Der traurige Hochseilartist

Das preisgekrönte Kinderbuch „Papas Seele hat Schnupfen“ erzählt davon, wie ein Kind die Depression eines Elternteils erlebt

Von Laslo ScholtzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laslo Scholtze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nele lebt in einer traumhaften Kinderwelt. Sie ist die Tochter der „großen Santinis“, zweier berühmter Hochseilartisten, und lebt mit ihnen und ihrem Äffchen Kolumbus inmitten einer kunterbunten Zirkusgroßfamilie. Es herrscht ein lustiges Treiben: Tiere, Clowns, phantasievolle Kostüme – alles frei, abenteuerlich und ein bisschen verrückt. Für Nele könnte es nicht besser sein,ihr Zirkus Miraconda“ ist „einer der berühmtesten im ganzen Land“.

Doch dann beginnt sich Neles Papa, der „große“ Adam Santini, allmählich zu verändern. Er ist oft traurig, kann nicht einmal mehr über den Dummen August lachen und kommt morgens nicht aus dem Bett. Innerlich scheint er sich immer weiter von seiner Familie und seinen Zirkuskollegen zu entfernen. Worte für seinen Zustand findet keiner. Schließlich nehmen Starre und Ängstlichkeit so zu, dass er in seinem Beruf als Artist auf dem Hochseil scheitert. Er erleidet einen Zusammenbruch und kommt ins Krankenhaus.

Die Kinderbuchautorin Claudia Gliemann erzählt in „Papas Seele hat Schnupfen“ davon, wie Nele den Weg ihres Vaters in eine klinische Depression und seine langsame Rückkehr in den Kreis der Zirkusfamilie erlebt. Gliemann gelingt es dabei sehr einfühlsam und realistisch, die Perspektive aus Neles Kinderaugen darzustellen: ihre Gefühle von Wut und Beschämung darüber, dass der „große“ Papa nicht mehr weiter weiß, seine Kräfte verliert und auf Hilfe und Rücksicht angewiesen ist sowie ihre Fragen danach, was mit Papa los ist und wann die Krankheit wieder verschwindet. Die Stärke des Buches ist, dass es die kindliche Ernsthaftigkeit dieser Fragen zulässt, ohne zu verniedlichen oder zu verharmlosen. Und Antworten findet, mit denen Kindern etwas anzufangen wissen.

„Papas Seele hat Schnupfen“ ist in Kooperation mit der Deutschen DepressionsLiga (DDL) entstanden und soll die Aufklärung und Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen, insbesondere der Depression, fördern. Es ist also zunächst ein Buch für Betroffene und für alle, die mit Kindern (ab sechs Jahren) ins Gespräch kommen wollen über dieses immer auch befremdliche, schwer greifbare Thema. Gleichzeitig aber ist es eine Bereicherung für jedes Kinderbuchregal, schließlich sind psychische, nicht anders als körperliche Leiden Teil des Lebens – und damit nichts, was vor Kindern verborgen werden sollte.

Einen wesentlichen Anteil an der Qualität des Buches – es wurde seit seinem Erscheinen bereits mit mehreren Preisen ausgezeichnet – hat die Illustratorin Nadia Faichney, die die Geschichte von Nele und ihrer Zirkusfamilie mit farbenfrohen, gefühlvollen und warmherzigen Bildern lebendig macht. Dass sie (noch) nicht über das zeichnerische Repertoire der Großen ihrer Zunft verfügt, etwa für den mimischen Ausdruck ihrer Figuren, wird man der jungen Illustratorin bestimmt nicht vorhalten wollen. Nach eigenen Angaben ist es ihr erstes großes Buchprojekt. Ihre Bildideen sind kreativ und detailreich; Faichney wird Kindern und Eltern in Zukunft sicher noch viele wunderbare Vorlesestunden bescheren.

Nele findet im Gespräch mit dem Dummen August schließlich ihre eigene Antwort und gleichzeitig die titelgebende Metapher für die Krankheit des Vaters: „Papas Seele hat Schnupfen“. Denn nicht nur der Körper, auch die Seele kann krank werden. Diese Erklärung muss der Dumme August später angesichts von Rückschlägen, die Nele enttäuschen und verunsichern, allerdings erweitern: Es gibt auch schwerere Krankheiten, die ihre Zeit brauchen, und bei denen man nicht weiß, wann es wieder gut wird.

Der Realismus in der Krankheitsgeschichte macht den besonderen Wert des Buches aus. Er lässt zwar ein hoffnungsvolles Ende zu, zeigt aber auch, dass sich die Erwartungen der Betroffenen anzupassen haben. Nele hat ihre eigene Sicht entwickelt, die Verständnis und Rücksicht für die neue Rolle ihres Vaters einschließen. Dieser hat es zwar auch nach Monaten noch nicht zurück auf das Hochseil geschafft, doch übt er bereits wieder auf einem tiefer gespannten Seil. Und er hat genug Energie und Lebensfreude, um wieder ein Vater für Nele zu sein, der ihr Mut macht, ihr das Balancieren beibringt und mit ihr zusammen glücklich sein kann.

Titelbild

Claudia Gliemann: Papas Seele hat Schnupfen.
Mit Illustrationen von Nadia Faichney.
Monterosa Verlag, Karlsruhe 2014.
62 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783942640060

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