Eine Studie in Menschlichkeit

Auch wenn er altert und mit Senilität zu kämpfen hat – Sherlock Holmes lebt. Allerdings selten so dramaturgisch virtuos wie in Bill Condons „Mr. Holmes“

Von Nathalie MispagelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nathalie Mispagel

Er ist der größte Detektiv aller Zeiten. Adelige wie Bürgerliche von nah und fern kommen nach London, um vor ihm die Rätsel ihres Lebens auszubreiten. Immer auf der Suche nach Klarheit, letztlich nach Hoffnung. Und er gibt sie ihnen. Alle Frevel der Gesellschaft, alle Probleme der Menschen, alle Leidenschaften des Daseins brechen sich an ihm wie Meereswogen. Er ist der analytisch-rationale, affektlose Fels in der Brandung von Anarchie und Geheimnis. Er ist die Antwort. Er ist Sherlock Holmes!

Doch das war vor langer Zeit. Jetzt, 1947, lebt der inzwischen 93-jährige asketische Einzelgänger (Ian McKellen) zurückgezogen auf seinem Landsitz in Sussex und widmet sich ganz der Bienenzucht. Umsorgt wird er von der Haushälterin Mrs. Munro (Laura Linney), einer Kriegerwitwe mit elfjährigem Sohn Roger (Milo Parker). Gerade ist Holmes von einer anstrengenden Reise zurückgekehrt, vielleicht seiner letzten. In den schwelenden Aschehügeln von Hiroshima hatte er mit Hilfe von Mr. Umezaki (Hiroyuki Sanada) eine bestimmte Pflanze, den Japanischen Pfefferbaum, gesucht und auch gefunden, die ihm Neubelebung verschaffen soll. Denn er leidet – unter beginnender Demenz. Speziell an seinen letzten Fall vor 30 Jahren, nach dem er sich zur Ruhe setzte, kann er sich nur bruchstückhaft erinnern. Irgendetwas geschah damals mit einer jungen, unglücklichen Ehefrau (Hattie Morahan), und irgendwie glaubt Holmes, sich schuldig gemacht zu haben. Während er verzweifelt sein schwindendes Gedächtnis durchforstet, wandeln sich äußere Welt und inneres Wesen. 

Das Tal des Alters

Als Arthur Conan Doyle 1887 „A Study in Scarlet“ in ’Beeton’s Christmas Annual’ veröffentlichte, schickte er eine Figur in die (literarische) Welt, die es zuvor nicht gegeben hatte und auch später niemals mehr geben sollte. Sherlock Holmes wurde zum Inbegriff des Detektiv-Genius, zum Symbol der Ratio, zum kulturellen Mythos. Unzählige Pastiches und Parodien, ob als Buch oder Film, folgten dem offiziellen Werkkanon aus vier Romanen und 56 Kurzgeschichten. Mit ihnen wurde die Legende nicht nur fortgeschrieben, sondern ebenfalls um- bzw. neugedeutet. Vor allem Sherlock Holmes selbst, im Original mehr exzentrischer Monomane denn ausgefeilter Charakter, bekam Schwächen angedichtet, die ihn aus dem Olymp der Geistesgrößen auf den Boden des (allzu) Menschlichen holten.

Einen ziemlich radikalen, auch raffinierten, gleichwohl mitfühlenden Zugang zum Holmes-Kult wählte Mitch Cullin für seinen Roman „A Slight Trick of the Mind“ (2005), der Vorlage für „Mr. Holmes“: nämlich das Alter und seine Zumutungen. In unserer Epoche des Anti-Aging, in der Jugend einen absurd hohen Marktwert beansprucht und das Alter gerne weggewünscht, -geredet, -retuschiert wird, ist der Lebensabend zu einer Art No-Go-Area geworden. Alle wollen alt werden, niemand altern.

Jenes Lifestyle-Problem einer auf Oberflächen versessenen Gesellschaft hat Cullin zu einem individuellen, humanen Drama umgeformt, indem er die Personifikation des kalten Intellekts als Greis auftreten lässt. Ist langsamer Gedächtnisverlust ohnehin ein Unheil, avanciert sie bei einem Mastermind wie Holmes, der sich nie über Gefühle und soziale Bindungen, sondern ausschließlich über Geist und Talent definierte, zur Tragödie. Nicht die eigene Sterblichkeit bedrückt ihn oder der Verlust vertrauter Wegbegleiter wie Dr. Watson, Bruder Mycroft oder Mrs. Hudson. Seine drängendste Sorge gilt der lauernden Demenz, denn sie verheißt ultimativen Identitätsverlust. „Logic is rare“, meint er einmal. Man könnte hinzufügen: Und ohne Logik herrscht für Holmes nur (Sinn-)Leere. Ein Defizit, das der elegische Soundtrack von Carter Burwell schon vorab zu betrauern scheint.

Der Spür-Hund von Sussex

Dem ernsten, die conditio humana tangierenden Thema angemessen inszeniert Regisseur Bill Condon seinen melancholischen, zwischen komplexem Charakterdrama und klugem Rätselkrimi changierenden Film mit einer sensiblen Ruhe, welche die Langsamkeit des Alters aufnimmt und zugleich von aller Zeit der Welt kündet. Ohnehin wirkt Holmes pittoreskes südenglisches Anwesen wie eine Enklave am Ende der Welt. Geschäftig sind hier nur die Bienen. Kameramann Tobias Schliessler nimmt diese Stille auf, lässt seinen Blick interessiert-diskret über das Geschehen gleiten, forscht mit wundervoll ausgeleuchteten Großaufnahmen in den Gesichtern nach kleinsten Regungen. Darüber findet er einen anmutig-sanften Rhythmus für die ebenso unspektakuläre wie tiefgründige Handlung, die ein halbes Menschenleben umfasst.

Ganz behutsam entwickelt das von Jeffrey Hatcher adaptierte Drehbuch ein kunstvoll ineinander verschachteltes, dichtes Szenario aus Heute, Gestern, also dem Trip in ein vom Weltkrieg verwüstetes Japan, und Vorgestern. 1919, während Holmes den letzten Fall in London löste, war er noch ein rüstiger Gentleman, von sich und seiner Passion für pure Objektivität überzeugt. Mit der Selbstverständlichkeit des Genies ordnete und beurteilte er Welt wie Menschen nach seinen Vorstellungen, übersah freilich, dass sich Leben, Fühlen, Denken selten auf nüchterne Tatsachen und sachliche Analyse herunterbrechen lassen. Holmes’ Überzeugung ’Fiction is useless’ mochte vernünftig gewesen sein. Realistisch war sie nicht. Wahrer Verstand räumt Fakt und Fiktion gleichermaßen Raum ein. Als Holmes vor 30 Jahren einer verzweifelten Frau und ihrem ohnmächtigen Gatten helfen sollte, wusste er das noch nicht. Jetzt, nachdem er diese alte Geschichte niederzuschreiben versucht und ihm sein Gedächtnis immer mehr Bruchstücke aus der Vergangenheit offenlegt, bricht sich jenes Bewusstsein Bahn. Holmes Dogmen beginnen zu wanken. Die Idylle von Sussex wird brüchig. Im Garten schwirren gefährliche Wespen, in der Seele von Mrs. Munro lauert Trauer, im Kopf von Roger wilde Entdeckerfreude, die zu einem folgenschweren Unfall führt, und im Herzen von Holmes reißt ein bodenloser Abgrund aus Einsamkeit auf.

Sämtliche Facetten eines mit Alter, Identität und später Selbsterkenntnis hadernden, mürrischen Mannes weiß Ian McKellen zu enthüllen. Zeugen unsicherer, gebeugter Gang, brüchige Stimme und oft müder Blick von einem Körper im Verfall, blitzt in diesen Augen manchmal ein Wissen auf, das von einem kombinatorisch-scharfen Geist jenseits des Gewöhnlichen kündet. Trotz Senilität wacht in ihm noch der gewitzte Spürhund. Ausleben kann er solchen Esprit als 30 Jahre jüngerer Holmes, der flotten Schrittes durch Londons Straßen stolziert, vital, wach und (zu) selbstgewiss. Schon einmal hat Ian McKellen in einem Biopic von Bill Condon eine höchst nuancierte Altersstudie geliefert: in „Gods and Monsters“ (1998) als James Whale, Hollywood-Regisseur von „Frankenstein“ (1931) und „Bride of Frankenstein“ (1935). In „Mr. Holmes“ nun lässt Ian McKellen seine schillernde Persönlichkeit, gegossen zu erlesen-reifer Schauspielkunst, mit der klassischen Holmes-Ikone verschmelzen. Damit steht er nicht nur in der Tradition anderer bedeutender Holmes-Darsteller wie Basil Rathbone oder Jeremy Brett, sondern sorgt auch für eine markante, geradezu stilbildende Neuinterpretation der literarischen Kunstfigur. Eine einzigartig subtile, berührende Performance, würdig eines Meisterschauspielers und eines Meisterdetektivs!

