Kindheit zwischen Opfern und Tätern

Über Autobiographien der Jahrgänge 1927/28 und Martin Walsers Roman „Ein springender Brunnen“ als Antwort auf jüdische Überlebensberichte

Von Barbara Mahlmann-BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Barbara Mahlmann-Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwischen Martin Walser, dem Gastwirtsohn aus Wasserburg am Bodensee, der seine Heimat und den Dialekt liebt, keine Probleme mit seiner Identität als Deutscher hat, und Ignatz Bubis, dessen Eltern in Treblinka ermordet wurden, scheinen Welten zu liegen. Dies war der Eindruck, den noch das Versöhnungsgespräch vermittelte, das Frank Schirrmacher am 12. Dezember 1998 in den Redaktionsräumen der FAZ arrangiert hat. Bubis versuchte Walser nahezubringen, weshalb ihn dessen Erklärung beunruhigt habe, etwas in ihm [Walser] wehre sich gegen die „Dauerpräsentation unserer Schande“, wenn ihm täglich in den Medien die grauenhaften Auschwitzbilder vorgehalten würden, denn die Deutschen seien „jetzt ein normales Volk“.(1) Da zu befürchten sei, daß Walser als intellektueller Meinungsführer dafür Beifall von all denen bekommen würde, die schon längst einen Schlußstrich unter die unselige deutsche Vergangenheit ziehen wollten, denunzierte ihn Bubis als „geistigen Brandstifter“. Martin Walser verteidigte sein Recht auf seinen „persönlichen Sprachgebrauch“, die „Sprache der Literatur“ und die Stimme des Gewissens. Er wolle sich nicht seinen Sprachgebrauch durch den Raum vorschreiben lassen, in dem er spreche.(2) Indem er öffentlich sagte, wie er die Mediendarstellung von Auschwitz empfinde, habe er den Anstoß gegeben zu einer wichtigen Debatte über den Zusammenhang zwischen Auschwitz als Sinnbild schuldhafter Verstrickung der Deutschen und der gegenwärtigen politischen und sozialen Lage im wiedervereinigten Deutschland. Gerade weil dieser Zusammenhang in den Medien routinemäßig beschworen werde, nähmen einige Anstoß daran, daß Auschwitz in Walsers jüngstem Roman „Ein springender Brunnen“ nicht vorkomme.

Schon früher hielt es Walser für problematisch, die im Frankfurter Auschwitz-Prozeß Angeklagten lediglich als monströse Einzeltäter zu verteufeln, so daß der Zuschauer sich guten Gewissens von ihnen distanzieren könne.(3)

„Wir klammern uns an die subjektiven Brutalitäten. Die ziehen uns an und stoßen uns ab. Wir lassen uns anziehen und abstoßen. Wir isolieren die Brutalitäten, die Ursachen langweilen uns. Die gesicherte Distanz zu den ‚Teufeln‘ und ‚Bestien‘ erlaubt uns, die gleißenden Zitate als Futter für unser eigenes, geheim gehaltenes Asoziales zu konsumieren.“(4)

In einem Essay mit dem Titel „Auschwitz und kein Ende“ wandte sich Walser 1979 gegen „offizielle Aktivitäten“, die dem Einzelnen als Gesellschaftsmitglied die „Bewältigung“ der Mitschuld an Auschwitz erleichtern sollten. Da würden Auschwitzbilder zur bequemen moralischen Entlastung instrumentalisiert. Anstatt sich auf eine „gewaltige Erziehungs- und Kulturmaschinerie“ zu verlassen, „die gutes Gewissen erzeugt bis in die Hand des Todesurteils-Richters hinein“, appellierte er an die individuelle „Zurechnungsfähigkeit“.(5) Die sei bei Deutschen freilich je nach Alter und Erziehungsumständen verschieden. Mit Blick auf seine Kindheit in Wasserburg, in der Juden nicht vorkamen, geschweige denn, die Deportationszüge in die Lager, bekannte Walser schon 1965: „Ich verspüre meinen Anteil an Auschwitz nicht, das ist ganz sicher. Also dort, wo das Schamgefühl sich regen, wo Gewissen sich melden müßte, bin ich nicht betroffen.“(6) Seine Empfindlichkeit gegenüber den Moralaposteln, die Auschwitzbilder als „Moralkeule“ zur Einschüchterung der Deutschen einsetzten, hängt damit zusammen, daß er ausgerechnet 1927 geboren wurde, nicht aber vor 1920 oder nach 1945.

„Ich habe ein gestörtes Verhältnis zur Realität. Das muß ich zugeben. Insofern ist, was ich zu sagen habe, leicht abzuwehren. Ich würde gern beweisen, wenigstens behaupten, daß mein gestörtes Verhältnis zur Realität etwas damit zu tun habe, daß ich Deutscher bin und 1927 geboren worden bin. Ich glaube nicht, daß man als Deutscher meines Jahrgangs ein ungestörtes Verhältnis zur Realität haben kann. Unsere nationale Realität selbst ist gestört.“(7)

Über die individuelle „Zurechnungsfähigkeit“ eines Wasserburger Gastwirtsohnes hat sich Walser in seinem jüngsten Roman „Ein springender Brunnen“ Gedanken gemacht. Die dreiteilige Kindheitsgeschichte von Johann, der sich weder für Nazi-Ziele vereinnahmen noch durch Nazi-Parolen blenden ließ, führt den Lesern parabelhaft vor, daß dieser Jahrgang zwar gefährdet gewesen sei, aber ihm dennoch das Nichtwissen von der Existenz der Vernichtungslager nicht angelastet werden dürfe. Der Autor betont jedoch ausdrücklich, daß ihm nichts ferner liege, als eine Kindheitsgeschichte zu erzählen, nur um mit ihr sein gegenwärtiges Denken zu entschuldigen. Daher wählte er einen Protagonisten namens Johann und schildert aus dessen Innenperspektive, jedoch in der dritten Person, wie er in Wasserburg während der NS-Zeit herangewachsen ist. Denn über die eigene Vergangenheit könne keiner souverän verfügen. Man rekonstruiere sie nur aus großem Abstand und mit Rücksicht auf die jeweiligen Anforderungen der Gegenwart. Abgeschlossen und unzugänglich wie in einem Traum erscheint dem 1927 Geborenen eine Kindheit, in der persönliche Erinnerungen so wenig mit dem übereinstimmen, was inzwischen im kollektiven Gedächtnis der Deutschen verankert ist.(8)

„Vergangenheit ist in der Gegenwart auf eine Weise enthalten, daß sie nicht aus ihr gewonnen werden kann, wie man einen Stoff, der in einem anderen Stoff enthalten ist, durch ein kluges Verfahren herausziehen kann, und man hätte ihn dann als solchen. Die Vergangenheit als solche gibt es nicht. Es gibt sie nur als etwas, das in der Gegenwart enthalten ist. […] Die, die sich am sehnsüchtigsten um die Vergangenheit bemühen, sind am meisten in Gefahr, das, was sie selber hervorgebracht haben, für das zu halten, was sie gesucht haben. […] Die Vergangenheit mag es nicht, wenn ich ihrer habhaft werden will. Je direkter ich mich ihr nähere, desto deutlicher begegne ich statt der Vergangenheit dem Motiv, das mich gerade jetzt heißt, die Vergangenheit aufzusuchen. Öfter ist es ein Mangel an Rechtfertigung, der einen ins Vergangene weist. Man sucht Gründe, die es rechtfertigen könnten, daß man ist, wie man ist. Manche haben gelernt, ihre Vergangenheit abzulehnen. Sie entwickeln eine Vergangenheit, die jetzt als günstiger gilt. Das tun sie um der Gegenwart willen.“(9)

Mindestens zehn Jahre lang hat sich Walser überlegt, in welcher Form die Besonderheit der kindlichen Wahrnehmung – die Unzugänglichkeit der Kindheitserinnerungen im Lichte späterer Aufklärung – am adäquatesten darzustellen wäre.(10) Die traditionelle Form des Ich-Berichtes schied für ihn aus, würde sie doch nahelegen, daß er, der Erzähler, über seine Kindheit schreibe, um sich zu rechtfertigen, um zu erklären, wieso aus einem Gastwirtjungen ein linker Schriftsteller wurde, der gegen den Vietnamkrieg protestierte, sich aber nicht mit der deutschen Teilung als Sühne für die Hybris der Nazis und ihrer Mitläufer abfinden wollte.

„Es empfiehlt sich, vorübergehend in der dritten Person zu bleiben. Eben weil Weitergehendes in der ersten Person leicht unglaubwürdig wirkt. Also: Einer kann die Meinungen, die er öffentlich geäußert hat, nicht zurücknehmen, aber er kann sie auch nicht mehr so vortragen wie etwa zehn Jahre vorher. Seine Meinungen und er sind einander ein bißchen fremder geworden.“(11)

Wie seine Altersgenossen in Deutschland stand Walser vor dem Problem, seine Erinnerungen an eine Kindheit, die nur am Rande von den politischen Veränderungen bedroht war, in Einklang zu bringen mit dem, was seitdem über den Gang der Weltgeschichte hinlänglich bekannt ist. Individuelles und kollektives Gedächtnis klaffen auseinander, weil das Kind keine Ahnung von den Bedingungen der Möglichkeit der NS-Machtergreifung hatte. Erst 1944 erfuhr sein Protagonist Johann beispielsweise, daß einige Neuhinzugezogene, denen er Kohlen auslieferte, Juden waren, die ihre Identität zu verbergen suchten.

„Es ist mir […] nicht möglich, meine Erinnerung mit Hilfe eines inzwischen erworbenen Wissens zu belehren. Die Erinnerung reicht zurück in eine Zeit, von der ich inzwischen weiß, daß sie furchtbar gewesen ist. […] Ein Sechs- bis Achtzehnjähriger, der Auschwitz nicht bemerkt hat. Kindheit und Jugend entfalten ihren unendlichen Hunger und Durst, und wenn Uniformen, Befehlshabergesichter und dergleichen angeboten werden, dann wird eben das alles verschlungen. […] Alles, was ich inzwischen erfahren habe, hat diese Bilder nicht verändert. […] Das erworbene Wissen über die mordende Diktatur ist eins, meine Erinnerung ist ein anderes. Allerdings nur so lange, als ich diese Erinnerung für mich behalte. Sobald ich jemanden daran teilhaben lassen möchte, merke ich, daß ich die Unschuld der Erinnerung nicht vermitteln kann.“(12)

Erika Mann hat 1940 im amerikanischen Exil in einer Reihe von Exempelgeschichten mit dem Titel „The Lights go down“ zu beweisen versucht, daß jeder Teenager und erst recht jeder Erwachsene im „Dritten Reich“ von den neuen Machthabern unbarmherzig vor die Entscheidung gestellt wurde, sich anzupassen, „mitzumachen“ und unter Druck anerzogene moralische Skrupel über Bord zu werfen oder aber das Risiko einzugehen, als Regimegegner verfolgt und eingesperrt zu werden.(13) Jeder müsse seine Entscheidung ethisch verantworten, sei also als Erwachsener im Sinne Walsers „zurechnungsfähig“.

