Riesig und belebt

Anke Kuhls erster Kindercomic „Lehmriese lebt!“

Von Marc KudlowskiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marc Kudlowski

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lehmböden sind gekennzeichnet durch ein ausgewogenes Dreikorngemenge und eine hohe Feinsubstanz. Anke Kuhls Lehmriese lebt! ist ein Kindercomic, der mit einem Protagonisten aus genau diesem Material der doch eher nährstoffarmen kinderliterarischen Sparte einen Beitrag mit ausgewogener Körnung und viel Gehalt hinzufügt.

Anke Kuhl zeichnet und textet in der Ateliergemeinschaft LABOR in Frankfurt. Genau wie diese Stadt gründet sich auch ihr neuestes Kinderbuch auf Lehm. Dass dieses Naturmaterial in seinen zahlreichen Subtexturen eine hervorragende Baugrundlage darstellt, beweisen nicht nur die Frankfurter Wolkenkratzer. Auch Lehmriese – der Protagonist aus Kuhls neuestem Bild-Text-/ Text-Bild-Gemenge – wird aus diesem Material modelliert. An einem recht schlicht anmutenden Ort „am Fluss“ sind es zwei spielende Kinder, Olli und Ulla, die den Lehmriesen sorgsam aus fettigem Lehm gestalten. Das unerwartet Besondere an ihrer Schöpfung ist, dass der Riese in der darauffolgenden Nacht tatsächlich zum Leben erwacht!

Wie ein freundlicher Spielkamerad sieht er aus, der sich reckende und streckende Lehmriese: Ein Kopf, der an ein Vanillekipferl erinnert, schwebt über dem Körper und über einer gurkenförmigen Nase blicken runde Kulleraugen voller Erstaunen in die Welt, die es für ihn nun zu erkunden gilt. Mit seinem überproportionierten Gürtel und den im Vergleich zum Torso viel zu kurzen Beinstümpfen könnte er ein entfernter Verwandter des Weihnachtsmanns sein.

Die Belebung des Lehmriesen bedient das in der Kinderliteratur gebräuchliche Verfahren der Anthropomorphisierung von Tieren und Gegenständen. Diese Menschwerdung geht häufig mit Komik, Karikatur und Niedlichkeit einher, was uns LeserInnen solch erheiternde Figuren wie ‚Negro Kaballo‘, den ‚Gurkenkönig‘ oder nun auch den ‚Lehmriesen‘ beschert hat.

Just zum Leben erwacht, macht der Held der Erzählung sich auf eine Reise mit unbestimmtem Ziel. Die erste Station führt ihn dabei in den Stumpwald, wo ihn der pedantisch vertikutierende Förster als einen Arbeitssuchenden ausmacht und sogleich zum Unkrautzupfen anheuert. Zu dumm nur, dass der Lehmriese trotz försterlicher Einweisung ausgerechnet die wertvollen Douglasien ausrupft. Vom Arbeitgeber wieder verstoßen, führt ihn die weitere Reise ans Stadttor, an dem es zum Wiedersehen mit Olli und Ulla kommt. Völlig verblüfft vom Anblick des belebten Riesen ergreifen die Kinder zunächst die Flucht. Kurz darauf besinnen sich die beiden jedoch auf ihre Verantwortung und beobachten fortan die Stadterkundungen des Lehmriesen, die ihn nun vom Stadttor, über den Friseursalon bis hin zum Supermarkt führen. Bei jeder dieser drei Stationen trifft der Lehmriese auf menschenähnliche Tiergestalten. Es begegnen ihm u.a. die Eiskuh, der Grashüpferfrisör und der Einhornmann. Trotz der gemeinsamen menschenähnlichen Erscheinung kommt es auch hier recht schnell zum Zwist zwischen dem Lehmriesen und den Einheimischen.

Die vielfältigen Erfahrungen mit unterschiedlichsten Figuren bedingen für den Lehmriesen zahlreiche Stimmungswechsel, die ausschließlich mimisch und gestisch akzentuiert werden. Der Lehmriese spricht nicht. Und auch Onomatopoetika, die als comictypische Stilmittel erwartbar wären, werden nur sparsam eingesetzt. Damit sind die kolorierten Bleistiftzeichnungen von Lehmriese lebt! konsequent anschlussfähig an Kuhls bisherige Linie als Illustratorin von Kinder- und (Sach-) Bilderbüchern. Denn auch hier werden die überproportional großen Augen als zentrales Charakteristikum für die Emotionen der Figuren eingesetzt. Damit bleibt Kuhl ihrem Stil treu, ohne sich jedoch den besonderen gestalterischen Möglichkeiten des Comicformats zu verschließen.

Kuhls Linie ist generell dem sogenannten „Einfachen in der Kinderliteratur“ (Lypp 1995) zuzuordnen. Strukturelle Einfachheit als Gestaltungsprinzip ästhetisch anspruchsvoller Kinderliteratur geht jedoch keineswegs mit Unterkomplexität oder gar Trivialität einher. Das beweist Lehmriese lebt! aufs Eindrücklichste. Die Verbindung von Einfachheit und Komplexität in Lehmriese lebt! prägt nicht – wie aufgrund des Buchumschlags zu vermuten sein könnte – auf der Bildebene stereotype Niedlichkeit und auf der Textebene gespreizte rhetorische Stilfiguren. Es sind vielmehr die bilderbuchartig gestalteten Räume und Figuren, die ein genussvolles – wenn nicht gar versunkenes – Leseerlebnis ermöglichen. Auf der Bildebene wird die Reise des Lehmriesen sogar farblich individuell akzentuiert: Während der Lehmriese zunächst fernab der Zivilisation „am Fluss“ erwacht, spiegelt die chronologische Reihung der geografischen Orte bzw. Topoi – von „im Stumpwald“ bis „im Supermarkt“ – die Annäherung des Lehmriesen an die Stadt wider. In dieser Stadt lebt eine zutiefst heterogene Gesellschaft aus skurril-schusseligen Figuren wie dem aggressiv-abwertenden Förster oder dem empathisch-ermutigenden Frisör. Warum der Lehmriese sich der Stadt und seiner Bewohner überhaupt nähert, bleibt allerdings eine offene Frage.

In einer möglichen Lesart lässt sich aus Lehmriese lebt! eine Kritik an der Verkennung des Individuums durch die Gesellschaft ableiten. Denn trotz divergierender Persönlichkeitsmerkmale eint die mehr oder weniger anthropomorphisiert dargestellten Figuren – wie den Grashüpferfrisör oder den Förster – die Ingebrauchnahme des Lehmriesen als Hilfsobjekt. Mit der Verkennung seiner Einzigartigkeit als Individuum und seiner wiederholten Gängelung steigt der Frustrationsgrad des Lehmriesen proportional zum Näherrücken an den Kern der Stadt, und damit an die urbane Gesellschaft. Fast unumgänglich scheint daher der Rückzug des Lehmriesen auf das Rathausdach in der bockigen Haltung eines Kindes zu sein. In diesem äußeren und gleichbedeutend inneren Rückzug versucht sich der Lehmriese der Gesellschaft wieder zu entziehen. Es ist geradezu alternativlos, dass allein Olli und Ulla als Schöpfer UND Kinder die Perspektive des Lehmriesen nachvollziehen können. Diese Art der Darstellung fordert die adressierte Leserschaft unweigerlich ebenfalls zur Perspektivübernahme heraus.

Es ist zu wünschen, dass diese Perspektive einem möglichst großen Publikum zugänglich wird. Denn die dem Lehmriesen inhärente Feinsubstanz des Baumaterials „Lehm“ wird die Sparte des Kindercomics nachhaltig beleben.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Anke Kuhl: Lehmriese lebt!
Reprodukt Verlag, Berlin 2015.
96 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783956400377

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