Wiederbegegnungen

Zu Anna Maria Jokls "Die Reise nach London"

Von Kim LandgrafRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kim Landgraf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Es gibt keine Ereignisse mit Anfang und Ende", schreibt Anna Maria Jokl in bemerkenswerter Umkehr einer sonst landläufigen Definition, "es ist wie ein Gewebe, wo die Anzahl und Farben der Fäden von Anfang an gegeben sind, nicht aber, wann sie ins Muster treten." Der Sinn dieses Satzes erschließt sich, wenn man eines begreift: Das Leben ist für Anna Maria Jokl nicht etwas, das einfach nur abläuft, es offenbart sich in Konstellationen. Was sich ereignet, geschieht mithin nicht zufällig, in keiner beliebigen Folge, sondern es zeigt, ohne an dieser Stelle die Vorsehung bemühen zu müssen, eine erkennbare Bedeutung. Die Ereignisse hängen zusammen, und was ehemals da war, kehrt in der einen oder anderen Form wieder. Der Fluchtpunkt ist in allen Fällen das Ich oder in weiterem Sinne der Mensch, der trotz aller "Schläge", wie es heißt, in sich selbst ruht und die Kraft hat zu tun, was getan werden muß, zu wissen, was der nächste Schritt ist, ohne an einen direkten Nutzen zu denken. Martin Buber, der langjährige Freund und Vertraute, hat in einem der zahlreichen Gespräche mit der Autorin auf die Frage, was einer, der sein ganzes Leben mit Gott beschäftigt gewesen sei, dazu meine, erwidert, daß dies ja das Äußerste sei, was man von Gott wissen könne, alles Andere ist Götzendienst. - Es gehört zu den wohl eindrucksvollsten Momenten ihres neuen Buches "Die Reise nach London", daß es Anna Maria Jokl gelingt, jene Kraft auf völlig unprätentiöse Weise mitzuteilen und an uns weiterzureichen.

Die Reise, von der Anna Maria Jokl in diesem Buch Rechenschaft ablegt, hat die 1911 in Wien geborene und seit 1966 in Jerusalem lebende Schriftstellerin und Psychotherapeutin zu einer Zeit unternommen, als ihr klar wurde, daß sie erneut an einem der zahlreichen Wendepunkte ihres Lebens angelangt war. Im Herbst 1977 verließ sie daraufhin ihre Wahlheimat Israel, um Abstand von sich zu gewinnen und an einem Ort, der ihr zeitlebens fremd geblieben war, Bilanz dieses Lebens zu ziehen. Indem sie in London - nach Prag der Stadt ihres zweiten Exils von 1939 bis 1950 - Orte und Menschen der Vergangenheit aufsucht, erwachen zugleich in einer Vielzahl von Bildern und Situationen die Erinnerungen an die entscheidenden Stationen und Begegnungen ihrer Biographie. Rückblickend fügt sich ein zersplittertes Dasein zum sinnhaften Ganzen, und in jener seltsamen Paradoxie des Zugleich von Nähe und Ferne, das durch die Reise erst möglich geworden war, treten die Fäden ins Muster.

In oft sehr kargen, aber eindringlichen Schilderungen und Reflexionen berichtet die Autorin von ihrer ersten Begegnung mit Martin Buber, der später viel dazu beigetragen hat, daß Jerusalem für sie ebenso eine "historische" wie "eine Lebenskonsequenz - Israel" darstellen konnte. Sie erzählt von Gesprächen über so fundamentale Gegebenheiten wie Angst und Entwurzelung, die sie auf ihrem Weg immer begleitet haben. Buber und Jokl unterhalten sich auch über das Jüdische, über Bubers chassidische Geschichten und Gott, die sie einander näher gebracht haben und die auf beeindruckende Weise von beider Verständnis und unbedingtem Verständniswillen für den Menschen und für die Essenzen des Lebens zeugen.