Martin Walsers biographischer Roman über eine Wasserburger Kindheit hat viele strukturelle und argumentative Gemeinsamkeiten mit den Erinnerungsberichten jüdischer Altersgenossen, die den Nazi-Terror überlebt haben. Seine Parabel vom Wasserburger Gastwirtsohn, der dank einer natürlichen Veranlagung gegen die Nazi-Ideologie immun zu bleiben vermochte, kann als Antwort auf Erinnerungsbücher jüdischer Altersgenossen gelesen werden. Wenn ich sie hier untersuche, beabsichtige ich damit keinen Nachtrag zur Walser-Bubis-Debatte und erst recht keine Verteidigung der in der Paulskirchen-Sonntagsrede formulierten Geständnisse. Vielmehr möchte ich am Anfang auf eine Lücke in Philippe Lejeunes System der Demarkation zwischen Autobiographie und Roman aufmerksam machen und am Ende einige Vorschläge der sogenannten narrativen Psychologie zur Analyse von Lebensgeschichten zur Diskussion stellen. Als Lejeune seine inzwischen klassische Abhandlung schrieb, gab es zahlreiche Erinnerungsbücher der Katastrophenjahrgänge 1927-1929 noch nicht. Lejeune entwickelte ein Klassifikationssystem, das mit Hilfe der Kategorien „autobiographischer Pakt/Romanpakt“ und „Identität/Nicht-Identität des Protagonisten mit dem Autor“ die Abgrenzung zwischen Autobiographie und Roman erleichtern sollte. Mit Recht wies er darauf hin, daß in der Geschichte der Autobiographie in der Moderne just die Grenzfälle die interessantesten seien, bei denen entweder die Frage nach der Identität des Protagonisten mit dem Autor oder die nach einem expliziten Pakt mit dem Leser nicht eindeutig mit ja oder nein zu beantworten sei. So sei Prousts Epochenroman „À la recherche du temps perdu“ nicht eindeutig als Roman gekennzeichnet, denn der Protagonist werde mindestens an einer Stelle als „Marcel“ angeredet.(14) 1975 konnte sich Lejeune nicht vorstellen, daß einer sein Werk dem Leser als Autobiographie ankündigt, jedoch seinem Protagonisten einen anderen Namen gibt, oder daß einer sich selbst zum Helden eines als solchen deklarierten Romans machen würde.(15) Aber in den in den vergangenen Jahren erschienenen Erinnerungsbüchern Überlebender, die den Nazi-Terror als alltägliche Normalität erfuhren und als Kinder – im Unterschied zu ihren Eltern – keine Maßstäbe besaßen, um ihn moralisch zu disqualifizieren, sind Lejeunes kritische Grenzfälle durchaus vertreten: Georges-Arthur Goldschmidt deklariert seine Hamburger Kindheitsgeschichte, in der ein Junge namens Arthur vorkommt, dessen Lebensweg mit dem des Autors identisch ist, als „Erzählung“. Auch die eigene Überlebensgeschichte in einem Kinderheim und bei Bauern in den savoyischen Alpen wird als „Erzählung“ angekündigt und in der dritten Person erzählt.(16) Imre Kertész bezeichnete die Geschichte von György als „Roman eines Schicksallosen“, obwohl aus anderen Werken bekannt ist, daß sich Györgys Überlebensgeschichte mit der seines Autors deckt. Mit seinen Aufzeichnungen – besonders dem „Galeerentagebuch“ – schuf Kertész nach 1975 einen „autobiographischen Raum“, in dem für kundige Leser auch sein „Roman eines Schicksallosen“ als Schlüsselerzählung eines von den politischen Ereignissen der Okkupation überwältigten jüdischen Jungen in Budapest hineingehört.(17) Walser siedelt seine Erzählung einer Wasserburger Kindheit zwischen 1927 und 1945 ebenfalls in einem autobiographischen Raum an, den er in den Jahren davor in zahlreichen biographischen Interviews eröffnet und in seinen Romanen mit Figuren bevölkert hat, die er als Teile seines eigenen Ichs charakterisierte.(18)

Als „Ein springender Brunnen“ endlich im Juli 1998 herauskam, konnte er sicher sein, daß seine Leser den Protagonisten Johann mit dem, was sie über Martin Walser wußten, vergleichen würden.

Besonderheiten der Autobiographien Überlebender der Jahrgänge 1927-1944

Viele Überlebende des Holocaust, die als Kinder und Jugendliche dem Nazi-Terror im Versteck, Ghetto oder in den Lagern ausgesetzt waren, haben erst nach jahrzehntelangem Schweigen damit begonnen, ihre traumatischen Erfahrungen aufzuschreiben. Die Erinnerungsbücher, die von Zeitzeugen des Nationalsozialismus stammen, die zwischen 1927 und 1944 geboren wurden, unterscheiden sich nicht nur aufgrund der altersbedingten Wahrnehmungsweise, sondern auch in der Darstellungsweise und Erzählhaltung von den Erfahrungsberichten älterer Überlebender, die – wie Primo Levi, Jean Améry und Jorge Semprun – schon wenige Jahre nach ihrer Befreiung eine schriftstellerische Karriere begonnen haben. Bekanntlich beurteilte beispielsweise der 25jährige Primo Levi in „Se questo e un uomo“ seine Mithäftlinge in Auschwitz-Birkenau mit Hilfe der analytischen Kategorien, die er sich als promovierter Chemiker in seiner Laborausbildung erworben hatte: ob sich gewisse Elemente miteinander vertrugen, ob solche mit gegensätzlichen Eigenschaften miteinander Verbindungen und Vermischungen eingingen, hing von ihren Dispositionen und Affinitäten ab. Das KZ war ihm ein Labor, in dem Experimente ganz neuer Art – „der Kampf um das Überleben ohne Erbarmen“(19) – mit ungewissem Ausgang angestellt wurden. Dem geübten Beobachter Levi gelang es nach einigen Monaten, aufgrund der Verhaltensweisen seiner Mithäftlinge unter den Bedingungen, die „diesseits von Gut und Böse“ lagen, mit einiger Sicherheit Prognosen über ihre Widerstandsfähigkeit, ihren Überlebenswillen und ihr soziales Verhalten anzustellen.(20)

Schon der dreizehnjährige Hans Maier alias Jean Améry hatte sich 1935 dazu entschlossen, auf die Nürnberger Rassengesetze mit Akten des zivilen Ungehorsams und politischem Widerstand zu reagieren, da er ihre Konsequenzen – die Auslöschung der jüdischen Minorität im Reich – voraussah. Als er im Juli 1943 mit 21 von der Gestapo wegen antinazistischer Propaganda verhaftet wurde, glaubte er „vorauszusehen, was mir bevorstand“, denn als „Leser der ‚Neuen Weltbühne‘ und des ‚Neuen Tagebuchs‘ von einst“ fühlte er sich „als alter, abgebrühter Kenner des Systems, seiner Männer, seiner Methoden.“(21) Auch Jorge Semprún wußte, wo er ideologisch hingehörte und welche seine Aufgabe im kommunistischen Lagerkollektiv war, als er zwanzigjährig nach Buchenwald deportiert wurde und dort die Häftlingskartei verwalten mußte.(22) Wenn ein Kriterium für „Klassizität“, d.h. weltliterarischen Rang, eines Werks darin liegt, existentiell einschneidende Erfahrungen dergestalt in eine neuartige Sprache zu kleiden, daß sie sich in ihrer Singularität Lesern jeden Alters und jeder Nationalität einprägen, dürfen die Erinnerungsbücher von Levi, Améry und Semprun als klassisch gelten.

Gerhard Durlacher, Ruth Klüger, Cordelia Edvardson, Georges-Arthur Goldschmidt und Jakov Lind wurden 1927 bzw. 1928 geboren, Imre Kertész kam 1929 in Budapest zur Welt. Linds abenteuerliche Geschichte seines Untertauchens und Überlebens in Deutschland erschien 1969 in englischer Sprache.(23) Kertész brachte seinen „Roman eines Schicksallosen“ erstmals 1975 auf ungarisch heraus. Die Erinnerungsbücher der übrigen Altersgenossen erblickten erheblich später das Licht der Öffentlichkeit, Cordelia Edvardsons Überlebensbericht „Gebranntes Kind sucht das Feuer“ auf schwedisch 1985, der früheste Teil von Durlachers dreiteliger Autobiographie „Streifen am Himmel“ auf niederländisch 1985, der früheste Teil von Goldschmidts Kindheitserinnerungen „Ein Garten in Deutschland“ auf französisch 1986 und Ruth Klügers Bestseller „weiter leben“ 1992.(24)

Der Psychoanalytiker Hans Keilson hat die Überlebensgeschichten von mehr als 200 traumatisierten jüdischen Kindern und Jugendlichen aus den Niederlanden (Jahrgänge 1926 bis 1945) untersucht und in den Anamnesen den Kausalzusammenhang zwischen der altersbedingten Entwicklungsstufe, auf welcher der politische Terror erlebt wurde, der Stärke der psycho-physischen Betroffenheit und den Spätfolgen im Erwachsenenalter herausgearbeitet.(25) Der Austausch von Psychiatern, Therapeuten, Zeithistorikern und Sozialwissenschaftlern auf einem Symposion in Wien im November 1997 über die Spätfolgen des sogenannten „Holocaust-Syndroms“ und dessen transgenerationelle Auswirkungen zeigt, wie fruchtbar sich Keilsons Untersuchungsansatz für Studien traumatischer Belastungen und ihrer Folgen bei Personengruppen verschiedenen Alters erwiesen hat.(26) Keilsons Forschungsansatz, den Schweregrad der traumatischen Belastung in einer „followup-Untersuchung“ zu prüfen und Korrelationen herzustellen zwischen dem Alter des Patienten zum Zeitpunkt der traumatischen Ereignisse, dem Erinnerungsvermögen und den Spätfolgen, ist inzwischen auf andere Gruppen von Kriegs- und Verfolgungsopfern, aber auch auf die psychischen Probleme Angehöriger der „zweiten Generation“ – also der Kinder Überlebender der Shoah und Kinder der Nazi-Täter – ausgedehnt worden.(27) Mit dem Terminus „postraumatische Belastungsstörung“ bezeichnen seit etwa zehn Jahren Psychiater und Psychoanalytiker eben solche Krankheitsbilder, deren Umrisse Keilson erstmals anhand einer großen repräsentativen Fallgruppe – der jüdischen Kinder in niederländischen Verstecken – vermessen hat.(28) Demnach wissen wir, welchen Doppel- und Dreifachbelastungen Kinder und Jugendliche, die im Alter von 10-16 Jahren zwischen 1935 und 1945 diskriminiert und verfolgt wurden, ausgesetzt waren. Zu der altersbedingten „Ich-Schwäche mit dem gestörten Gleichgewicht zwischen Belastung und Tragfähigkeit, mit dem Gefühl der Unsicherheit und der Angst“, die Pubertierende in Normalzeiten schon labil und krisenanfällig machen, kam nach 1933 der Stress der äußeren Ächtung und Verfolgung dazu.(29) Der Präpuber Arthur Goldschmidt aus Hamburg entwickelte im Alter von 9-10 Jahren eine Abneigung gegen seine Mutter und erfuhr von seinem Stigma, ein Jude zu sein, zur gleichen Zeit, als sich sein Sexualtrieb zu entwickeln begann. Die pubertierende Susi Klüger, die sich selbst Ruth nannte, lehnte sich gegen die Autorität ihrer Mutter just in den Jahren nach dem „Anschluß“ auf, als die assimilierte Jüdin nach der Trennung von ihrem Mann infolge des Nazi-Terrors vor die Entscheidung gestellt wurde, sich um die Sicherheit der Familie zu kümmern, sich jedoch als unfähig erwies, die gemeinsame Emigration zu planen. Der adoleszente Jakov Lind war damit beschäftigt, sich in seine neue Rolle als Liebhaber einzuüben just in dem Jahr, als er um untertauchen zu können, seine Identität als österreichisches Emigrantenkind aufgeben und eine neue Rolle als patrtiotischer Holländer und „moffen“-Hasser einüben mußte. Die Eltern dieser Kinder waren damit überfordert, sie auf die Gefahren der Verfolgung und Vernichtung vorzubereiten, konnten sie es sich als assimilierte Juden doch nicht vorstellen, was die deutschen Okkupatoren der jüdischen Minderheit antun würden. Das Versagen der Eltern als Erzieher in einer Überlebenskrise verstärkte noch den entwicklungsbedingten Generationenkonflikt.

