Kunststück!

Der sechste Band von Gerhard Henschels Martin Schlosser-Saga

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit mehr als zehn Jahren schreibt der 1962 geborene Gerhard Henschel an einem autobiographischen Romanzyklus, der auf keinen eigenen Namen hört. Wiedererkennbar sind die Bände, weil sie einen wiederkehrenden Helden haben, das fiktionalisierte Alter Ego Martin Schlosser, und weil sie mit Titeln aufwarten, die man sonst als Gattungsbezeichnungen verwendet. Kindheitsroman, Jugendroman, Liebesroman, Abenteuerroman und Bildungsroman hießen die bisherigen Bände, nun kommt der Künstlerroman hinzu. Das legt den hohen Anspruch nahe, dass er Musterexemplare der jeweiligen Gattungen schreiben will, sozusagen den Künstlerroman to end all Künstlerromane.

Das ist ironisch gemeint. Denn im Erzählverfahren unterscheiden sich die Bände nicht voneinander. Sie operieren mit dem gleichen Verfahren, das kleine und kleinste Alltagssplitter aneinanderreiht. Das ist an Arno Schmidts „musivischem“ Erzählen der 1950er-Jahre geschult, wo das Leben „kein Kontinuum“ ist, sondern in Hunderte von Einzelbildern zerlegt wird. Damit wird der Vorgang nachgeahmt, in dem man sich an das Vergangene erinnert, nicht in einem gleichmäßigen Strom, sondern als „Tablett voll glitzernder Snapshots“, wie Schmidt das im Roman Aus dem Leben eines Fauns (1953) nannte. Noch wichtiger als Vorbild ist die Deutsche Chronik Walter Kempowskis, der seit dem Bildungsroman auch zu Henschels Romanpersonal gehört. Henschel hatte seit den 1980er-Jahren an Literaturseminaren und Jugendfreizeiten in dessen Haus in Nartum teilgenommen, die er jetzt auch Martin Schlosser erleben lässt. Mit Schmidt und Kempowski hat Henschel auch gemein, dass er vordergründig einem vergangenen Alltag zu neuer Gegenwart verhilft. Man kann ihre Romane identifikatorisch lesen, wie Wimmelbilder, in denen man vertraute Gegenstände und Personen wiederfindet, von den Sommerhits der mittleren Achtziger bis zu den Kohlelöfen in Berliner Studentenbuden. Die Zeitgeschichte läuft als Spur im Hintergrund mit. Im Künstlerroman reicht sie vom Flick-Skandal bis zur Barschel-Affäre. Sie berührt Schlossers Alltag nicht fundamental, sie färbt ihn aber unverwechselbar ein. Dabei erreicht sie zwar nicht die abgründige Präsenz des Nationalsozialismus in den besten Momenten von Tadellöser & Wollf, was aber auch daran liegen mag, dass Helmut Kohl sich schlecht zum Dämon weltgeschichtlichen Ausmaßes eignet.

Apropos Barschel, Flick und Kohl: Im Künstlerroman sind es die Jahre 1985 bis 1988, die Henschel Revue passieren lässt. Die auseinanderfallende Ehe von Schlossers Eltern, die seit mehr als einem Jahrzehnt im verschnarchten Emsland leben, die komplizierte „offene“ Beziehung mit seiner Freundin Andrea, die mit anderen Männern schläft, ihm aber nicht dieselbe Freiheit zugestehen will, das sind die wichtigsten Koordinaten in Schlossers Privatleben. Am Ende des Bildungsromans schickt er sich an, sein Germanistikstudium von Berlin nach Köln zu verlagern, um bei Andrea in Aachen leben zu können. Im neuen Band gibt er kurz vor dem Abschluss auf, um nach Oldenburg zu ziehen und sich dort seinem eigentlichen Ziel zuzuwenden, nämlich Schriftsteller zu werden. Einstweilen sind die Texte, die Schlosser produziert, noch fragwürdig, aber man ahnt, dass er sein Ziel erreichen wird.

Nebenbei bekommt man Anschauungsunterricht im damaligen Mediengebrauch: Hier schreibt man Briefe, auf die man tagelang warten muss (während diese Rezension Sekunden nach dem Versenden bei der Redaktion in Marburg landen wird). Ferngespräche sind eine Seltenheit und werden nur getätigt, wenn es unbedingt nötig ist, denn sie sind teuer.

Wie schon in den vergangenen Bänden entfaltet Henschels Erzählen einen ganz eigenen Groove; aus vielen kleinen Partikeln, in denen vordergründig nichts geschieht, entsteht ein faszinierendes Mosaik einer vergangenen Ära, eine Art fast-historischer Roman. Henschel hat das serielle Erzählen gewiss nicht erfunden, aber er hat einen eigenen Sound auf diesem Feld gefunden. Lässt man sich auf diese Art des Erzählens ein, kann man für einige Tage eintauchen – und wartet danach gespannt auf Band Nummer sieben.

Hinweis der Redaktion: Der Beitrag ist seit dem 9.2.2016 auch bei Literatur Radio Bayern zu hören.

Titelbild

Gerhard Henschel: Künstlerroman.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2015.
573 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783455404982

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch