In Zwiesprache mit Wilhelm Raabe

Thomas Hettche preist das utopische Erzählen

Von Natalie MoserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Natalie Moser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Büchlein mit einer reduzierten Ästhetik soll dafür sorgen, dass Thomas Hettche, der Wilhelm Raabe-Literaturpreisträger 2014, sowie der Namensgeber des Preises nicht in Vergessenheit geraten. Es ermöglicht dem Leser, mit den Augen des in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur wohlbekannten Autors auf Raabe zu blicken und zeigt, dass Literatur unabhängig ihrer Entstehungszeit mit ihrer Leserschaft kommuniziert. Wie sie das tut, thematisieren die literaturkritischen und -wissenschaftlichen Beiträge der Publikation „Thomas Hettche trifft Wilhelm Raabe. Der Wilhelm Raabe-Literaturpreis und seine Folgen“.

Die Titel aus der Reihe ‚X (aktuelle/r Wilhelm Raabe-Literaturpreisträger/in) trifft Wilhelm Raabe‘ enthalten der Tradition entsprechend die Dankesrede des Preisträgers, die Laudatio sowie die Begründung der Jury für die Preisvergabe. Diesen Kernbestand der Publikation kontextualisieren ein Vorwort des Herausgebers sowie zwei Aufsätze, die zum einen das Werk des Preisträgers und insbesondere den preisgekrönten Roman Die Pfaueninsel (2014) charakterisieren, und zum anderen die Schnittstellen zwischen Raabes und Hettches Erzählen ausloten. Während sich die literaturwissenschaftlichen beziehungsweise -kritischen Texte unterschiedlich stark auf Raabes Vermächtnis beziehen, begegnen sich der Namensgeber des Preises und der Preisträger nicht nur auf dem Cover der Publikation, sondern auch in Hettches Preisrede in mehrerlei Hinsicht auf Augenhöhe.

Im Vorwort geht es vor allem um verschiedenartigste Ambivalenzen: Von der problematischen Geschichte des Wilhelm Raabe-Literaturpreises, aber auch von den Ambivalenzen einer künstlich erzeugten Natürlichkeit, von der Hettches Pfaueninsel, aber auch eine Vielzahl von Raabes Werken handelt. Bedauerlicherweise präsentiert Hubert Winkels keine seiner Überlegungen, die er in seiner Rezension in „Der Zeit“ vom 11.09.2014 formulierte. Dort analysierte Winkels Hettches Kunst des Amalgamierens von Architektur, Hofkultur und Körperkult, die eine mehrdimensionale Lektüre des Romans verlangt. Das Verwachsen von botanischen, zoologischen, höfischen und vielen weiteren Diskursen betont auch die Jury und nennt insbesondere die gleichermaßen über- und jetztzeitliche Wirkung des Romans als Grund für die Preisvergabe.

Auf Winkelsʼ einführende Bemerkungen folgt Richard Kämmerlings Laudatio zur Preisverleihung, die chronologisch die Entwicklung von Hettches Schreiben nachzeichnet und Verbindungslinien zum preisgekrönten Roman zieht. Die Würdigung beginnt und endet konsequenterweise mit der Pfaueninsel, deren Ursprünge Kämmerlings in einer „FAZ“-Reportage von Hettche aus dem Jahr 1993 verortet. Die letzten Worte des Beitrags gehören der Protagonistin des Romans, Marie Dorothea Strakon, die über die Gleichzeitigkeit des Vergehens und Bestehens der Welt staunt. Kämmerlings Beitrag kann man stellenweise als eine Überarbeitung beziehungsweise Korrektur seiner mehrheitlich kritischen Rezension des Werkes in „Der Welt“vom 13.08.2014 lesen. Seine Rezension beschreibt den Roman, den er als potenzielles Buch des Jahres apostrophiert, als konservativ und gegenwartsvergessen und bedauert Hettches Anbiederung an den zeitgenössischen Publikumsgeschmack, die einem Rückfall hinter seine früheren Werke gleichkomme. Gemeinsamkeiten der beiden, unterschiedlichen Jahrhunderten zugehörigen Autoren Raabe und Hettche lokalisiert Kämmerling in ihrer Fokussierung des Individuums im historischen Umbruch, die innerhalb der Publikation sowohl von Katrin Hillgruber als auch von Christof Hamann aus einer je anderen (Werk-)Perspektive in den Blick genommen wird.