Jugendliche, die zum Zeitpunkt der Trennung von ihrer Familie in den Niederlanden 1942/43 13-18 Jahre alt waren, hatten einerseits bessere Überlebenschancen als jüngere, weil sie bereits früh gelernt hatten, unabhängig von ihren Eltern sich zu behaupten. Nicht selten führten Spannungen zuhause, die sich aus der Fehleinschätzung der politischen Lage von Seiten assimilierter jüdischer Eltern ergaben, zu größerer Eigenständigkeit der Heranwachsenden, da sie ihre Gefahr realistischer einschätzten. Tatsächlich waren diese Jugendlichen 1942-1945 schon reif genug, um die Demütigungen und Schmerzen zu ermessen, die ihren Eltern und Verwandten angetan wurden, und nach den historisch-politischen Gründen für den exterminatorischen Antisemitismus zu fragen. Diese Jugendlichen litten besonders darunter, daß ihnen die Möglichkeit, ihren Lerneifer zu befriedigen, vorenthalten wurde, und waren später unfähig dazu, eine ordentliche Ausbildung abzuschließen.(30) Entscheidend für die Identitätskrise dieser Altersgruppe war die Fähigkeit, traumatische Trennungsgefühle in ihrer Erinnerung zu speichern. Der Identitätskonflikt wurde „an Ort und Stelle ausgelöst durch das bewußte Erleben des Anfalls auf die Integrität der Familie und der kongenialen Gruppe.“(31) Keilson resümiert die Identitätsproblematik dieser Altersgruppe folgendermaßen:

„Als Person Angst und Spannungen ausgesetzt, als Kind seiner Eltern Zeuge von deren Ohnmacht und Erniedrigung, als Angehöriger einer geschmähten, verfolgten Minorität der in ihr wirkenden Panik unterworfen: dem mit diesen Erfahrungen und Erinnerungen Überlebenden sind beinahe alle Elemente seiner psycho-sozialen Identität in Frage gestellt.“(32)

Die individuelle Art der Vergangenheitsbewältigung, Trauerarbeit und Verlustkompensation im reifen Erwachsenenalter ist nach Keilson abhängig vom Bewußtsein, mit dem die Ohnmacht und Schutzlosigkeit der Eltern erlebt wurde. Diejenigen Jugendlichen, bei denen die Ich- und Überichentwicklung zum Zeitpunkt der Konfrontation mit der NS-Rassenideologie abgeschlossen war, litten später unter unbegreiflichen Angstzuständen. Ihre offensichtlichen Bemühungen, die traumatischen Erlebnisse zu verdrängen, erwiesen sich im fortgeschrittenen Alter als gescheitert. Wenn die jüdischen Kinder hingegen noch nicht die Werte und Normen der Eltern internalisiert hatten, bevor sie mit der konträren Wertewelt der Nazis konfrontiert wurden, fiel es ihnen als Erwachsenen doppelt schwer, sich überhaupt in eine Ordnung einzufügen und Autoritäten zu akzeptieren.(33)

Ihren Entschluß, erst im fortgerückten Alter ihre traumatischen Kindheitserlebnisse aufzuschreiben, begründen die Überlebenden der Jahrgänge 1927/28 meist im Vor- oder Nachwort ihrer Erinnerungsbücher mit dem Wunsch, den Heranwachsenden in Deutschland, Israel oder den USA ihre damaligen Empfindungen zu vermitteln. Dieser Wunsch ist mit der Skepsis gepaart, daß nach dem Aussterben ihrer Generation das Leiden der Opfer und die Unmenschlichkeit der Täter in Vergessenheit geraten könnten. Sicher ist das jahrzehntelange Schweigen über das Erlebte bedingt durch die Schwere des Traumas. Reflexionen über die Erinnerungsarbeit, vereinzelt auch Schilderungen, wie sich die traumatischen Erinnerungen hinterrücks in vergangenheitsanalogen Situationen als mémoires involontaires einstellen, durchziehen die Überlebensberichte. Die Vergeblichkeit ihrer Bemühungen, das Erfahrene durch Hyperaktivität, Emigration und übereifrige Integration in neue soziale Gruppen zu verdrängen, werden von diesen Autoren meistens indirekt zugegeben und in Keilsons Anamnesen bestätigt.

Wer wie Ruth Klüger die traumatischen Erinnerungen an die KZ-Häftlingszeit erst nach mehr als 45 Jahren niederschrieb, kennt ältere Überlebensberichte und kann bei deutschen und amerikanischen Lesern ein Allgemeinwissen über die Vernichtungspolitik der Nazis voraussetzen. Die Autoren der Jahrgänge 1927-1928, die zugleich Erinnerungs- und Trauerarbeit leisten und Jüngere aufklären wollen, betrachten es daher in ihren Erinnerungsbüchern als zusätzliche Herausforderung, das, was ihnen ihr Kindergedächtnis aufbewahrt hat, stilistisch anders zu präsentieren als die Erlebnisse, von denen schon die Zeitzeugen der Jahrgänge 1919-1923 ausgiebig berichtet haben. Die Bezugnahme auf die inzwischen „klassischen“ Überlebensberichte Primo Levis und seiner Altersgenossen ist ihren Texten ebenso eingeschrieben wie der Wille zur Abgrenzung. Der Wunsch, das Einmalige ihres Erlebens mitzuteilen, nämlich die besondere Sensibilität der kindlichen Psyche für eine abenteuerliche, undurchschaubare Wirklichkeit, mit deren Bewältigung die als lebensklug geltenden Erwachsenen überfordert gewesen seien, kommt in den Berichten Ruth Klügers, Goldschmidts und Jakov Linds zum Ausdruck. Auch die Neigung zu geschichtsphilosophischen oder sprachtheoretischen Reflexionen, mit denen sie jüngere Leser zum Dialog einladen, ist ihnen gemeinsam. Die Erzähler knüpfen mit derlei allgemeine Überlegungen z. B. über die Metaphysik Spinozas oder über Freuds Theorie des Unbewußten an kindgemäße Spekulationen über ihre jüdische Herkunft an. Als Kinder assimilierter Eltern konnten sie sich die damit verbundene Diskriminierung nicht erklären. Etwas, was sie täglich beleidigte, war mit den Maßstäben der Eltern nicht zu begreifen, und die Leerstelle füllten sie also mit abenteuerlichen Ersatzerklärungen. Im Rückblick auf die Shoah versuchen sie sich nun als Schriftsteller, Literaturwissenschaftler und Kenner der jüdischen Kulturgeschichte darüber Rechenschaft zu geben, wie ihr individuelles Schicksal in den Gang der deutsch-jüdischen Geschichte hineinpaßt. Sie suchen nach jüdischen Identifikationsfiguren, welche die verhängnisvollen Konsequenzen des traditionellen Antisemitismus vorherzusehen in der Lage waren, und stellen darüber Betrachtungen an, welche Eigenschaften gerade sie als ahnungslose, politisch uneingeweihte Jugendliche dazu ermächtigte, zu überleben und Zeugnis abzulegen. Da Jakov Lind bereits als Wiener Schuljunge einer zionistischen Jugendgruppe angehörte und sich als Vierzehnjähriger dazu entschloß, sich nicht von den Nazi-Okkupatoren und ihren Helfern, dem Amsterdamer Judenrat, einschüchtern zu lassen, hat er früher als Arthur Goldschmidt, der sehr viel weniger über die deutsche Vernichtungspolitik wußte, die Sprachlosigkeit überwunden, die nach Keilson eine Folge der Traumatisierung durch den Verlust der Eltern ist.

„Ein springender Brunnen“ wurde beendet, nachdem die unkonventionellen Autobiographien seiner jüdischen Altersgenossen Kertész, Cordelia Edvardson, Goldschmidt und Ruth Klüger vorlagen. Der Roman reagiert auf deren Versuche, sich eine zugleich eingeschränkte und unprätentiöse kindliche Wahrnehmungsweise zu vergegenwärtigen. Walsers Schreibweise ist nicht durch ein vergleichbares Trauma psychologisch zu erklären, jedoch offenbart sie seine Nöte, sich und seine schriftstellerische Karriere in einem Land zu rechtfertigen, wo die Erinnerung an Auschwitz allgegenwärtig ist, die Debatte über angemessene Formen des Eingedenkens an die Ermordeten in Form eines Mahnmals oder eines Geschichtsmuseums noch läuft und die eilfertige Identifikation der Täter- und Mitläuferkinder mit den Opfern allzu leicht von den Problemen mit der nationalen Geschichte ablenkt.

Kindheit zwischen Opfern und Tätern im Vergleich

„Ein springender Brunnen“: Johann kommt 1927 als Sohn eines anthroposophisch orientierten Gastwirts, der auch in anderen Metiers als Erfinder und Vertreter allerdings erfolglos sein Glück suchte, und seiner pragmatischen, stets mit ihrem Schicksal hadernden Wirtin namens Augusta in Wasserburg am Bodensee zur Welt.

„Selbstporträt“: Jakov Lind wurde ebenfalls 1927 in Wien geboren als Sohn von Simon Landwirth, einem Geschäftsmann und Vertreter aus der polnischen hohen Tatra, und Rosa Birnbaum, einer orthodox erzogenen Tochter einer großen, wohlhabenden jüdischen Familie in Snyatin, in der Nähe von Czernowitz.

„Ein Garten in Deutschland“ – „Die Absonderung“ – „Die Aussetzung“: Arthur kam 1928 in einem Vorort von Hamburg als Sohn eines wohlhabenden jüdischen Rechtsanwalts zur Welt. Er schrieb über seine Hamburger Kindheit und die Jahre im französischen Exil fünf „Erzählungen“. Über die Kindheit in Hamburg schrieb er auf Französisch, über die Zeit in einem Knabeninternat in Savoyen auf Deutsch.

Die Geschichten dieser Jungen haben Gemeinsamkeiten: Ihre Eltern wollen, daß aus ihren Söhnen einmal etwas Besseres wird. Sie legen Wert auf eine sorgfältige Schulbildung. Die drei Autoren betonen, wie wenig ihre Protagonisten von ihren Eltern darauf vorbereitet worden seien, sich in einem Unrechts- und Terrorsystem zu behaupten. In den Büchern Linds und Goldschmidts wird das an sich schon konfliktreiche Drama der Adoleszenz – die Entdeckung des eigenen Körpers und der Sexualität – im Zusammenhang mit rassistischer Diskriminierung geschildert. Der Umgang mit dem eigenen Körper ist eine Folge der Selbstwahrnehmung und gewohnheitsmäßigen Selbstdisziplinierung. Verlust, Abschied und Tod kennzeichnen die Erfahrungen aller drei Jungen. Schuldbewußtsein ist angesichts der eigenen Unschuld keine Urteilskategorie für Johann, den Sohn einer Mutter, die aus existentiellen Gründen früh in die örtliche NSDAP eintrat, ebensowenig wie für Jakov. Denn der identifiziert sich lieber mit den Stärkeren und empfindet Verachtung für religiöse Juden, die den Befehlen der Deutschen gutgläubig Folge leisteten. Von Schuldbewußtsein überwältigt wird jedoch Arthur, weil seine Eltern ihm nicht sagen, daß die Verdächtigungen der Nazis auf rassistischen Vorurteilen beruhen.

