewusst opponiert.

Bis zur Rekonstruktion der ‚Intelligenz des Bösen‘ ist Webers Aufsatz ein informierter und lesenswerter Gang durch Baudrillards auf den ersten Blick kontraintuitives Gedankengebäude. Weber geht einen Schritt weiter, indem er die Frage stellt, wie die Masse an Verschwörungstheorien zu 9/11 aus Baudrillard’scher Perspektive verstanden und erklärt werden kann. Seine Antwort: Sie sind Beleg einer ironischen Dialektik der ‚Intelligenz des Bösen‘. Einerseits sind sie gerade Sehnsucht nach dem Authentischem, nach dem Ereignis, und damit Ausdruck einer Trägheit des Individuums gegenüber den vereinheitlichenden Welt- und Erklärungsmodellen. Andererseits aber sind sie wiederum nur Teil eines autoreferenziellen Spiels der Zeichen, eine weitere Drehung eines Kreislaufs der Simulation.

Webers Aufsatz, der den Band eröffnet, zeigt – zusammen mit dem Beitrag von Heinrich – implizit auf, wo der Unterschied zwischen der „Gegenwart von Jean Baudrillard“ und einem „Fest für einen Toten“ liegt: auf der einen Seite strategisches Weiterdenken, die Auseinandersetzung mit Baudrillards Kritikern und auch zeitgenössische Kritik an Baudrillard – auf der anderen Seite Elegie und spiritistische Sitzung im Antiquariat. Offensichtlich war diese Spannung konzeptuell bei Symposium wie auch Dokumentationsband vorgesehen, der Titel „Die Gegenwart von Jean Baudrillard“ vereint beide Aspekte. Ob aber das Buch als wissenschaftlicher Tagungsband diese Spannung aushält, ist eine andere Frage.

Titelbild

Caroline Heinrich (Hg.): Jean Baudrillard. Fest für einen Toten.
Ventil Verlag, Mainz 2015.
159 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783955750404

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