Hoffnung und Enttäuschung der Migration

Luiz Ruffatos neuer Roman „Ich war in Lissabon und dachte an dich“

Von Michi StrausfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michi Strausfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Brasilien 2013 Ehrengastland der Frankfurter Buchmesse war, hielt Luiz Ruffato die Eröffnungsrede, deren Inhalt so brisant war, dass gleich eine heftige Polemik entbrannte. War er ein Nestbeschmutzer oder hatte er einfach nur die „Wahrheit“ gesagt, die vor allem die Organisatoren hier nicht gerne hörten, da man doch feiern wollte? Ruffato hatte auf einige Fehlentwicklungen in der Geschichte hingewiesen, vor allem aber die immensen sozialen Unterschiede im Land angeprangert. Brasilien, die siebtgrößte Wirtschaftsnation, steht an dritter Stelle im Ranking der Ungleichheit.

Die Situation der Millionen Brasilianer aufzuzeigen, die in Armut leben, ist eines der Hauptanliegen des Autors, denn er kennt die Verhältnisse der „kleinen Leute“ nur zu gut, gehört er doch dieser Klasse an. Seine Mutter war Analphabetin und arbeitete als Wäscherin, sein Vater konnte ein wenig lesen und war u.a. Popcornverkäufer. Ruffato, geboren 1961 in Cataguases, einer mittelgroßen Industriestadt in Minas Gerais, sagt, dass er seit dem 6. Lebensjahr gearbeitet habe – als Verkäufer, Textilarbeiter und Mechaniker. Gleichzeitig studierte er Journalismus und schrieb von 1979 bis 2003 für die Zeitung „O Estado de São Paulo“.

Ruffato schloss seine Rede in Frankfurt mit den Worten: „Wir verfallen der Einsamkeit und dem Egoismus und verleugnen uns vor uns selbst. Um dem entgegenzuwirken, schreibe ich: ich will den Leser berühren, ihn verändern, die Welt ändern. Das ist eine Utopie, ich weiß. Aber ich lebe von Utopien. Weil ich denke, dass die letzte Bestimmung eines Menschen nur eine sein sollte: Das Glück auf Erden zu erreichen. Hier und jetzt“.

2001 erschien sein erster Roman „Es waren viele Pferde“ (deutsch 2012), in dem der Autor einen Tag im Mai 2000 in São Paulo schildert. In 69 lose miteinander verknüpften Szenen erfahren wir vom Leben und Überleben in dieser Megastadt, die Furcht und Schrecken weckt, zugleich aber wie ein Magnet wirkt: die Zuwanderung dauert unvermindert an, Glanz und Elend existieren in unmittelbarer, ja brutaler Nähe miteinander. Auf nur 160 Seiten entfaltet der Autor ein Panorama der Stadt, liefert er einen Querschnitt durch die Gesellschaft, der verstört und berührt, der die Verzweiflung und Hoffnung der vielen Personen zeigt, die der Autor uns vorstellt. Das ist große Literatur. Als nächstes Werk legte Ruffato eine „Provisorische Hölle“ in fünf schmalen Bänden vor, von denen deutsch bislang zwei erschienen sind: „Mama, es geht mir gut“ (2013) und „Feindliche Welt“ (2014).

Auch das neue Buch von Luiz Ruffato hat nur wenige Seiten, kondensiert aber wieder ein Schicksal, das typisch für Millionen Menschen ist: der Emigrant. Hier erzählt der Autor das Leben von „Sergio de Souza Sambias, geboren am 7. August 1969 in Catagueses“, mit dem er im Juli 2005 vier Gespräche in Lissabon führte. Es handelt sich also um eine wahre Geschichte, der Autor leiht dem Betroffenen nur seine Stimme bzw. seinen Stift.

Im ersten Teil erfahren wir vom medizinisch notwendigen Versuch Sérgios in Catagueses, mit dem Rauchen aufzuhören – was ihm schließlich gelingt, trotz einer gescheiterten Ehe, die Frau in einer psychiatrischen Anstalt, der Sohn bei Verwandten, die prekäre und unregelmäßige Arbeit, Alkohol mit Freunden, das Übliche. Aber der Tod der Mutter bedeutet den Verlust seiner emotionalen Bindung, und so hält ihn nichts mehr in der Stadt. Nur zu gerne glaubt er jetzt den großen Gerüchten, die im Umlauf sind: nach Lissabon ziehen, dort ein paar Jahre hart arbeiten und als gemachter Mann zurückkehren. Unzureichend informiert, verkauft er seinen Erbanteil am kleinen Haus der Mutter, wird von den Freunden mit Ratschlägen überhäuft (die wenig nützlich sind) und groß verabschiedet. So wagt er den Flug nach Portugal und beginnt voller Hoffnung die große Reise.

Im zweiten Teil erzählt Sergio, warum er doch wieder anfing zu rauchen … denn nichts verlief so, wie er es sich in Catagueses vorgestellt hatte. Es gibt nur wenig Arbeit, die obendrein schlecht bezahlt und nie von Dauer ist, er vermisst die Freunde, er sehnt sich nach Sex oder gar ein wenig Liebe, seine Unerfahrenheit wird ausgenutzt, man betrügt ihn und so verläuft sein Leben genauso prekär – oder schlimmer – wie in der Heimat. Und wie nur soll er einmal zurückkehren, den Flug finanzieren und dann seinen Freunden gestehen, dass er genau so arm ist wie zuvor? In seiner Not greift er wieder zur Zigarette. Knapper lässt sich seine Verzweiflung vermutlich kaum wiedergeben.

Eingangs wird der große portugiesische Autor Miguel Torga zitiert, der viele Jahre im politischen Exil in Brasilien lebte, und der die Situation des Emigranten so zusammenfasst: „Ach, Verbannung im Antlitz eines jeden Gesichts / Traurigkeit eines geteilten Schoßes! / Ach kenterte doch unterwegs die Verzweiflung / auf dem Weg zwischen gefundenem und verlorenem Boden.“

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Luiz Ruffato: Ich war in Lissabon und dachte an dich.
Übersetzt aus dem Portugiesischen von Michael Kegler.
Assoziation A, Berlin 2015.
92 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783862414444

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