Als 1927/28 in Wasserburg, Wien und Hamburg drei Jungen das Licht der Welt erblickten, wuchsen sie in eine Welt hinein, an deren Bedingungen und Strukturen sie nicht mitgewirkt hatten, für die auch die Eltern nicht verantwortlich waren. Die Diskrepanz zwischen dem, was die Kinder einsehen konnten, und der politischen Katastrophe, die sich in ihrer Umgebung vorbereitete, ist besonders groß. Das geistige Rüstzeug, das die Eltern ihren Jungen in Wasserburg, Wien und Hamburg mitgaben, war gering für eine Zeit zusammenstürzender Ordnungen und einer barbarischen Gegenordnung. Zurechtzukommen und das beste aus ihrer Situation zu machen, war die Lebensmaxime der Eltern. Sie trafen keine besonders mutige Entscheidung zum Widerstand oder zum Exil.

1. Einteilung und Chronologie

Die Dramaturgie der Erzählungen ist durch die weltgeschichtlichen Epochenzäsuren markiert. Die Zuspitzung von Diskriminierung und Terror wird aus kindlich-adoleszenter Sicht Johanns und Arthurs als unheimlicher Verstrickungszusammenhang erlebt, dem die eigenen Eltern erliegen.

2. Kindheit als Vorgeschichte einer schriftstellerischen, künstlerischen Karriere: Väter und Mütter als Bezugspersonen für das Ich-Ideal. Enttäuschungen über das Versagen der Eltern

Jakov, Arthur und Johann bringen ihre künstlerischen Neigungen bzw. ihre Sensibilität für die deutsche Sprache eher mit ihren Vätern in Verbindung. Ihre Mütter versuchen, mit Pragmatismus so lange wie möglich einen normalen Alltag aufrechtzuerhalten, und sie kämpfen gegen Unordnung und soziale Degradierung. Jakov schämte sich der mit dem Lebensunterhalt von vier Kindern überforderten Mutter und mochte sich „ihrethalben nicht rechtfertigen, und da liegt die Wurzel allen späteren Übels.“(34) Für die rassistischen Beschimpfungen seiner Wiener Klassenkameraden suchte er in der häuslichen Unordnung den Grund. Die kindliche Verehrung seines Vaters Simon Landwirth, der in Wirklichkeit ein „erfolgloser Kaufmann“ und „zugleich stolz und beschämt“ war, wird ironisch geschildert: „halb Luftmensch, halb Baron“, ein Hippie in Galoschen.(35) Wenn der Vater einmal zu Hause war, empfanden das Mutter und Kinder als festliche Ausnahme. Er lebte im Zwischenraum zwischen jüdischem Ghetto und Wiener Caféhaus und besaß keine für den Überlebenskampf nützlichen Tugenden. Die Mutter wurde als Gute, Heilige, Starke, Geduldige und Fromme verehrt. Gegen ihre Absicht erzog die orthodoxe Jüdin ihren Sohn zum Realisten, weil ihre Versuche vergeblich waren, ihm ihren Glauben an Gott zu begründen. Vor der Mutter hielt Jakov seinen Wunsch geheim, Schriftsteller, d.h. Künstler zu werden.

Arthur nahm seine Eltern nur als Gegner wahr, die ihn mit Geheimnissen irritierten.(36) Die feindliche Welt, in der Fremde dem Jungen immer wieder sein Jude-Sein vorwarfen, weckte den Verdacht in ihm, daß auch die Eltern ihre Sorge für ihn nur vortäuschten. Daß sie ihm Wichtiges verheimlichten, wußte er, seitdem er gesehen hatte, wie die Mutter im Schlafzimmer nackt auf dem Körper des Vaters lag und dieser sich für seine Übungen im Akt-Malen ein Modell engagierte, dessen Anwesenheit im Atelier die Mutter beschämte. Weder Vater noch Mutter klärten ihn über seinen eigenen Körper auf; daß sie einen Körper hatten wie er, verheimlichten sie ihm. Ständig legten sie ihn herein, stellten ihn bloß, straften ihn für rätselhafte Vergehen und verschworen sich gegen ihn. Ununterscheidbar waren die erotischen Heimlichkeiten der Eltern von der Geheimnistuerei, mit der sie die Vorbereitungen für die große Reise Arthurs vorbereiteten. Nach der Einquartierung der Eltern in ein jüdisches Wohnheim wurde Arthur allmählich Zeuge der Ohnmacht der eigenen Eltern, von deren Allmacht er bislang überzeugt war, und kam auf die Idee, auch sie könnten Juden sein wie er. Zwischen ihm und seinen Eltern lag das Schimpfwort „Dreckjude“, das ihm die Eltern nicht erklärten. Mit ihm war aus Arthurs Sicht ein Vergehen gemeint, dessen er sich ohne sein Wissen, aber mit Wissen der Eltern, welche zweifellos auch die Strafe veranlaßten, schuldig gemacht habe. Daher also schickten sie ihn fort nach Florenz. Das Internatsleben seit 1938 in den Savoyen war um keinen Deut übersichtlicher. Wieder befand er sich auf der falschen Seite, wurde verhöhnt und von der Heimmutter für Vergehen bestraft, die ihm rätselhaft waren. Die frühkindliche Phantasie, den Vater zu töten, der ihn daran hinderte, wie alle anderen Jungen zu sein, wurde im savoyischen Gebirge abgelöst vom Wunsch, so zu werden wie der katholische Bauer, der ihn auf seiner Hütte vor den Nazi-Okkupatoren verbarg, oder wenn ihm das nicht gelang, mit der Landschaft, die ihm zum Versteck diente, zu verschmelzen.

Für Johann waren die mütterliche und väterliche Welt streng getrennt. Zum Reich der Mutter gehörten die Küche der „Restauration“, der Hausflur vor den Gästezimmern und die weiblichen Angestellten. Sie sorgten sich um sein leibliches Wohl, sie „zivilisierten“ den Jungen, schickten ihn zum Friseur, brachten ihm bei, wie man sich erfolgreich gegenüber der Kokurrenz in der „Krone“ oder im „Strandcafé“ behauptete. Als Fünfjähriger wurde er Zeuge eines Betrugs der Mutter, mit dessen Hilfe sie den drohenden Konkurs von der Gastwirtschaft abzuwenden wußte. Anwesend war er auch, als sich die Mutter mit dem Vater über die Bedeutung der braunen Bewegung stritt und ihm Vorwürfe machte, daß er mit seiner Opposition gegen die herrschende Meinung und seiner Ablehnung von Tanzmusik die Existenzgrundlage der Familie gefährde. Nur war der Fünfjährige noch unfähig dazu, Partei zu ergreifen. Der Vater war ein Außenseiter, nach außen hin ein Versager, aber für Eingeweihte ein Künstler mit ungewöhnlich langen, farbigen Sakkos und kragenlosen Hemden. Wenn der Vater ihn in sein nach Pfefferminz und Gesundheitstee duftendes Reich mitnahm, fühlte sich Johann wie ein Auserwählter. Der Vater weihte ihn in seine Projekte ein, zeigte ihm einen Magnetisierapparat und gab ihm geheimnisvolle Wörter zum Buchstabieren auf, mit dem er seinen „Wörterbaum“ ausschmücken sollte. Zur väterlichen Welt gehörte ein Vertiko mit einem Geheimfach, in das Johann Kostbarkeiten deponierte. Zwar brüstete er sich vor seinem Freund Adolf damit, brachte es jedoch nicht über sich, das Geheimnis vor dem Freund zu profanieren, der seinerseits damit prahlte, daß er bereits 1927 mit dem Namen des Führers getauft worden sei.

Die Angehörigen der väterlichen Welt wurden von den weiblichen Angestellten geduldet, durchgefüttert und mit Bier, Seewein und Obstler ruhiggestellt. Zur Stammkundschaft der „Restauration“ gehörten desorientierte Kriegsveteranen, die, an Leib und Seele kriegsbeschädigt, mit ihrem Leben unzufrieden waren, ohne die Kraft zu haben, ihm ein neues Ziel zu geben. Alle waren sie Fremde aus dem Norden, sprachen anders, brabbelten Unverständliches vor sich hin und waren von Tabaksqualm und Alkoholdunst umgeben. Früh lernte der Junge von dieser Gesellschaft Asozialer, wie man sich in einer Welt voller Veränderungen ein Wolkenkuckucksheim bauen konnte. Johann wohnte einer anthroposophischen Versammlung von Naturaposteln bei, die einer Rede seines Vaters lauschten, da wurde die Falttür gewaltsam aufgezogen, die Stimmen Hitlers und Goebbels‘ drangen aus dem Volksempfänger und die Braunhemden, die sich im Nachbarsaal zu ihrer ersten Parteisitzung versammelt hatten, bemächtigten sich siegesgewiß des ganzen Versammlungslokals (S. 107-117). In den letzten Lebensjahren zog sich der kranke Vater ganz in sein Schlafzimmer zurück. Er stattete Johann noch mit neuen unbekannten Wörtern aus, weckte den Wunsch in ihm, noch bevor er in Sütterlin schreiben konnte, seine kalligraphische Schrift zu lernen, mit der er die Rechnungsbücher führte, und starb am 3. Januar 1938. Er schien zu schwach und krank zu sein, um seine drei Söhne mit Strenge zu behandeln. Das Vermächtnis des Vaters war allerdings ein Widerstandspotential, das Johann zu einem Heiligen mit einem besonderen Schutzengel machte. Dem Jungen blieb fortan keine Wahl als die, seiner inneren Neigung zu folgen.

3. Koinzidenz von geschlechtlicher Entwicklung und wachsendem Verständnis für die politisch bedingten Nöte der sozialen Bezugsgruppen außerhalb des Elternhauses

Die Geschlechtsreife kündigte sich Jakov, Arthur und Johann früher an als die Einsicht in die politischen Zusammenhänge und war für ihre Identität auch wichtiger. Unheilvolle Verknüpfungen wurden zwischen beiden geheimnisumwitterten Bereichen hergestellt, dem unbekannten eigenen Körper und dem unvorstellbar großen Machtbereich der Nazis. Da Sexualität von Tabus umstellt war und nur im Verborgenen ausprobiert wurde, drängte sich den Jungen von selbst der Gedanke auf, es könnte eine Beziehung zwischen verschiedenen Tabus geben, über die ein Sprachverbot herrschte. Arthur phantasierte sich einen Kausalzusammenhang zwischen perverser Erotik („Herumfummeln“), seiner jüdischen Herkunft und der nationalsozialistischen Judenverfolgung zusammen: es schien ihm klar zu sein, warum die Nazis in Frankreich ausgerechnet Jagd auf perverse Jungen („Dreckjuden“) wie ihn machten. Sie würden die Strafe an ihm exekutieren, mit der ihm schon die Eltern in Hamburg gedroht hatten. Der eigene Körper mit seinen Regungen war Jakov Lind so unbekannt wie sein niederländisches Exilland und die Zukunft des Krieges. Die Potenz war für ihn eine Entdeckung mit unabsehbaren Konsequenzen. Der dreizehnjährige Jakov hielt es für möglich, daß er „durch einen Akt reiner Magie“ vielleicht den Einmarsch der Deutschen am 10. Mai 1940 selbst veranlaßt haben könnte. Er ereignete sich kurz nach seiner ersten Ejakulation und übertraf an kriegerischer Gewalt alle Gerüchte von physischen und psychischen Übeln, die dem Onanierer drohten:

„Nun, da hatte ich es. Nicht Blindheit, nicht Wahnsinn, auch kein Zahnausfall, sondern viel Schlimmeres. Hinter geschlossenen Lidern, eine Vision vom Paradies. Zwei Schritte weiter, und man ist vorm Eingang zur Hölle. Versucht man, sich für Sekunden im Nichtsein aufzulösen, fällt die Wirklichkeit mit wahnsinnigem Geheul über einen her. Sexueller Genuß ist das Vorspiel der Agonie. Während ich in diesem fremdartigen, neuen, wunderbaren Erlebnis schwebte, drang der Krieg in meine Sexualphantasien ein und trampelte mit der Nachricht von gelandeten Fallschirmjägern auf mir herum.“(37)

Die Not dieses Heranwachsenden im Versteck war eine doppelte, und erotische Freizügigkeit konnte existentielle Folgen haben. Die schmerzhafte Geschlechtskrankheit, die sich der vermeintliche niederländische Matrose durch den Verkehr mit einer „Schlunze“ zuzog, betrachtete er als Fluch, der zu seiner Entlarvung führen konnte. „Schicksal oder Zufall? Auf lateinisch heißt es Gonorrhöe, ist eine Geschlechtskrankheit und verlangt die Enthüllung eines bis dahin sorgsam gehüteten, beschnittenen Geheimnisses.“(38) Andererseits interpretierte Jakov diese Krankheit als Wink der Vorsehung: „‚Die kleine Krankheit‘ bot den einleuchtenden Ausweg aus einer brenzligen Lage“. Jakov mußte nur die Skrupel überwinden, sich einer Untersuchung zu unterziehen, und schon war ihm ein warmes Zimmer in einem kleinen Krankenhaus für den schlimmsten Kriegswinter sicher.(39)

Auch für Johann fallen die erste Liebe und die Entdeckung des Geschlechtstriebes in das Jahr vor Kriegsbeginn, als ethnische Minderheiten zunehmend diskriminiert und terrorisiert wurden. Hitlers aggressive Politik, der Anschluß im März 1938 beherrschten auch in Wasserburg die Alltagsgespräche. Gut besucht waren die NSDAP-Veranstaltungen im Hinterzimmer der „Restauration“; der Hitlergruß wurde in der Volksschule zusammen mit Regeln, wie sich ein guter Deutscher zu benehmen habe, eingeübt, und Heimatdichter, die Deutschlands Größe dichterisch ausmalten, erhielten Auszeichnungen. Johann entwickelt sich in seinem letzten Volksschuljahr zu einem Außenseiter, der in den Augen der Erwachsenen seinem Vater – einem „Schlappschwanz“ und Versager, der seiner Frau nur Schulden hinterlassen habe – immer ähnlicher wird, trotzdem aber seine soziale Stellung in der Dorfgemeinschaft behaupten kann. In der politisch angespannten Atmosphäre wird die Liebe Johanns zum Zirkusmädchen Anita zum Prüfstein seiner vom Vater vererbten Widerstandskraft. Walsers Erzählung lehrt, daß Widerstand kein heroischer Akt und nicht mit riskanten Entscheidungen verbunden war, sondern wie der Dialekt oder der Glaube an den Schutzengel eine natürliche Quelle hatte. Der Erzähler läßt offen, wie viel der elfjährige Zirkusbesucher von den politischen Sticheleien des „Dummen August“ verstanden hat. Er schildert die politischen Witze des Zirkusclowns über den „Anschluß“ Österreichs aus der Perspektive des aufgeklärten Zeitgenossen.(40) Klar ist jedoch, daß auch sein Protagonist die nächtliche Vergeltungsaktion und Mißhandlungen des Clowns durch die Nazi-Jugend nicht billigt, sondern zu Anita und ihrer Familie hält. Mit exotischen Wörtern aus der väterlichen Welt signalisiert er dem Mädchen, daß er ihre Zirkuswelt, in der sie als indische Prinzessin auftritt, versteht und sein Horizont über Wasserburg hinausreicht, bis in die indische Mythenwelt und zum Popocatepetl, einem Viertausender in Mexiko.(41)

Analog zur kindlichen Bewunderung für die frühreife Anita und ihre exotische Welt gehört auch die erste Lustempfindung zum Schatz intimer Erfahrungen, die Johanns Inneres bereichern und sein Selbstbewußtsein steigern. Unerträglich findet es Johann, wie würde- und schamlos Adolf Brugger über so etwas Heiliges, Unnennbares wie die Liebe redet. Der brüstet sich nur mit den obszönen Ausdrücken seines Nazi-Vaters. Die gewöhnlichen Worte für Sexualität entwerten die ureigenen Empfindungen und degradieren die Partnerin zum Eroberungsobjekt. Die Geheimsprache, die Johann für sein Geschlechtsorgan und seine Lust erfindet, ist für ihn ein neuer Test, inwieweit man auf den Spuren des Vaters eine Gegensprache entwickeln kann, die einen Gegenzauber gegen die Nazi- und Gossensprache enthält und die Sache selbst – Liebe, Treue – vor Beschmutzung schützt. Sein Geschlechtsorgan bleibt namenlos. Johann hatte das Gefühl, er müsse es und die Empfindungen, die es ihm verschafft, gegen die Wörter und die in ihnen zum Ausdruck kommende Entwertung der Empfindungen schützen.(42) Seine sexuelle Initation ereignet sich vor dem Weißen Sonntag im Verborgenen, sie ist durch die Liebe zu Anita ausgelöst. Die mystische Erfahrung mit dem namenlosen und bisher unbekannten „Teil“ gliedert sich ein in die abgespaltene Höhenwelt, in die ihn der schwache, kranke Vater allein mit der Magie fremder Wörter eingeführt hatte. Als an jenem Abend vor der Erstkommunion etwas im Zustand höchster, unbekannter Erregung da plötzlich „in ihm hochschoß und aus ihm heraus“(43) stürzte, hatte er die konkrete Bedeutung des rätselhaften Bildes erfaßt, das im Nachtlied aus dem ‚Zarathustra‘ vorkam, das er seinem Vater wenige Wochen vor seinem Tod vorlesen mußte und das ihn merkwürdig über sich hinausgehoben hatte:

„‚Komm, lies mir noch einmal das Nachtlied aus dem Zarathustra‚, hatte er im Dezember oft gesagt. Tatsächlich las Johann am liebsten das Nachtlied vor. Wenn er das las, hatte er das Gefühl, jetzt singe er. Wenn er las ‚Nacht ist es: nun reden lauter alle springenden Brunnen. Und auch meine Seele ist ein springender Brunnen‘, hatte er das Gefühl, seine Stimme singe ganz von selbst.“ (S. 164)

Aus demselben „springenden Brunnen“ sprudeln einige Jahre später Johanns wöchentliche Gedichte an Magda und Lena.(44) Sie haben die Funktion einer Visitenkarte, mit der sich der politisch Arg- und Ahnungslose auch nach 1945 einer Halbjüdin und der Tochter eines Antifaschisten empfiehlt. Geübt hatte er den Höhenflug seiner Gedanken wiederum in der Einsamkeit, als Gebirgsjäger während einer Wehrübung im Hochgebirge:

„Im Januar, zur Hochgebirgsausbildung aufs Kreuzeck. Vordem ein Hotel. 1700 Meter hoch. Johann hatte nur ein Buch dabei: ‚Also sprach Zarathustra‘. Wenn sie unterm hellen Mond oder unter der grellen Sonne sechs oder acht Stunden lang hinter einander durch den Schnee tappten, stellten sich bei Johann Zarathustras Hochtonsätze ein. Im letzten Winter hatte er dem Vater, als der das Buch nicht mehr hatte halten können, aus diesem Buch vorgelesen, hatte beim Vorlesen der Zarathustra-Sätze erlebt, daß er sang. Er wuchs, er sang, er wuchs.“ (S. 352)

Die Sprache des Vaters immunisierte gegen die verhunzte Sprache vom „Heldentod fürs Vaterland“ und gegen den Kasernenton. Mit der Poesie von Nietzsche und Stefan George dichtete sich Johann ab gegen die Einflüsse, denen die meisten Wasserburger Schulkameraden inzwischen erlegen waren. Was die Bilder bedeuteten, hatte er am Vorabend vor der Erstkommunion erfahren. Unbegründet erwiesen sich damals die Ängste des Elfjährigen, seine Todsünde gegen das sechste Gebot (im Beichtspiegel war die Selbstbefriedigung so klassifiziert worden) mache ihn unwürdig, den Leib des Herrn zu empfangen und provoziere Gottes Strafgericht. Grundlos waren die Skrupel, die den Jungen plagten, als er, mit der Todsünde befleckt, mit den anderen Erstkommunikanden zum Tisch des Herrn schritt. Niemand wußte von seinem Vergehen, das nur in den Augen des Pfarrers eines war, und wenn er sich nur verhielt wie alle anderen, mitmachte, nicht aus der Reihe tanzte und sein Geheimnis – die empfundene Lust – für sich behielt, würde nichts passieren. Diese Erfahrung belehrte Johann darüber, daß er sich seine väterliche Welt ohne Gefahr bewahren, sie mit verschwiegenen Wörtern und Empfindungen ausstaffieren und zum Refugium einer künstlerischen Existenz ausbauen konnte. Aktiver Widerstand ist gar nicht erforderlich, jedenfalls nicht für einen Jungen im katholischen Wasserburg. Dies ist Walsers Botschaft an alle, die von ihm ein Bekennnis erwarteten, ob Leute seines Jahrgangs eher für oder gegen die braune Bewegung waren. Weder noch: ein Wasserburger Junge entdeckte die Möglichkeit der inneren Emigration als Königsweg zum Schriftstellerberuf. Er brauchte bloß seiner Neigung zu Anita zu folgen.

Anita zuliebe setzte sich Johann über mütterliche Verbote hinweg, blieb über Nacht weg und schwänzte die Schule. Von diesem leichtfertigen Verstoß bis zu politisch motiviertem Widerstand war es freilich noch ein großer Schritt. Walser wünscht rückblickend, Johann hätte auch ihn in vollem Bewußtsein seiner riskanten Folgen vollzogen. Seine Erzählweise – die Gattung der Legende, die er dazu wählt – suggeriert jedenfalls, Johann wäre beides: ein eigenwilliger, selbstbewußter frühreifer Junge und ein mutiger Widerstandskämpfer, der für seine Akte überdies den Beifall seiner Klassenkameraden bekommen hätte. „Das Wunder von Wasserburg“ steigert und verstärkt die Erfahrungen, die Johann zuvor mit Versuchen gemacht hat, die Welt seines Vaters dort, wo die Nazi-Ideologie die Luft zum Atmen vergiftete, zu etablieren. Zugleich transzendiert Walser mit der Legendenform aber den autobiographischen Pakt.(45)

Zunächst – im Kapitel „Ihr nach“ (225-242) erzählt Walser realistisch: Als die Zirkusleute nach den Mißhandlungen des „dummen August“ in Wasserburg ihre Zelte abzubrechen und ins nächste Dorf zu ziehen beginnen, reist Johann Anita nach, um ihren abendlichen Auftritt in Langenargen zu erleben und ihr seine Anhänglichkeit zu beweisen. Bei seiner Rückkehr, die er bangen Herzens am nächsten Morgen antritt, erfährt er, daß seine Abwesenheit gar nicht aufgefallen ist (S. 249-256). Das „Wunder von Wasserburg“ besteht in der christusgleichen Ubiquität Johanns und dient dem Erzähler zum Exempel dafür, wie sehr sich Johann auf die Fürsorge seines Schutzengels verlassen kann. Zu seinem Erstaunen hört er, daß ein Double erfolgreich seine Lücke ausgefüllt hat: an seiner Stelle saß das Double am Mittagstisch, er half der Mutter aus, ging zur Klavierstunde, auch in der Schule erledigte es Johanns Aufgaben und erregte mit einem zweideutigen Aufsatz über die Bedeutung von „Heimat“ die Bewunderung seiner Klassenkameraden. Nur sein Hund Tell habe gemerkt, daß nicht Johann, sondern der Schutzengel an seiner Stelle agiert habe. Das Wasserburger Alter ego war der Mutter, den Mitschülern und übrigen Dorfbewohnern durch zwei eigentlich unvereinbare Eigenschaften vorteilhaft aufgefallen. Die Mutter freute sich über seine Dienstfertigkeit, wodurch er gezeigt habe, daß er sich gut integrieren könne und akzeptiert sei. Der Vater hätte sich über den feinen Anschlag gefreut, mit dem Johanns Alter ego geglänzt habe, auch der Heimat-Aufsatz hätte ihm Freude gemacht. Der Schutzengel-Johann war zugleich angepaßt und fiel durch ungewöhnliche Ansichten auf, die er überdies auch noch vor denen, die sie nicht billigten, erfolgreich zu verteidigen wußte. Damit entsprach er dem Ich-Ideal, das sich der Autor Walser von seinem Helden gebildet hatte. Wie vorteilhaft wäre es für die Verteidigung der Wasserburger Kindheit in finsterer Zeit, wenn der Gastwirtsohn nicht nur durch Frühreife und ein ungewöhnliches Abenteuer aufgefallen wäre, sondern wenn er überdies auch noch eine subversive Lesart von „Winnetou“ entwickelt hätte und mit seinen Argumenten, warum jeder Mensch ein Recht auf Heimat habe, also auch ein Indianer, dem der weiße Mann zu Unrecht Land und Eigentum fortnehme und seine rassische Minderwertigkeit vorwerfe, bei späteren Lesern Ehre eingelegt hätte. Offenbar kam jedoch nicht der elfjährige Johann auf die kühne Idee, an einem allegorisch deutbaren Beispiel – die Ausrottung der Indianer durch den weißen Mann – die nationalsozialistische Rassenideologie aufgrund christlicher Maßstäbe zu verurteilen, sondern sein Autor hätte ihn gern zu einem solchen Helden stilisiert. Der Einschub dieser Wundergeschichte durchbricht die Regeln des autobiographischen Paktes und des historischen Romans gleichermaßen, welche Wahrscheinlichkeit des Erzählten als Bedingung der Glaubwürdigkeit der personalen Identität des Helden fordern. Walser führt hier vor, wie er sein Alter ego Johann am liebsten dargestellt hätte. In der Legendenform demonstriert er, wie unzugänglich das Reich der Vergangenheit für den Erzähler eigentlich ist und auf welche Hürden der Glaubwürdigkeit er beim Versuch stoßen muß, die Geschichte seines Helden so zu erzählen, daß ihn seine heutigen Leser loben könnten und dieser Figur, die schon mit elf Jahren den Nazi-Oberlehrer zur Äußerung veranlaßt habe, „Recht hast du natürlich nicht, aber reden kannst du schon ganz gut“, im wirklichen Leben gerne begegnen würden. Die Wundergeschichte enthält also eine implizite Poetik, die das veranschaulicht, was Walser in den geschichtstheoretischen Reflexionen vor dem ersten und dritten Teil seiner Erzählung zum Thema macht. Mit dem in die Legende gehörenden Ich-Ideal könnten sich Walser und seine Leser heute eher anfreunden als mit dem Jungen, der sich überlegt, wie er das preisgekrönte deutschtümelnde Heimatlied „Hab oft auf blumiger Aue…“ auf dem Klavier begleiten könnte (S. 233). Es läge für einen Autor also verführerisch nahe, die Kindheitserinnerungen mit Rücksicht auf sein Publikum und seine eigene „Akzeptanz“ bei seiner Stammleserschaft zu frisieren. Ein Autor, der dieser Versuchung erliegt, gleitet unmerklich in die Legendenerzählung ab, wird also unglaubwürdig, und sein erzählerischer „Sündenfall“ hat Rückwirkungen auf die Glaubwürdigkeit der gesamten Geschichte. Wenn eine Episode sich unmöglich so zugetragen haben kann, wie sie der Autor erzählt, weil es Menschen nicht gegeben ist, an zwei Orten zugleich aufzutreten, darf der Leser, a minori ad maius schließend, auch mutmaßen, daß andere Partien der Erzählung ebenfalls geschönt sind und unwahrscheinliche Heldentaten enthalten. Auch Walsers Kindheitsgeschichte hat ihre Brüche, weil der Autor keinen direkten Zugang zu seinen Erinnerungen mehr hat, sondern diese im Gedächtnisspeicher immer nur so abgerufen werden können, wie sie der Erwachsene im Lichte seines historischen Wissens verstehen und bearbeiten kann. Die Geschichte von Johanns rassenkritischem Heimat-Aufsatz läßt sich also nur als „Wunder von Wasserburg“ erzählen.

Die Liebe zu Anita ist zwar nicht politisch korrekt, aber doch nicht unmöglich, solange Johann sein Geheimnis wahrt und seine erotische Erfahrung gedanklich und sprachlich gegen die Profanierung abdichtet. In der Form der Legende und Wundererzählung führt Walser den Nachweis, daß Johann zum Künstler prädestiniert gewesen sei und daher unter dem besonderen Schutz seines Engels gehandelt habe. Die Wundererzählung möchte als wahr suggerieren, daß auch in finsterer Zeit ein Dichter heranwachsen könne, und zwar kein apolitischer. Walser ironisiert hier die Erzählstrategie einen Biographen, der um Rechtfertigung seines Helden bemüht ist.

Zusammenfassung: Die Kinderliebe zum Zirkusmädchen Anita stellte Johanns Disposition zur Selbstimmuniserung und Schadensabwehr, damit auch das Vermächtnis seines Vaters auf die Probe, weil die Zirkusfamilie Wiener während ihres Aufenthaltes in Wasserburg (sie hatten ihre Zelte im Obstgarten hinter der Restauration aufgeschlagen) unter den rassistischen Pöbeleien von Anton Brugger und Co. zu leiden hatte. Für erotische Abenteuer gingen Johann und Jakov Risiken ein und ließen kriegsbedingte Vorsichtsmaßnahmen außer Acht. Für den Teenager Arthur wurde die Selbstbefriedigung wie für Johann zu einer Quelle eines Glücks, das ihm weder die Schulkameraden noch die Direktorin nehmen konnte. Es machte ihn unabhängig von den Zuwendungen Anderer und verstärkte seine Duldsamkeit, wenn man ihn züchtigte. Wie sehr die Entdeckung der Sexualität mit der Ausbildung der eigenen Identität verbunden war, in welchem Maße jedoch die Profilierung des Ich-Ideals und die Ausbildung einer harmonischen Persönlichkeit unter den Bedingungen rassischer Diskriminierung und Verfolgung (Jakov und Arthur), aber auch in der Bedrängnis, unter Gleichgeschalteten sich behaupten zu müssen (Johann), erschwert wurden, zeigen Johanns, Jakovs und Arthurs Geschichten.

4. Entdeckung des Widerstandspotentials der Sprache und metaphysische Erklärungen für das dem kindlichen Begreifen Unzugängliche

Die Sprache bringt es an den Tag. Durch ihre brutale Sprache entlarven sich die braunen Machthaber selbst. Mit dieser Überzeugung betrieb Karl Kraus in der „Dritten Walpurgisnacht“ Ideologiekritik in Form der Sprachanalyse.(46) Das Ergebnis ist vergleichbar mit Viktor Klemperers Dekonstruktion der „Lingua tertii Imperii“.(47) Exilschriftsteller wie Klaus Mann und Elias Canetti vermochten sich vor der sprachlichen Indoktrinierung durch den mühsamen Ausbau einer Gegensprache zu schützen. Für Klaus Mann war die Poesie der Romantiker ein Refugium seiner Phantasie, dem auch der unrechtmäßige, dreiste Zugriff der Nazi-Ideologen und Epigonen nichts anhaben sollte. Er sehnte sich danach, eine neue sprachliche Haut zu entwickeln, die Sprache zu wechseln und auf amerikanisch zu schreiben. Sein erstes auf Englisch geschriebenes Buch über André Gide erfüllte ihn mit Genugtuung.(48) Canetti gab sich im englischen Exil „Wortanfällen“ hin, die er als „pathologisch“ empfand. Wie in einem Furor schrieb er plötzlich Seiten mit zusammenhanglosen deutschen Wörtern voll, nur um nicht aus der Übung zu kommen und um zu testen, daß er mit den Feinheiten seiner Muttersprache noch in Fühlung blieb, also auch in England bleiben konnte.(49)

Die sprachliche Sozialisation ist für die Entwicklung der Persönlichkeit ebenso wichtig wie Toilet training, die Erlernung sozialer Verhaltensnormen, die Erkundung des eigenen Körpers, Experimente im Fühlen und Denken. Was lernt ein jüdischer Junge aus der Beobachtung, daß die Sprache der Dichter und Philosophen, die er bewundert und gerne nachahmen will, von seinen Wiener Lehrern für die paramilitärische Schulung im Hassen mißbraucht wird? Wie kann er sich die Liebe zur poetischen und philosophischen Sprache bewahren, wenn er gezwungen wird, zum Zwecke des Überlebens eine neue sprachliche Identität anzunehmen und als niederländischer Schiffsjunge sein Deutsch mit einem vulgären Slang der Halbwüchsigen camouflieren muß? Dies ist der Fall Jakovs. Er nimmt Modell an Spinoza. Seine Mutter bereitete ihn ohne Absicht darauf vor, den Erscheinungen auf den Grund zu gehen, zu prüfen, was sich hinter ihnen verbirgt und sich nur auf das zu verlassen, was ihm die Sinne und der gesunde Menschenverstand vorspiegeln.

„Das Wort ‚nichts‘ faszinierte mich ganz besonders. … ‚Was ist hinter dem Zaun, Mama?‘ ‚Nichts. Dahinter ist gar nichts.‘ ‚Woher weißt du das, Mama?‘ ‚Ich sage doch, da ist nichts, und überhaupt, was soll das?‘ ‚Könnten wir es nicht vielleicht herausbekommen, Mama?‘ ‚Wie denn?‘ ‚Wir können aufs Dach gehen und runtersehen, Mama.‘ […] ‚Warum bekomt man es dann nicht zu sehen, wenn es wirklich nichts ist?‘ ‚Was kann es denn da zu sehen geben?‘ ‚Wie sieht es dort aus?‘ ‚Nach nichts. Es sieht nach nichts aus.‘“(50)

Angestachelt durch die rätselhaft nichtssagenden Worte der Mutter, kletterte Jakov auf den Dachboden, um von der Höhe aus hinter den Zaun zu gucken. Dahinter verbarg sich wirklich nichts, es gab nichts als ein Loch zu sehen! „Meine Mutter hatte recht gehabt. Nichts ist nichts, und wo nichts ist, muß was sein, das Unsichtbare muß offenkundig werden – früher oder später. Meine gute, heiligmäßige Mutter lehrte mich meinen Augen und meinem Hirn vertrauen: Nichts ist nichts.“(51) Derartige Belehrungen über die Wirklichkeit machten jede religiöse Erziehung in den jüdischen Glaubenslehren wirkungslos. Der Nutzeffekt solcher Einführungen in den Realismus erwies sich später bei Jakovs Versuch, in der Höhle des Löwen – als holländischer Schiffsjunge auf Heuer im Reich – wachsam und mißtrauisch jede Bewegung dieses Wüstentiers sogleich zu registrieren und auf Gegenmaßnahmen zu sinnen.