Hettche führt in seiner Preisrede eine katastrophengeplagte Gegenwart vor, in der auch der Ort des Ich-Erzählers, das Literaturmuseum, in seinen Grundfesten erschüttert wird. Dort befreit der Erzähler den verstaubten Raabe aus den Trümmern und tritt ihm auf Augenhöhe entgegen, indem er mit und im Hinblick auf Raabe über die Vergänglichkeit und Beständigkeit, insbesondere aber über den Nutzen der Literatur im heutigen Zeitalter nachdenkt. Die beiden selbsternannten Außenseiter Hettche und Raabe, verbunden durch ihren Protest gegen den Geniekult und gegen wechselnde Modeströmungen, widmen sich gerade nicht der Gegenwart, sie erkennen aber trotzdem – oder gerade deswegen – die in Zeitlupe voranschreitenden Umbrüche in ihrer jeweiligen Zeit. Diese Veränderungen unterhalb der Wahrnehmungsschwelle machen die beiden Autoren durch ihre Literatur hindurch sichtbar. Hettche charakterisiert Raabe in seiner Preisrede dementsprechend auch als Vermittler, der sich und seiner Leserschaft einen (Erzähl-)Raum schafft und so gegen die Destabilisierung in der jeweiligen Gegenwart ankämpft. Raabes Erzählen von Krisen und Umbrüchen feiert folglich nicht den Pessimismus, sondern ist ein utopisches Projekt, dem auch Hettches Roman Die Pfaueninsel verpflichtet ist.

Katrin Hillgrubers Aufsatz, der auch online verfügbar ist, parallelisiert die beiden Autoren über den Diskurs des Zerfalls. Hillgruber – man könnte sie eine Hausautorin der Reihe ‚X triff Wilhelm Raabe‘ nennen – nimmt eine zeitgenössische Inszenierung von Pfisters Mühle am Schauspiel Stuttgart im November 2014 zum Anlass, um von dieser zeitgenössischen Raabe-Interpretation Parallelen zu Hettches neu(est)er Sicht – in Anspielung auf Hermann Helmers Raabe in neuer Sicht (1968) – auf Raabes Werk zu ziehen. Hillgruber macht Hettche damit zu einem literarischen Raabe-Philologen. Gemäß Hillgruber weisen Raabes Pfisters Mühle (1884) und Hettches Pfaueninsel einen selbstkritischen Erzähler auf und stellen die Raum- und Zeitthematik in das Zentrum der Narration, weshalb Hettche in seiner Preisrede und daran anknüpfend auch Hillgruber von einer Revolution (in Zeitlupe allerdings) sprechen. Die Erklärung, welche Textverfahren Hillgruber am Ende ihres Aufsatzes veranlassen, von Hettches realistischem Erzählen zu sprechen, bleibt sie dem Leser allerdings schuldig.

Den letzten und längsten Aufsatz steuert Christof Hamann bei, der ebenfalls nicht zum ersten Mal in dieser Reihe publiziert. Hamann führt Hillgrubers Ansatz weiter, Hettches Roman mit einem Roman von Raabe – Das Odfeld (1889) – zu vergleichen, wobei sein Aufsatz im Unterschied zu demjenigen von Hillgruber längere Zitate aufweist, die dem Leser einen unmittelbaren Eindruck der beiden Texte geben. Hamann zeigt, dass beide Autoren Heterotopien ins Zentrum ihrer Romane stellen. Die Pfaueninsel und das Odfeld sind zum einen Naturräume, an denen sich die Zerstörungskraft der Kultur respektive Geschichte ablesen lässt, zum anderen schaffen sie einen überzeitlichen Erinnerungsraum und verweisen als Symbole auf die beschränkte Reichweite von militärischer und gesellschaftlicher Gewalt. Hamann konstatiert bei Raabe allerdings eine radikale Kulturkritik, die sich selbst nicht ausnimmt, während bei Hettche die ambivalente Figur der Zwergin und das Erzählen selbst der (Kultur-)Kritik zu trotzen scheinen.

Die Wahl von Raabes Odfeld und Pfisters Mühle für den Vergleich der beiden Autoren zeigt, dass sich Hettches Pfaueninsel insbesondere mit Raabes späteren Werken vergleichen lässt. Dies korrespondiert auch mit Hettches Fokus auf Umbrüche, Krisen und Katastrophen in seiner Preisrede, die seinen neuesten Roman und das (spät-)realistische Erzählen gegen Ende des 19. Jahrhunderts dominieren. So verewigt und preist die besprochene Publikation nicht nur Hettches Erzählen, sondern unterstreicht auch das Potenzial des (inner-)literarischen Dialogs gerade in Zeiten des Umbruchs.

Titelbild

Hubert Winkels (Hg.): Thomas Hettche trifft Wilhelm Raabe. Der Wilhelm Raabe-Literaturpreis und seine Folgen.
Wallstein Verlag, Göttingen, Niedersachs 2015.
91 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783835317529

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