Das Vergessen, das ist so ein seltenes Kraut

Der lange vergriffene Band „Vor den Abendnachrichten“ von Peter Kurzeck erscheint in einer neuen, erweiterten Auflage

Von Carina BergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carina Berg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Behauptung, Peter Kurzeck habe nur einen einzigen Erzählgegenstand gehabt, nämlich sich selbst, ist so falsch wie sie wahr ist. Fixpunkt des uferlosen Romanwerks ist stets der Autor selbst, doch erschreibt sich dieser Autor-Erzähler durch immerwährendes Wieder- und Neuerzählen seiner Alltagsgeschichten ein Stück deutsche Zeitgeschichte, ein Panorama der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Kurzecks Romanprojekt ist niemals nur die Nabelschau eines Schriftstellers , für den das eigene Leben nur schreibend erfahrbar ist, sondern vor allem der fortwährende Versuch, der verrinnenden Zeit etwas Bleibendes entgegenzusetzen. Dabei oszilliert Kurzecks Prosa zwischen minutiöser Erinnerungsarbeit – die Romane des Alten Jahrhunderts lassen sich auch als Frankfurter Stadtchroniken der 80er Jahre lesen – und poetischer Imagination.

Kurzecks grenzüberschreitende Poetik zwischen Leben und Schreiben, autobiographischer Chronik und Roman lässt sich schon im Kern in dem 1996 erschienenen Band Vor den Abendnachrichten, der im Rahmen seines Stipendienaufenthalts im Künstlerhaus Edenkoben im Jahre 1989 entstanden war, nachvollziehen. Diese kleine Prosasammlung war lange vergriffen und liegt nun in einer erweiterten Neuausgabe im Stroemfeld Verlag vor. Erweitert wurde die Sammlung um ein Nachwort von Bianca Döring, die Peter Kurzeck während des Aufenthalts in Edenkoben kennenlernte und mit der ihn, wie der autobiographisch gefärbte Text Kurzecks und das Nachwort Dörings verraten, eine romantische Beziehung verband. Vor den Abendnachrichten umfasst das Prosa-Triptychon Ach Deutschland und den titelgebenden Text Vor den Abendnachrichten. Letzterer besteht aus zwei Kapiteln des Dorfromans Kein Frühling, die nicht in der Erstfassung von 1987, sondern zwanzig Jahre später in der erheblich erweiterten Neuauflage von 2007 publiziert wurden. Auch wenn die Neuauflage dieses Bandes weniger aufregend erscheint als das kürzlich erschienene Romanfragment Bis er kommt (Band 6 des Alten Jahrhunderts), ist es doch sehr erfreulich, dass nun alle in Buchform veröffentlichten Texte Kurzecks in den gewohnt sorgfältig edierten Ausgaben des Stroemfeld Verlags erhältlich sind. Denn das Erzählbändchen lediglich als Potpourri bereits publizierter Texte zu betrachten, würde das Wirkungspotential dieser Sammlung verkennen.

Besonders interessant – sowohl für Kurzeck-Liebhaber als auch Erstleser – ist Ach Deutschland, ein Triptychon. In drei kurzen Prosastücken eröffnet sich der Kosmos des Kurzeck’schen Erzählens auf engstem Raum, wenn auch der Text, verglichen mit dem hochmusikalisch-elliptischen Stil der späteren Werke, zuweilen wie eine kleine Vorübung wirkt. In der Vorrede zum Dreiteiler formuliert Kurzeck den Impetus seines Schreibens als eine Reaktion auf die Vertreibung seiner Familie aus Böhmen: „Dass du keine Einzelheit je vergessen dürftest, dein Bündel, dein Eigentum, das schleppst du von nun an mit.“ Das Bündel ist hier nicht nur wörtlich zu verstehen. Alle späteren Romane sind durch ein Gefühl des Verlusts und einer diesen erfahrenen Verlust kompensierenden Erinnerungswut motiviert, die buchstäblich versucht, das Leben ins Buch zu bannen. Das ist das Bündel, das der den Schreibprozess unentwegt kommentierende Schriftsteller mit sich herumträgt. Dass dieser Dokumentationszwang auch schnell in sein literarisches Gegenteil umschlagen kann, illustriert der Mittelteil des Triptychons, ein Auszug aus Kurzecks zweitem Roman Das schwarze Buch. Im Anschluss an die Beschreibung eines Aufenthaltes in Locarno, die die Autorfigur in ihrer üblichen Denk- und Arbeitswelt (das heißt beim Schreiben, Spazieren und Telefonieren) zeigt, verwandelt sich der Erzähler in einen türkischen Arbeiter der Frankfurter Straßenreinigung, der sich aus der Tretmühle des Alltags weg und hin nach Ostanatolien träumt. Dieses Montieren zweier inkongruenter Erzählweisen – der offensichtlich autobiographische Locarno-Bericht und die fiktionale Passage über das Gastarbeiter-Alter Ego – ist kennzeichnend für Kurzecks Poetik, die an keiner Stelle bei einem naiv-realistischen Abschreiben der Welt anhält, sondern poetische Gegenentwürfe anbietet, die einen unreflektierten Realismus transzendieren. Das Tryptichon schließt mit einer Szene aus Edenkoben, die im Vergleich zu der geschilderten Verlusterfahrung und Not in Vorrede und Mittelteil in einer fast idyllischen Darstellung von menschlicher Nähe und geglückter Arbeit ( „Jetzt ist mein Buch bald fertig“) endet – wobei man sofort den drohenden Untertitel von Kurzecks erstem Roman im Ohr hat: „Die Idylle wird bald ein Ende haben“!

In dem titelgebenden zweiten Textabschnitt des Bandes heißt es: „Das Vergessen, das ist so ein seltenes Kraut, eine bittere Medizin.“ Dieses seltene Kraut scheint in Kurzecks Prosa nicht zu wachsen. Allgegenwärtig und überstark ist das Bedürfnis, sich schreibend seiner selbst und seines Zeitalters zu erinnern. Doch auch im noch so radikalen Anschreiben gegen die Zeit ist die Vergeblichkeit dieses Versuchs spürbar; der Geschmack dieser bitteren Medizin ist notwendiger Teil von Kurzecks Schreiben. Damit dieses für die deutsche Gegenwartsliteratur so bedeutende Erzählprojekt selbst auch in seinen Vorstufen nicht dem Vergessen anheimfällt, ist die Neuauflage von Vor den Abendnachrichten wohl ganz im Sinne ihres Autors.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Peter Kurzeck: Vor den Abendnachrichten. Mit einem poetischen Nachwort von Bianca Döring.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt 2015.
72 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783866002470

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