Im Rückblick, wissend geworden durch seine Überlebenserfahrungen, entwickelt Jakov Lind eine materialistische Lesart von Spinozas Philosophie. Sie brachte für ihn auf den Begriff, was ihm die gläubige Mutter demonstriert hat: „Der Geist verbirgt sich hinter und in allem, weil er sich nicht zeigen will. […] Dieser Geist (und ich glaube, Spinoza glaubt, dieser sei gleich Gott) manifestiert sich in allem und überall. Das Unvorstellbare muß außerhalb unser vorhanden sein. Darin besteht sein Pantheismus. Für Spinoza trägt Gott keinen langen weißen Bart; wie mag sein Großvater ausgesehen haben? Wie eine Ameise? […] Kein Wunder, daß man ihn aus der Synagoge hinauswarf. Ich liebe ihn aber. Seine Logik ist geschliffen wie seine optischen Gläser.“(52)

Es gibt eine Dimension der Wirklichkeit, die sich den Sinnen entzieht, auf die wir aber nur mit unseren beschränkten sinnlichen Hilfsmitteln induktiv schließen können: das Geistige. Auch die Nazi-Ideologie ist in dieser Sphäre anzutreffen, und dort muß sie aufgespürt und bekämpft werden. Kein Mensch offenbart seine Gedanken unmittelbar, sondern wir müssen sie aus seinen Worten und Gebärden erschließen. Je gefährlicher die Gedanken sind, umso mehr müssen wir uns also mit Spinozas Logik – einer Schule des Realismus – ausrüsten, um sie kennenzulernen und uns vor ihren verderblichen Folgen – der Endlösung, Auslöschung – rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. Was er selbst konnte, Zeichen deuten, um aus dem Sinnlichen das Unsinnliche, Geistige abzulesen, traute Jakov auch anderen zu. Daher galt es, den verräterischen verträumten Blick, der den Juden eigentümlich sei, abzulegen und sich den stählernen, durchdringenden Blick der Nazis anzueignen. Nur so würde es gelingen, nach außen hin zu ihresgleichen zu werden und unterzutauchen.

„Das Gesicht sind die Augen. Ich mußte meinen Blick ändern…. Ich blieb vor dem Spiegel, bis man sich darüber beklagte, daß ich das Badezimmer zu lange benutzte. Ich verzog mein Gesicht auf hundertelei Art und verließ das Badezimmer, wie ich es betreten hatte, mit Haß in den Augen. Haß auf die Deutschen.“(53)

Wie reagiert ein Kind, das merkt, daß die Sprache der Eltern und des Elternhauses nicht zureicht, um Wörter zu verstehen, mit denen es Kinder, Spielkameraden, Lehrer und Geistliche beschimpfen? „Jude“, „Judensau“, „Dreckjude“ waren für Arthur Goldschmidt Wörter dieser Art. Gerhard Durlacher machte in Baden-Baden dieselben irritierenden Erfahrungen.(54) Arthur eignete sich als französischer Internatsschüler das Französische so an, daß er als Ausländer nicht mehr auffiel. Deutsch war die Sprache, die er in Paris Schülern beibrachte; deutsche Literatur übertrug er ins Französische. Während des Literaturstudiums entdeckte er die Affinität seiner Wahrnehmungen als Kind und Jugendlicher zu den Beobachtungen, die Karl Philipp Moritz‘ Romanheld Anton Reiser als sozialer Außenseiter anstellte. In seinen deutschsprachigen „Erzählungen“ experimentiert Goldschmidt mit einer Gegensprache, die reich an originellen Raummetaphern für psychische und körperliche Empfindungen ist und die Ängste des jüdischen Jungen veranschaulicht.

„Unvergleichlich“ nennt Peter Handke sein erstmals auf deutsch geschriebenes Buch Die Absonderung, ein „Umsring-Buch“ voller „Umspringbilder“, die das Innere nach Außen kehren und die Natur mit den körpereigenen Empfindungen investiert: „Goldschmidt hat so etwas wie ein Traumbuch geschrieben in dem Sinn, daß er für Situationen und Ereignisse, für die es bis dahin noch keine Sprache gab, wie somnambul, planlos, vorsatzlos, dafür um so klarer und unmittelbarer eine solche – nicht findet, sondern einfach hinsetzt.“(55)

Das kindliche Leiden an seiner Besonderheit und die Suche nach einer Erklärung für seinen Status als ein Ausgestoßener sind die Hauptthemen in den autobiogrpahisch inspirierten Erzählungen Goldschmidts. Die Sprache der Psychoanalyse, die differenzlogische Vorgehensweise ihrer großen französischen Interpreten Derrida und Lacan und die für sozialbedingte Pathologien so empfängliche Dichtersprache von Moritz sind Goldschmidts Instrumente für die Selbstbeobachtung sowie die Analyse deutscher Geschichte. Martin Heideggers Sprachmystik wird zu seinem Feindbild, je mehr Goldschmidt selbst die dichterische Potenz des Deutschen zur Beschreibung seiner Kindheitserfahrungen entdeckt und – durchaus auf den Spuren des „Küsters von Meßkirch“ – die reichen Möglichkeiten neuer Wortbildungen durch Zusammensetzungen oder tropische Rede auslotet. Der Literaturtheoretiker und Sprachphilosoph hält Ausschau nach Gewährsmännern in der deutschen Geistesgeschichte, die entweder ähnlich diskriminiert worden sind und davon Zeugnis abgelegt haben oder zur Diagnose und Therapie psychischer Störungen in deutscher Sprache Theorien entwickelt haben, die auch zur Prophylaxe politischer Katastrophen taugen. Propheten wie Sigmund Freud und Franz Kafka haben aufgrund ihrer sprachlich-kulturellen Sozialisation nach Goldschmidts Überzeugung die Möglichkeit des maschinellen Genozids vorausgesehen und gehören in seinen Gegenkanon. Karl Philipp Moritz und Heinrich Heine haben in ihm ebenfalls ihren Platz, weil sie das Leiden der Ausgestoßenen, Asozialen eindringlich beschrieben haben.

Erst dem geschulten Sprachlehrer und Kenner der Psychoanalyse Goldschmidt ging auf, daß er im Elternhaus wie alle deutschen Jungen aber auch Wörter gelernt hatte, die usprünglich eine konkrete Bedeutung haben, aber mittlerweile nur im übertragenen Sinn für abstrakte Sachverhalte gebraucht werden. Wer in der deutschen Sprache sozialisiert worden ist, fühlt im Unbewußten jene ursprüngliche Bedeutung mit, die in „sich ausdrücken“ steckt, nämlich etwas herauszudrücken. Im Französischen sind Abstrakta meistens lateinisch deriviert und werden daher in der Schul- und Studienzeit erst dann gelernt, wenn man die Alltagssprache schon beherrscht. Das Deutsche hält daher nach Goldschmidts Überzeugung besser als das Französische den Kontakt zum frühkindlichen Bewußtsein aufrecht, weil es die Möglichkeit von Neologismen aus Komposita erlaubt, deren Bestandteile häufig Nomina, Adjektive oder Verben sind, die das Kind früh erlernt.

Mit den Mitteln der vergleichenden Sprachanalyse will Goldschmidt die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der nationalsozialistischen Barbarei ergründen und zugleich sich selbst analysieren: Inwiefern hatte er es selbst in sich, als ein deutscher Junge, der doch nicht weinen darf? Inwiefern hatte er ähnliche Mechanismen der Freude am Leiden entwickelt, wie sie auch die deutschen Täter auslebten? Seine Selbstbeobachtung führt Goldschmidt zur Einsicht, daß er wegen seiner jüdischen Herkunft Opfer eines Erziehungssystems sei, das andere Deutsche zu Tätern gemacht habe.

Die differenzlogische, subjektdezentrierte Betrachtungsweise eignet sich besonders gut dazu, das Paradoxe an den Erinnerungs- und Beschreibungsversuchen von „Auschwitz“ zu benennen. Die Memoiren schreibenden Zeitzeugen der Shoah sind skeptisch gegenüber der Kontinuität des eigenen Selbstbewußtseins, die in „klassischen“ Autobiographien als Entfaltungsgeschichten repräsentativer Persönlichkeiten vorausgesetzt ist. Sie haben Teile ihres Ichs nach 1945 verdrängt und abgespalten, denen sie in ihren Erinnerungsbüchern erneut auf die Spur kommen wollen. Dem Mißtrauen gegenüber der Ich-Instanz eines seiner Sprache und Gefühle mächtigen Autors korrespondiert bei Derrida und Lacan eine bodenlose Faszination für das „Es“ und seine Möglichkeiten, sich zeichenhaft zu äußern. Dieses Es ist nach Goldschmidts Überzeugung durch die Erziehungsmethoden des 19. und frühen 20. Jahrhunderts besonders tribuliert worden. Das Es füllt den Körper aus, es will ihn sprengen, um freizukommen, damit alle sehen, was in ihm vorgeht. Das deutsche Erziehungssystem ist nach Goldschmidt deswegen so effizient, weil es sich auf die Unterjochung des Es gerichtet und seine Macht richtig eingeschätzt habe. Eine Erziehung, die vor unbekannten Gefahren und Strafen warnt, produziere gerade die Obsessionen, die sie verhindern will, weil der Vater ersten Verbote ausspricht, die das vorzivilisatorische Es, Tabuzonen des Körpers, betreffen, weil er zweitens vorgibt zu wissen, was der Sohn im Verborgenen verbotenerweise betreibt, und weil er drittens mit vagen, aber ungeheuerlichen Strafen droht. Die elterlichen Verbote und Zivllisierungsversuche vermischen sich für den Jungen Arthur auf ununterscheidbare Weise mit den antisemitischen Diffamierungen. Als Jugendlicher litt Goldschmidt unter den Nötigungen des Triebverzichts, der Aufschiebung und der Triebsublimierung keineswegs weniger als „normale“ (d.h. nicht-jüdische) deutsche Jungen, die deswegen später autoritäre Charaktere wurden, sondern als Jude mit einem von der deutschen Majorität angehefteten Stigma fühlte er diese Qualen doppelt so stark.

Die Idee, über die verschiedenen Leistungen der deutschen und französischen Sprache zu spekulieren und eine Theorie des Übersetzens zu formulieren, kam Goldschmidt, als er mit französischen Kollegen zusammen Freuds Abhandlung „Die Verneinung“ zu übersetzen versuchte. Goldschmidt bezeichnet Freuds aufklärerisches Anliegen, die Wege des Es in der Anamnese und Analyse sichtbar zu machen, selbst als Übersetzung von der weniger artikulierten Sprache des Es in die des Ichs. Die Artikulationen des Es, die durch die Sprache des Ichs gebrochen durchscheinen, sind im Deutschen anders präsent als im Französischen.

