Vorbemerkungen zur Dezember-Ausgabe 2015

Dass wir in der Vorweihnachtszeit der Kinder- und Jugendliteratur einen unserer beiden Schwerpunkte widmen, ist natürlich kein Zufall. Aber abgesehen davon, dass wir – wie wohl auch unsere erwachsenen Leserinnen und Leser – in dieser Zeit intensiver als sonst an die eigene Kindheit und Jugend zurückdenken und dabei nicht zuletzt auf unsere damaligen Leseerlebnisse, haben wir bei dem Thema einigen Nachholbedarf. Zwar hat sich literaturkritik.de in den letzten Jahren, gerade auch zur Weihnachtszeit, wiederholt damit befasst, 2012 etwa, 2008 oder 2004, aber der letzte Schwerpunkt mit dem Thema liegt mittlerweile zwölf Jahre zurück.

In der jetzigen Ausgabe geht es nicht nur um in diesem Zusammenhang längst vertraute, aber weiterhin aktuelle Aspekte wie Freundschaft, Familie oder den Übergang von der Kindheit zum Jugendalter, sondern auch um neuere Entwicklungen hinsichtlich der Ausdifferenzierung der Geschlechterrollen von Jungen und Mädchen oder des Umgangs mit älteren Menschen. Darüber hinaus spielen, wie die Beiträge zeigen, Flucht und Interkulturalität in dieser Literatur eine zunehmend wichtige Rolle. So stehen etwa in den Romanen Zoran Drvenkars Kinder und Jugendliche im Fokus, die in mehreren Welten aufwachsen. Während die Eltern oft noch dem Herkunftsland und seiner Kultur verbunden sind, wachsen ihre Kinder in einer gänzlich anderen Umgebung auf. Diese Konstellation zwingt sie, zwischen beiden Welten hin und her zu switchen, und fordert ihnen eine enorme Anpassungsleistung ab.

Eng verbunden mit den kulturellen Unterschieden sind häufig die der Religionen. Die Frage, wie Menschen verschiedenster religiöser Prägung friedlich miteinander leben können und es sich verhindern lässt, dass Religionen machtpolitisch missbraucht und zur Legitimation von Gewalt pervertiert werden, ist in Zeiten zunehmender Fluchtbewegungen aktueller denn je. Die „Rückkehr der Religion“, von der seit etlichen Jahren die Rede ist, zeigt zweifellos zwiespältige Wirkungen. Nicht viele zeugen von einer derart aufgeklärten und toleranten Religiösität wie die Rede des diesjährigen Friedenspreisträgers des Deutschen Buchhandels Navid Kermani. Der Sohn iranischer Eltern, Islamwissenschaftler, Orientalist und Schriftsteller, dessen Religionsverständnis maßgeblich von seinem schiitischen Großvater geprägt wurde, wünschte sich am Ende seiner Rede von den Zuhörern, „nicht zu applaudieren, sondern für Pater Paolo und die zweihundert entführten Christen von Qaryatein zu beten“.

Unter anderem mit zwei Büchern von Kermani befasst sich ein weiterer Themenschwerpunkt dieser Ausgabe, „Literatur und Religion“, der von der Komparatistik-Redaktion an der Universität Mainz vorbereitet wurde. Auch dieser Schwerpunkt setzt ähnliche in früheren Ausgaben von literaturkritik.de fort (11/2012, 4/2008, 12/2005, 6/2004). Dass Literaturwissenschaft religiöse Texte und Theologie diese als Literatur untersucht, auch dafür setzte sich Kermani ein. In seiner Friedenspreisrede berichtete er, dass sein „Lehrer Nasr Hamid Abu Zaid in Kairo der Ketzerei angeklagt, von seinem Lehrstuhl vertrieben und sogar zwangsgeschieden [wurde], weil er die Koranwissenschaft als eine Literaturwissenschaft begriff.“ Dabei sei, so Kermani weiter, „der Koran ein Text, der sich nicht etwa nur reimt, sondern in verstörenden, vieldeutigen, geheimnisvollen Bildern spricht, er ist auch kein Buch, sondern eine Rezitation, die Partitur eines Gesangs, der seine arabischen Hörer durch seine Rhythmik, Lautmalerei und Melodik bewegt.“

Die Dezember-Ausgabe schließt mit Lektüreempfehlungen der Redaktion „Gegenwartskulturen“ an der Universität Duisburg-Essen für die Zeit zwischen den Jahren, „für ein gutes Ende“ des alten und „einen guten Anfang“ des neuen Jahres – und natürlich auch „für zwischendurch“. Mit bestem Dank an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie jene, die uns auf andere Weise bei der Arbeit unterstützen, schließen wir uns diesen Wünschen für unsere Leserinnen und Leser an und verabschieden uns im Namen der Redaktionen bis zum Erscheinen der Januar-Ausgabe 2016 mit herzlichen Grüßen.

Stefan Jäger und Thomas Anz