Literaturgeschichte für Zeitgenossen

Jan Philipp Reemtsmas gesammelte Beiträge über die erklärungsbedürftige Moderne

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anekdoten haben die unerschütterliche Eigenschaft, sich schwer widerlegen zu lassen. Außer man erzählt sie gegen den Strich. So kursiert über Jan Philipp Reemtsma das Gerücht, er habe Arno Schmidt einmal einen Umschlag mit Geld über den Gartenzaun geworfen. Reemtsma ist Literaturwissenschaftler und Mäzen, er hat das Hamburger Institut für Sozialforschung sowie die Arno Schmidt Stiftung aus der Taufe gehoben. Arno Schmidt gilt als unnahbarer, kauziger Autor. So weit, so wahr. Zum anekdotischen Rest hat Reemtsma eine „Mögliche Anekdote“ geschrieben. Ein junger Mann, reicher Erbe, wirft einem verehrten Dichter einen Beutel Dukaten über den Zaun, aber „er hat nichts mehr gehört und gesehen, nicht vom Dichter, nicht von den Dukaten. Daher man wohl sagt: sein Geld übern Zaun werfen“.

Dass Jan Philipp elegant und gewitzt erzählen kann, belegen eindrucksvoll seine Aufsätze und Reden, die in drei stattlichen Bänden gesammelt vorliegen. Im Mittelpunkt stehen eindeutig die von Reemtsma besonders geschätzten Autoren, Wieland und eben Arno Schmidt, vernachlässigte Figuren der Literaturgeschichte mit kantigem Profil und unverminderter Aktualität, denen Reemtsma auch mit der eigenen editorischen Tätigkeit zu neuer Wirkung verholfen hat.

Der eigentliche Reiz der Lektüre von Reemtsmas Schriften liegt – und hier muss man den eigenwilligen Stil mitbedenken, der dem Publikum zugewandt ist und doch immer das nötige Abstraktionsniveau wahrt – in ihren methodischen und ideellen Voraussetzungen. Die zentralen Fragen (in eigenen Beiträgen behandelt) lauten: Wie redet man über Literatur, und warum überhaupt reden wir über Literatur, und nicht über Weltklimaprobleme oder Religionsterrorismus? Reemtsmas Position ist die einer optimistischen, aber katastrophenbewussten Literaturanthropologie. Reden über Literatur ist Reden über sich selbst und Lesen des Anderen. Sie stiftet „Gemeinsamkeit im Vergnügen“ – ein schönes Wort. Damit fällt der Autor aber nicht in ein klassizistisches Literaturverständnis zurück. Zwar hält er daran fest, dass das Sprechen über Kunstschönheit vor Geschmacksverirrung bewahrt. Aber die Schönheit der Kunst ist eine, die durch die „Antwortlosigkeiten […] todbringender Rede“ (Celan) hindurchgehen musste. Deshalb ist für Reemtsma die Moderne mit ihren Katastrophenerfahrungen von Krieg und Holocaust stets erklärungsbedürftig und zugleich kunstfähig, weil Autoren und Leser geeint werden können durch das „Vertrauen auf Gewaltunterlassung“.

Man kann diesen Ansatz des Gewaltforschers Reemtsma in den feinsinnig interpretierenden Beiträgen über weltliterarische Gewaltepisoden verfolgen, bei Homer (das Gemetzel, das der heimgekehrte Odysseus unter den fremden Freiern und den Mägden in seinem Schloss anrichtet), im Nibelungenlied (Hagen erschlägt ein Kind im Sinne von Kriemhilds Kalkül), bei Shakespeare (über das „gewaltempfindliche Gewissen“ im Macbeth), auch bei Büchner und bei Kleist. Dabei kommen manchmal unorthodoxe, immer aber plausible Einsichten über die Eigenschaften ‚guter‘, also lesenswürdiger Literatur zustande. Wiederum: das Reden über Literatur als Bewegung in einem Medium, das ein Kollektiv benutzt, um über sich selbst nachzudenken. Also nicht Idolatrie, sondern Dienst am Leser. Das ist Jan Philipp Reemtsmas schätzenswertes Ansinnen. Germanisten und Literaturliebhaber können nur mit Gewinn zu diesen Schriften greifen. Das Geld dafür ist nicht übern Zaun geworfen.

Titelbild

Jan Philipp Reemtsma: Schriften zur Literatur.
3 Bände.
Verlag C.H.Beck, München 2015.
1200 Seiten, 98,00 EUR.
ISBN-13: 9783406683305

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