Verrückt sind immer die Anderen

In seinem letzten Roman „In Andrews Kopf“ zeigt der große E.L. Doctorow noch einmal seinen klugen, hintergründigen Humor

Von Sabrina WagnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabrina Wagner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Liest man einen Roman anders, wenn man weiß, dass es der letzte seines Autors ist? Wohl sucht man besonders das Typische und die Essenz eines Gesamtwerkes. Doch überfrachtet man so nicht diesen Roman, von dem sein Autor womöglich nicht ahnte, es würde sein letzter sein, mit unerfüllbaren Erwartungen? Vielleicht. Aber vielleicht schenkt man ihm im Angesicht der Endlichkeit auch einfach die gebührende Aufmerksamkeit.

E.L. Doctorows zwölfter Roman mit dem Titel „In Andrews Kopf“ („Andrew’s Brain“) ist der letzte Roman eines der bedeutendsten amerikanischen Autoren der letzten Jahrzehnte. Doctorow ist im letzten Juli mit 84 Jahren gestorben. Ausgezeichnet wurde der Autor mit nahezu allen wichtigen Literaturpreisen, darunter der Pulitzer-Preis und der PEN/Saul Bellow Award für sein Lebenswerk. Als Sohn russisch-jüdischer Emigranten wurde Edgar Lawrence 1931 geboren. Aufgewachsen in der New Yorker Bronx, war er zeitlebens ein so patriotischer wie kritischer Beobachter seines Heimatlandes – nicht nur in seinen Romanen, sondern auch in seinen unzähligen Stories, Essays und Filmskripts. Seinen literarischen Durchbruch feierte er 1975 mit dem Anfang des 20. Jahrhunderts angesiedelten Roman „Ragtime“. Doctorow verwebt darin historische Fakten und Figuren mit fiktionalen Elementen zu einem fesselnden, lebendigen Panorama der US-amerikanischen Gesellschaft im New York der Prohibitionszeit.

Auch in diesem letzten, mit 200 Seiten recht schmalen Roman verknüpft Doctorow noch einmal reale (amerikanische) Zeitgeschichte mit fiktionalen Geschichten und Figuren. Im Mittelpunkt steht ein renommierter Professor der Kognitionswissenschaften namens Andrew: ein Existenzialist mit „nihilistischer Verzweiflung“, ein „abnorm depressiver neurowissenschaftlicher Tollpatsch“ mit Hang zu „ritueller Selbstverunglimpfung“ – so jedenfalls dessen Selbstbild. Eines Tages findet sich Andrew in scheinbar endlosen Gesprächen mit einem Psychiater wieder. Seine Befürchtung: Er ist verrückt geworden. Ausgerechnet er, der wissen sollte, wie der Verstand funktioniert, scheint die Kontrolle über eben diesen verloren zu haben. Was ist passiert?

Andrews erste Ehe mit Martha scheitert, nachdem sie ihr gemeinsames Kind verlieren. Andrew gibt sich die Schuld am Tod, war er es doch, der dem kranken Baby die falsche Medizin verabreichte. Nach diesem tragischen Unglück nimmt er einen Lehrauftrag an einem kleinen, unbekannten und möglichst weit von Martha entfernten College an. Dort begegnet er der viel jüngeren Studentin Briony. Mit einem Mal scheint sich für ihn alles zum Guten zu wenden. Die beiden verlieben sich, heiraten und bekommen ein Kind. Andrew findet „Erlösung in den liebevollen Aufmerksamkeiten dieses Mädchens“ und eine „reine, unkomplizierte Liebe“. Später wird er gegenüber seinem Therapeuten feststellen: „Für einen Menschen mit angeborener Unfähigkeit zum Glücklichsein war ich mit Briony glücklich.“ Doch dann stirbt Briony. Von ihrer morgendlichen Joggingtour kehrt sie nie zurück. Vermutlich wurde sie unter den Trümmern des World Trade Centers begraben, dessen Türme nach dem Anschlag an diesem Septembermorgen 2001 einstürzten. Auch an ihrem Tod fühlt sich Andrew schuldig. Als alleinerziehender Witwer überfordert, bringt er ihre gemeinsame Tochter Willa schließlich zu seiner Ex-Frau Martha und deren „riesigem Ehemann“ – ein Kreis schließt sich.

Von all dem erfährt der Leser aus Andrews Gesprächen mit seinem Psychiater. Die kammerspielartige Szenerie der Therapiesitzungen fungiert vor allem als Versuchsanordnung. Über den Psychiater erfährt man im Roman kaum etwas, er existiert lediglich in Form seiner Fragen, die Andrews Berichten ihre Struktur geben, Ort und Zeit des Gespräches bleiben unbestimmt und auch der Wahrheitsgehalt von Andrews Erzählungen bleibt ungewiss: Was ist tatsächlich geschehen und was vielmehr auf die Fantasie seines unberechenbaren Verstandes zurückzuführen? Doch wer sollte diese Frage beantworten? Der Neurowissenschaftler selbst vertraut seinem Gehirn ohnehin nicht: „Die Arbeit des Gehirns besteht darin, etwas vorzutäuschen. Das ist seine Funktion. Das Gehirn kann sogar vortäuschen, nicht es selbst zu sein.“ Wer mag da widersprechen?

Vielleicht sind es solche Momente des Wiedererkennens und Zweifelns beim Leser, die dafür sorgen, dass man Andrew, diesen nicht unbedingt sympathischen Kauz, doch irgendwie mag. Man fühlt und leidet mit diesem verzweifelten Zyniker, der einerseits an seinen Schuldgefühlen zerbricht, andererseits daran verzweifelt, einer altbekannten Aporie nicht zu entkommen: „Wie kann ich über mein Gehirn nachdenken, wenn dieses Nachdenken mit meinem Gehirn geschieht? Gibt dieses Gehirn also vor, es wäre ich und würde über es nachdenken?“

Doctorow hat das Schreiben einmal als einen schizophrenen Akt bezeichnet. Sinnbildlicher als in der Figur Andrews und der Anlage dieses Romans könnte das seinen Ausdruck kaum finden. Wie schon in früheren Romanen setzt der Autor auch hier auf einen – nahezu prototypischen – unzuverlässigen Erzähler. Bereits der erste Satz macht deutlich, worauf sich der Leser einlässt: „Ich kann Ihnen von meinem Freund Andrew erzählen, dem Kognitionswissenschaftler.“ Wer ist Ich? Wer ist Ihnen? Wer spricht hier? Der Leser wird diese Fragen bis zum Schluss nicht zuverlässig beantworten können.

Neben den Gedanken- und Formexperimenten ist „In Andrews Kopf“ vor allem ein kritischer Gegenwartskommentar – weniger vordergründig als in manch früheren Romanen, aber nicht weniger eindeutig. Vor allem die Episode über den namentlich nicht genannten, doch klar zu identifizierenden George W. Bush ist eine verspielte Politsatire in typischer Doctorow-Manier. Noch einmal zeigt sich hier dessen so wunderbarer, kluger und hintergründiger Humor. Seinem Psychiater erzählt Andrew, den Präsidenten aus Studienzeiten zu kennen. Sie beide hätten sich in Yale sogar ein Zimmer geteilt. Kurz nach den New Yorker Anschlägen treffen sich Andrew und George durch einen Zufall wieder. Die gemeinsame Vergangenheit veranlasst den Mächtigen, dem alten Bekannten eine Anstellung im Weißen Haus zu besorgen – wohl weniger aus alter Verbundenheit, als mit dem Ziel, den Studienkollegen zum Schweigen über die gemeinsame Vergangenheit zu verpflichten. Doch was tut Andrew? Er gibt den Präsidenten und seinen gesamten Machtapparat der Lächerlichkeit preis. Intelligenz, so die Lehre, ist keine notwendige Voraussetzung für den Aufstieg zur Macht. Am Ende kumuliert die entblößende Kritik in einem „Akt göttlichen Wahnsinns“, wie es Andrew nennt: Ein Handstand im Oval Office, diesem Epizentrum der Macht, vor den Augen des US-Präsidenten und seinen Beratern. Dieser Narrenakt ist Andrews persönlicher Triumph über die Macht.

Ob dieses Zusammentreffen tatsächlich stattgefunden hat – wer weiß das schon? Aber das ist auch nicht wichtig. Fest steht: Dieser Akt des Ungehorsams, der die Machtverhältnisse im wahrsten Sinne auf den Kopf stellt, ist ein herrlich absurdes wie tröstendes Bild, um an den großen amerikanischen Autor Edgar Lawrence Doctorow zu erinnern.

Titelbild

E. L. Doctorow: In Andrews Kopf. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikansichen von Gertraude Krueger.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015.
208 Seiten, 18,99 EUR.
ISBN-13: 9783462048124

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