Weltenbürgertum im Cyberspace

Über „Das echte Leben“ von Cory Doctorow und Jen Wang

Von Anika UllmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anika Ullmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Liza, Leiterin der Gilde Fahrenheit beim Online-Multiplayer-Rollenspiel Coarsegold, die Mädchen in der Klasse fragt, wer von ihnen Gamer ist, heben noch alle die Hände. Die senken sich jedoch wieder, als Liza sich erkundigt, wer von den Mädchen online weibliche Avataren spielt. Sie lädt die Schülerinnen ein, sich ihrer Gilde anzuschließen; unter der Bedingung, dass sie Mädchen spielen. Anda, Protagonistin in Das echte Leben, ist begeistert von Coarsegold. Sie besiegt Monster und steigt schnell von einem Level zum nächsten auf. Bald wir sie von Mitspielerin Lucy angesprochen, ob sie helfen will, sogenannte Goldfarmer zu töten. Zunächst macht Anda mit. Schließlich sind Goldfarmer, wie Lucy es darstellt, keine echten Gamer, sondern werden dafür bezahlt, die Eigenschaften von Spielfiguren zu erhöhen. Das seifür Leute gedacht, die zu faul sind, sich selber Erfolge zu erarbeiten. Doch dann trifft sie auf Goldfarmer Richard, der eigentlich nicht Richard heißt und in China lebt, wo er mehrere Jobs hat und keine Krankenversicherung. Diese Begegnung ändert Andas Sicht auf die Welt.

Gemeinsam sind wir stark

Cory Doctorows Comic ist zu großen Teilen eine Adaption der Kurzgeschichte Anda’s Game, und wie alle von Doctorows Jugendbüchern speist sich auch der Inhalt von Das echte Leben maßgeblich aus den Themen Internet und Aktivismus. Dies wird bereits auf dem Cover deutlich. Das Bild ist vertikal geteilt: links ist Anda abgebildet, mit dem Laptop auf dem Schoß. Die rechte Hälfte nimmt Andas Avatar ein, welcher ein Schwert in der Hand hält. Über die Parallelität der beiden Darstellungen wird klar: Außerhalb von Fantasyspielewelten ersetzt der Laptop das Schwert und jene, die ihn zu benutzen wissen, sind die Krieger der realen Welt. Im Vorwort wird zudem einführend auf die neuen Möglichkeiten hingewiesen, die das Internet für Aktivismus bietet. Dort heißt es: „Wir leben im goldenen Zeitalter der neuen Organisationsmöglichkeiten.“ Noch nie war es so einfach, miteinander in Kontakt zu treten und sich abzusprechen. Diese Tatsache wird in Das echte Leben mittels Gaming exemplifiziert. Im Spiel heißt es, Teamfähigkeit zu zeigen. Coarsegold kann jedoch auch genutzt werden, um Aufrufe zu einem gemeinsamen Streik zu verbreiten und damit das Leben der Menschen hinter den Avataren zu beeinflussen.

Online/Offline

Zentral für die Vision von Zusammenarbeit, wie sie im Comic dargestellt wird, ist das Verhältnis von realer zu virtueller Welt. Beide Räume sind über das Internet miteinander verbunden und beeinflussen sich gegenseitig. So ist Anda, wie auch ihre Eltern, eher moppelig, während ihr Avatar schlank ist. Die positiven Erfolgserlebnisse im Spiel verhelfen ihr zu einem besseren Selbstbewusstsein und damit zu einem besseren Körpergefühl. Sie beginnt, sich mehr um ihr Aussehen zu kümmern. Auffällig und ein wenig schade ist, dass (anders als in der Vorlage) das Verhältnis von echten und virtuellen Frauenkörpern keine Erwähnung findet. Dennoch wird über die Darstellung von Andas Avatar klar Stellung bezogen. Dieser ist zwar schmal und sportlich, wird aber nicht sexualisiert. Anda ist online immer noch ein junges Mädchen, das Spaß haben kann ohne den begehrenden Blicken anderer gefallen zu müssen.

Das echte Leben gibt zudem zu bedenken, wie wichtig es ist, global zu denken. Das Internet macht nicht nur vereinfachte Organisation möglich, sondern schafft hier mithilfe des Spiels einen Ort, an dem verschiedene Kulturen und Lebensumstände aufeinandertreffen. Jen Wangs imaginierte Online-Spielewelt ist ästhetisch von Asien beeinflusst. Lucy hat einen Tiger als Kampfgefährten, die Gebäude ähneln Tempeln und Kleidung scheint von Samurairüstungen und Kimonos inspiriert. Diese fantastischen Ideen von Asien werden jedoch durch die Aussagen Richards kontrastiert, der als chinesischer Arbeiter einen Einbruch des ‚echten‘ Asien darstellt, in dem hart gearbeitet werden muss. Anda muss lernen, dass Richard in China nicht dieselben Rechte hat wie etwa ihr Vater, in dessen Firma gerade gestreikt wird. Coarsegold wird für Anda zum ersten Schritt in Richtung Weltenbürgertum und der Einsicht, dass alle Menschen denselben Planeten bewohnen. Anda und Richard zeichnet dabei beide der Wille zur Kommunikation aus. Die Protagonistin ist die erste, die versucht, mit einem Goldfarmer zu sprechen. Sie schafft dies mithilfe einer online verfügbaren englisch-chinesischen Übersetzungssoftware. Richard hingegen versucht, Englisch zu lernen, die Gespräche mit Anda helfen ihm dabei.

Ab und an mag sich beim Lesen das Gefühl einstellen, dass die Geschichte zur sehr auf ihre politische Botschaft hin zugeschnitten ist. Dieser Malus wird jedoch durch die komplexe und von jeglicher Technophobie befreite Darstellung von Gaming wieder ausgeglichen. In einer vernetzten, digitalen Welt rücken Menschen näher zusammen. Das echte Leben entwirft ein erfreuliches Bild von neuen Medien und zeigt auf, wie diese helfen können, sich darüber zu informieren, wie andere leben. Begegnungen im virtuellen Raum werden dabei ebenso wichtig, wie physische.

Titelbild

Cory Doctorow / Jen Wang: Das echte Leben. Digitale Welten.
Übersetzt von Sanni Kentopf.
Panini Verlag, Nettetal 2015.
200 Seiten, 16,99 EUR.
ISBN-13: 9783957983046

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