Das Zeichen der Legende

„Mr. Holmes“ erzählt den Mythos auf ebenso intelligente wie poetische Weise weiter, fügt sich gleichzeitig mit teils feinsinnigem Humor dem Kanon ein. So residierte Holmes zwar einst in der Baker Street, wegen des ’Fanansturms’ aber lieber gegenüber von 221b. Auch seinen berühmten ’Deerstalker’ erklärt er zur rein ästhetischen Erfindung, wie er überhaupt sehr bewusst mit der Diskrepanz zwischen Wirklichkeit, Legende und Wahrheit umgeht. Der öffentliche, perfekte Holmes ist ein Produkt aus der Feder von Watson, und diese Version findet vor ihm keinerlei Gnade. Erst spät weiß er den Freundschaftsdienst, den Watson ihm damit geleistet hat, wirklich zu schätzen. Den privaten Holmes entdeckt er, als sein Dasein durch die Erfahrung von Fehlbarkeit erschüttert wird. Die eigene Biographie als das geheimnisvollste aller Rätsel, die das Dasein zu bieten hat! Ein Glück, dass ihm in jenen schweren Zeiten eine Haushälterin mit energischem Pragmatismus und ein neugieriger, aufgeweckter Junge mit Lerneifer zur Seite stehen. Vor allem Roger wird unerwartet zu einem Spiegel für Holmes, weil er sich für dessen alte Abenteuer interessiert und obendrein zu neuen anregt. Ein entspanntes Bad im Meer ist da nur eine charmante Fußnote während der finalen Entwicklung eines alten Mannes, dessen Verstand degeneriert, dessen Persönlichkeit hingegen an Güte und Menschlichkeit gewinnt.

Auch die Inszenierung lässt sich auf ein Vexierspiel von Mythos und Medien ein. Ausstattung und Kostüme passen zum traditionellen Bild, forcieren eine stilgerechte Atmosphäre des Nostalgischen. Dann wieder verweist der Film auf sein eigenes Metier, wenn der greise Holmes sich anonym eine Kino-Adaption von Watsons Storys anschaut. Dass der Holmes-Darsteller in dem fiktiven Werk von Nicholas Rowe verkörpert wird, der 1985 in Barry Levinsons „Young Sherlock Holmes“ die Titelrolle spielte, demonstriert amüsant die Weite des ’Sherlockian Kingdom’. Überhaupt ist es durchaus als künstlerisches Qualitätsmerkmal zu betrachten, dass Holmes seit über hundert Jahren als pseudo-reale Gestalt durch die Welt geistert. Das spricht zugunsten von dessen ausdrucksstarker Figuration sowie Arthur Conan Doyles Geschick für die Popularisierung des Krimi-Genres; es entlarvt den Wunsch der Rezipienten, die modern-chaotische Welt als überschau-, erfass-, erklärbares und geordnetes Gefüge vorgegaukelt zu bekommen; und es ist der Beweis für die Macht der Phantasie.

Letztere hat Holmes nie anerkannt. Bis ihn die mühsamen Reflexionen über seine Vergangenheit und explizit seinen letzten Fall etwas anderes lehren. Spät, doch nicht zu spät beugt er, der Mann von Ratio und Räson, sich der Vorstellungskraft und erfindet die erste Geschichte seines Lebens. Vielleicht wird mit ihrer Hilfe ein anderer Mensch etwas getröstet. Nun ist Holmes frei – um sein Erbe zu klären, um seinen toten Gefährten nachzutrauern, um seinen Frieden zu finden, um selbst gehen zu können. Obwohl… Wer im kulturellen Gedächtnis lebt, in den Köpfen der Leser, vor allem im Herzen von Freunden, der hat längst Unsterblichkeit erlangt: „Oh, this is elementary, my dear fellow.“

„Mr. Holmes“ (Großbritannien 2015)
Regie: Bill Condon
Darsteller: Ian McKellen, Laura Linney, Milo Parker, Hiroyuki Sanada, Hattie Morahan
Laufzeit: 105 Min.
ab 24.12.2015 im Kino

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

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