Nüchtern, fast lakonisch und stets ohne Bitterkeit berichtet Anna Maria Jokl zudem von den schicksalhaften und immer wieder tragischen "Ver-Gegnungen" (Buber), die ihren Lebensweg ebenso maßgeblich beeinflußten. So kommt es nach dem Tod ihrer Eltern, die 1942 von den Nationalsozialisten deportiert worden waren, nicht mehr zu einer wirklichen Wiederbegegnung mit ihrer Geburtsstadt. Den Flieder, den sie in Erinnerung an eine frühere Vorliebe der Mutter bei ihrem Besuch mitbrachte, kann sie nur noch verschämt zu den Trümmern ihres ehemaligen Wohnhauses werfen. So hat sie mehrfach unter Denunziationen zu leiden, die niemals aufgeklärt wurden, sie aber in England in Schwierigkeiten brachten, weil man sie der Mitgliedschaft in der KP verdächtigte, und die 1951 nach nur zwei Monaten in Ost-Berlin dazu führten, daß sie binnen 24 Stunden des Landes verwiesen wurde. "Es läge keine Anklage vor", sagte man ihr, "nur die: Der Aufenthalt sei unerwünscht." Und so war sie am Ende auch hier, wie so oft, allein auf sich selber gestellt und tat, was getan werden mußte. Für die nächsten 11 Jahre begann sie in West-Berlin abermals ein neues Leben und arbeitete dort als Psychotherapeutin. In dieser Zeit entsteht die Studie "Zwei Fälle zum Thema 'Bewältigung der Vergangenheit'", eine eindringliche Analyse der seelischen Folgen des Holocaust bei Deutschen und Juden.

Das umfangreichste Kapitel ihres Buches widmet Anna Maria Jokl der Erinnerung an Zürich, wo sie 1950 für zwei Semester bei C.G. Jung am gerade erst neu gegründeten "Institut für komplexe Tiefenpsychologie" studierte. Auch hier war ihr Aufenthalt unerwünscht, und sie war erneut der Denunziation hilflos ausgesetzt. "In mir war Vertrauen tödlich verletzt worden", schreibt sie und das, wo "alle meine menschlichen Beziehungen auf Vertrauen basierten." Man riet ihr, von der Prüfung zurückzutreten, weil sie jüdisch und aus "keiner Familie" sei. Es war unerwünscht, daß sie das erste Examen am Institut ablegte, und als sie sich dennoch den Prüfungen stellte, fiel sie in mehreren Fächern durch. Die persönliche Begegnung mit C.G. Jung, dessen Antisemitismus inzwischen bekannt ist, hatte Anna Maria Jokl ersehnt, weil die Begegnung mit seinen Schriften tiefen Eindruck hinterlassen hat. Was sich in Zürich ereignet, ist der Blick in den Abgrund einer "menschlichen Wirklichkeit", vor der ihr graute. Erst im Nachhinein wird ihr deutlich, daß auch dabei Essenz, wie sie sagt, angerührt worden war. Nur sei es nicht seine positive gewesen, wie erwartet, sondern die negative.

Anna Maria Jokl hat mit der "Reise nach London" ein großes Buch der Erinnerung geschrieben, das in herausragender Weise Gelegenheit bietet, sich dieser außergewöhnlichen Zeugin des Jahrhunderts zu nähern und sich der Herausforderung ihres Lebens und Denkens zu stellen. Ein Buch, dem man sehr viele Leser nur wünschen kann. Denn es ist, nach all den Verlusten, die das Jahrhundert zu beklagen hat, ein kaum zu überschätzender Gewinn an Tiefe und Menschlichkeit.

Titelbild

Anna Maria Jokl: Die Perlmutterfarbe. Ein Kinderroman für fast alle Leute.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1995.
280 Seiten, 8,60 EUR.
ISBN-10: 3518389122

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Anna Maria Jokl: Die wirklichen Wunder des Basilius Knox. Ein Roman über die Physik für Kinder von 10 bis 70 Jahren.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 1997.
268 Seiten, 9,60 EUR.
ISBN-10: 3458335889

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Titelbild

Anna Maria Jokl: Essenzen. Erweiterte Ausgabe.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1997.
113 Seiten, 10,10 EUR.
ISBN-10: 3518222597

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Titelbild

Anna Maria Jokl: Zwei Fälle zum Thema 'Bewältigung der Vergangenheit'. Mit einem Nachwort von Klaus Röckerath.
Jüdischer Verlag, Frankfurt a. M. 1997.
102 Seiten, 12,30 EUR.
ISBN-10: 3633541365

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Titelbild

Anna Maria Jokl: Die Reise nach London. Wiederbegegnungen.
Jüdischer Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
127 Seiten, 16,40 EUR.
ISBN-10: 3633541578

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