Ein Winterkind und ein Drache aus Eis

Schnörkellos und melancholisch: Ein altes Kinderbuch von George R. R. Martin erscheint unter dem neuen Titel „Das Lied des Eisdrachen“

Von Hannelore PiehlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hannelore Piehler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Adara ist ein Winterkind. Mitten „im schlimmsten Frost seit Menschengedenken“ hat sie das Licht der Welt erblickt. Ihre Mutter ist bei der Geburt gestorben. Es hieß seither, Adara sei vom Winter „berührt“ worden: Das ernste Mädchen mit den blonden Haaren und der blassen Haut lächelte selten – und weinte nie. Adara stand immer etwas abseits: von ihren Altersgenossen, von ihren Geschwistern Geoff und Teri, und selbst von ihrem Vater. Alle anderen lebten im und für den Sommer, wenn auf dem Feld gearbeitet, gelacht und abends im Gasthaus zusammen geplaudert wurde. Auch Onkel Hal, der Drachenreiter, kam nur im Sommer zu Besuch, den Winter verbrachte er im warmen Süden des Landes. Adara konnte  Hal nicht leiden: Wenn ihr Onkel kam, war der Winter fern. Und von „allen Jahreszeiten mochte Adara den Winter am liebsten, denn wenn es kalt wurde, kam der Eisdrache“.

Es ist eine kleine, kompakte Geschichte, schnörkellos und wohltuend schlicht geschrieben, die Erfolgsautor George R. R. Martin über das Mädchen Adara 1980 erstmals veröffentlichte – damals, als er noch nicht für seine Fantasy-Reihe „Game of Thrones“ (deutsch: „Das Lied von Eis und Feuer“) gefeiert wurde. Erst 16 Jahre nach der Geschichte „The Ice Dragon“ erschien der erste Teil der phänomenalen Saga um die Ränkespiele im fiktiven Westeros. Spätestens seit der Verfilmung des Epos um die Sieben Königslande ist Martin zum Kultautor aufgestiegen – und Fans auf der ganzen Welt warten sehnsüchtig auf die Fortsetzung und den Abschluss der Reihe. Der 67-jährige Autor aber lässt sich nicht drängen.

Und so werden es vermutlich nicht nur Kinder sein, die nun zu Martins kleiner Erzählung „Das Lied des Eisdrachen“ greifen werden. 2009 auf Deutsch bereits unter dem Titel „Adara und der Eisdrache“ als Taschenbuch erschienen, liegt unter dem, an Martins Erfolgsstory angelehnten, neuen Titel „Das Lied des Eisdrachen“ jetzt – rechtzeitig für das Weihnachtsgeschäft – eine gebundene Ausgabe des Kinderbuchs vor. Die Fans werden ihre Freude daran haben: Nicht nur die intensiven, einfarbig-blauen Illustrationen von Louis Rayo, einem der Vertreter der Heroic Fantasy Art, bieten sichtbare Anklänge an „Das Lied von Eis und Feuer“. Auch die Geschichte selbst könnte in Westeros spielen: Liegt nicht Adaras Heimatdorf möglicherweise gleich neben Winterfell, dem Sitz von Lord Stark? Schließlich führt dort auch die „Straße des Königs“ (der „Königsweg“) vorbei in den Süden, wo der König lebt. Ist der Krieg, der den Norden durchzieht, vielleicht einer der früheren Kriege in den Königslanden? Über Schattenwölfe, Wildlinge oder die Mauer erfährt man zwar nichts, doch umgekehrt werden Eisdrachen bekanntlich in der späteren Fantasy-Saga erwähnt: Die alte Nan erzählte auf Winterfell immer die Geschichten von den Eisdrachen mit dem kalten Atem – freilich stellten diese nicht mehr als eine Legende dar.

In „Das Lied des Eisdrachen“ steht ein Eisdrache ganz unvermittelt vor der kleinen, staunenden Adara. Und er ist prächtig: weiß wie Kristall, mit Raureif bedeckt, die Augen klar, tief und wie aus Eis, die Flügel durchscheinend und bläulich, Eiszapfen als Zähne „in einer Dreierreihe, spitze Speere von unterschiedlicher Länge, die weiß im tiefblauen Maul funkelten“. Sein Atem ist kein Feuerstrahl, sondern eisige Kälte – und bringt Stille, Kälte und Tod in die Welt. Doch anders als die Dorfbewohner fürchtet sich das Winterkind nicht vor dem Sagenwesen. Adara freundet sich heimlich mit dem Eisdrachen an, so dass dieser ihr schließlich sogar zu Hilfe eilt, als der Krieg im Norden vorrückt und die Drachenreiter des Feindes über das Dorf herfallen. Von George R. R. Martin ist natürlich kein typisches Happy End zu erwarten – auch nicht im Kinderbuch. Doch gerade deswegen rührt Adaras leise Geschichte um Freundschaft, Tapferkeit und die Beziehung zu ihrer Familie. Für zarte Gemüter (und Kinder!) mag sie insgesamt etwas zu melancholisch ausgefallen und der Kampf der Drachen etwas zu detailliert beschrieben sein. Für alle begeisterten Leserinnen und Leser von Martins großer Saga ist sie sicherlich ein kleines, funkelndes Eiskristall, das sich zu lesen lohnt.

Titelbild

George R.R. Martin: Das Lied des Eisdrachen.
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Andreas Helweg.
cbj Verlag, München 2015.
128 Seiten, 9,00 EUR.
ISBN-13: 9783570172605

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