Goldschmidt kleidet die Versprachlichung psychischer Phänomene und die Bearbeitung verdrängter Erlebnisse in eine Allegorie, die im Titel seiner Untersuchung über Freuds Sprache anklingt: „Quand Freud voit la mer. Freud et la langue allemande“ (1988). Dieser Essay ist soeben in einer gut lesbaren Übersetzung von Brigitte Große und mit einem neuen Vorwort von Goldschmidt im Amman-Verlag herausgekommen.(56) Die Sprache ist mit dem Meer vergleichbar und das Unbewußte mit dem Meeresgrund in unsichtbarer Tiefe: das Wasser ist stets dasselbe und ändert fortwährend Farbe, Kraft und Gestalt; je nach Witterungsverhältnissen gibt es den Blick in die Tiefe preis oder trübt ihn.(57) Der Vergleich der Sprache mit dem Medium Wasser macht eine gegenaufklärerische Eigenschaft, gleichsam die verstellende Macht der Zeichen vis à vis dem Ausgedrückten klar. So durchsichtig das Wasser auch immer bei Windstille und steinigem Boden sein mag, ein Stab darin sieht immer aus, als sei er gebrochen; die Gegenstände erscheinen im Wasser immer deformiert.(58) D.h., die Sprache gibt zu erkennen, wovon sie spricht, aber nur vermittels der sprachlichen Zeichen. Jeder Text leitet das ab, wovon er spricht, und er deplaziert durch die mediale Transposition das, worüber er spricht. Jeder Text ist folglich Übersetzung und als solche a priori dem Significatum inadäquat. Nie kommt etwas so an die Oberfläche wie es in der Tiefe vorlag. Im Bild: Was man sieht, ist nicht mehr als eine Färbung und Bewegung der Meeresoberfläche. Das in der Tiefe Befindliche heraufzuholen, ist die Herausforderung an den Psychoanalytiker. Die Meeresbildlichkeit mit ihrer Unterscheidung zwischen Oberfläche und Tiefe deutet auf eine Sprachtheorie hin und impliziert zugleich die Subjekt-Theorie, die Jacques Lacan vertreten hat. Lacan war der Überzeugung, daß das Unbewußte so wie eine Sprache strukturiert sei. Freud habe deswegen das Sexuelle ins Zentrum seiner Betrachtungen gestellt, weil der Mensch nur noch stammelt, wenn er erregt und außer sich ist.(59) Dem Analytiker geht es um die Übersetzung dieses Gestammels, das auf Unbewußtes hindeute; der Sprachphilosoph interessiert sich darüber hinaus für die unterschiedlichen Leistungen der Sprachen bei dieser Übersetzung aus dem Unbewußten. Was das Französische nicht vermag, leistet hier vielleicht das Deutsche und umgekehrt. Die Theorie des Unbewußten sei dem deutschen Alltagssprachgebrauch besonders nahe. Nur ein Sprecher des Deutschen konnte, so Goldschmidts Überzeugung, die Terminologie der Psychoanalyse schaffen, die aus der Bildersprache der Patienten stammt. Die französischen Übersetzungen für „Unbewußtes“, „Trieb“, „Verdrängung“, „Ersatzbefriedigung“ etc. bestehen aus monströsen Kunstwörtern, die kein Fundament in der französischen Alltagssprache haben, welche von Kindern zuerst erworben wird. Zur Theorie des Unbewußten hätte sich nach Goldschmidt ein Frankophoner aufgrund der Morphologie und Bildlichkeit seiner Sprache andere Zugänge bahnen müssen als Freud sie, vom deutschen Sprachgebrauch ausgehend, entdeckt hat.(60)

Goldschmidt untersucht in Quand Freud voit la mer die Besonderheiten der deutschen im Vergleich mit der französischen Sprache. Er konzentriert sich dabei auf die Beschreibungssprache Freuds. Sein Ziel ist, Freud als hellsichtigen Sprachdiagnostiker und Spurenleser zu charakterisieren, dem die Eigenheiten des Deutschen seine Suche nach der Sprache des Unbewußten nahegelegt hätten. Eine Eigenheit des Deutschen ist nach Goldschmidt die Vermeidung von Abstracta. Die deutschen Bezeichnungen für Verborgenes bleiben an der Oberfläche und führen Bilder für das Unsichtbare ein, deren Bedeutungen Deutschen seit ihrer Kindheit bekannt sind. Die konkrete Sinnenhaftigkeit und Sinnfälligkeit der Sprache habe schon Leibniz bemerkt.(61) Abstrakte philosophische Begriffe wie Hegels „Aufhebung“ hätten auch einen alltagsprachlichen Sinn: Ich hebe mir die Schokolade bis morgen auf. Jedes Kind versteht, was „Durchfall“, „Bauchfell“, „Bauchspeicheldrüse“ und „Hals-Nasen-Ohren-Arzt“ bedeuten. Die Sprache steht immer schon mit ihren Bildevokationen zur Verfügung, bevor das Denken beginnt. Im Deutschen steht ein Repertoire von Vorstellungen für das Unbewußte zur Verfügung, das Freud nur zu entdecken brauchte. Trotz oder wegen dieser analytischen Fähigkeit des Deutschen habe jedoch „le crime absolu“ – die Shoah – auf dem Gebiet der deutschen Sprache stattgefunden, die absolut pervertiert wurde. Wieso hat die Sprache diese Möglichkeit ihrer Perversion zugelassen? Hat Freud nicht vorausgefühlt, was kommen würde?

Goldschmidt beginnt mit der komparatistischen Analyse der Begriffe „Unbewußtes“ „inconscient“.(62) Er untersucht, ob es Analogien im Französischen für die Bedeutung von „un-“, „be-“ und „wissen“ gibt. Das Französische sei relativ ärmer, weil es für „Gewissen“ und „Bewußtsein“ nur ein Wort gebe. Die lateinische Derivation mancher Wörter verstelle den Zugang zum Phänomen des Unbewußten. Während „inconscient“ diametral dem Sinn von „unbewußt“ entgegengesetzt sei, weil „-scient“ nämlich ein Partizip Präsens Aktiv sei und „être conscient de soi-même“ den Zustand äußerster Wachheit bezeichne, betone das Deutsche „bei Bewußtsein sein“ eher das Passive, Rezeptive des Zustands. „Conscient“ sei stärker zum Ich hin orientiert als daß es zum Es zeige. Das Unbewußte stehe schon dem Geschlecht nach näher beim Es als „inconscient“.

Die Wörter „Unbewußtes“, „Trieb“, „Abwehr“, „Verdrängung“, „Unterdrückung“ evozieren konkrete Vorstellungen, die aus dem Umgang mit dem eigenen Körper vertraut sind. Es sind Begriffe, deren Etymologie eine räumliche Vorstellung ihrer Wirkung nahelegt und die verwandt sind mit gebräuchlichen Wörtern der Alltagssprache. „Trieb“ kommt von „treiben“; „Triebwagen“, „Antrieb“, „Auftrieb“ sind morphologisch verwandt. Aufschlußreich ist der Vergleich zwischen „Verdrängung“ und „refoulement“, zwischen „Wiederkehr des Verdrängten“ und „retour du refoulé“ sowie die Analyse der Unterscheidung von „Verdrängung“ und Unterdrückung“. Im Französischen gibt es keine Möglichkeit, zwischen „wieder-“ und „zurück-“ zu unterscheiden; das Präfix „re-“ muß beide Bewegungen ausdrücken.(63) „Unterdrücken“ impliziert einen willentlichen Vorgang im Gegensatz zu „Verdrängung“. Goldschmidt registriert eine urtümliche Bewegung in der deutschen Sprache, die für „wieder“ und „zurück“ zwei unterschiedliche Wörter hat. Dem Deutschen ist die Angabe von konträren Bewegungsrichtungen wichtig. Es steht der kindlichen Wahrnehmung nahe, die vom regelmäßigen Hin und Her fasziniert ist. Diese Nähe zur Mentalität des Kindes, folglich auch die größere Affinität zum Triebleben sei für deutsche Wörter charakteristisch. So assoziiere jeder Deutsche, der sich über die Bedeutung von „Ausdrücken“ Gedanken macht, was er als Kleinkind einmal von der Mutter gehört habe: er solle kräftig „drücken“, alles Schädliche herauszwängen.(64) „Verschiebung“ ist hingegen das Wort für eine horizontale Bewegung. „Ausdruck“ sei also eine verräterische Metapher, bezeichne sie doch die Nähe zu der unaussprechlichen Situation, für die das Wort eigentlich urtümlich stand. Derartig bildhafte Wörter für abstrakte Vorgänge legen die Vermutung nahe, daß das Deutsche, ob sich der Sprecher nun dessen bewußt sei oder nicht, immer nur von dem Einen spreche: von der Faszination körperlicher Vorgänge, insbesondere sexueller Erlebnisse.

Die medizinischen und psychologischen Termini, die Franzosen gebräuchten, stammten dagegen alle aus dem Lateinischen oder Griechischen. Goldschmidt vertritt die These, daß die Sache – das Unbewußte mit seiner eigenwilligen Struktur verdrängter Erinnerungen – schon lange vor Freuds Psychoanalyse da war. Ja, die deutsche Sprache für psychische Regungen, auch die Literatursprache von Goethe, Schiller oder Stifter, mit der die deutschen Ärzte sozialisiert worden seien, falle durch ihre Anschaulichkeit auf. Wenn Freud in den Abhandlungen über die Psychopathologie des Alltagslebens zahlreiche Mißgriffe, Versehen, Versprecher registriert, muß er nur genau hinhören, was die Sprache gegen die Absicht ihres Benutzers eigentlich „erzählt“.

„Désir“ und „Trieb“ seien in der Bewegungsrichtung einander entgegengesetzt: „Trieb“ impliziere ein Drängen, Stoßen, das auch ohne ein Objekt, auf das es gerichtet sein könnte, da ist. „Désir“ setze dagegen die Existenz eines Objekts voraus, das ein Begehren evoziert. Unter Kultur versteht Freud die Kunst, die Triebe aus dem Unbewußten einzudämmen, einzudeichen und zu kanalisieren. „Eindämmung“, „Verdrängung“ und „Abwehr“ bezeichnen Kulturleistungen, die darauf zielen, die amorphe Triebstruktur zu bezähmen, den Menschen also zu zivilisieren. Im Verlauf seiner sprachanalytischen Untersuchung beschnuppert Goldschmidt mit seiner frankophonen Witterung auch „Erinnerung“ und setzt „erinnern“ in Beziehung zu „se souvenir“, „rappeler“. In „Jenseits des Lustprinzips“ spreche Freud im Zusammenhang mit Dingen, die unterhalb der Bewußtseinsebene verdrängt werden, von der Erinnerung. Mit „Erinnerung“ meine Freud überall das Wiederheraufholen verdrängter Phänomene, die in der Psychoanalyse angestrebt werde. Goldschmidt vermutet, die räumliche Vorstellung von „erinnern“, wonach man in den Innenraum des Gedächtnisses eintauche, habe Freud zu seiner Theorie des Unbewußten inspiriert. Auf dem Erinnerungsvermögen, aber zugleich auch auf der Weigerung, sich zu erinnern, beruhe die Entdeckung des Systems des Unbewußten. Jeder trage in sich unbewußte Erinnerungen. Freud griff bei der Formulierung seiner Theorie des Unbewußten nur den „Faden der Sprache“ auf. „Sich erinnern“ heißt wörtlich „mettre à l‘ntérieur de soi“. Etymologisch verwandt mit „erinnern“ sind Innerlichkeit, Innigkeit und Innenleben, auch verinnerlichen. Deutsche können „erinnern“ nicht mit direktem Objekt gebrauchen, sondern bevorzugt mit dem Genitiv. Franzosen sagen dagegen: „Je me le rappelle“. Nur ein anderer kann mich an etwas erinnern. Hier habe die Sprache die Rolle des Analytikers vorgezeichnet. Auch die Bewegungsrichtungen von „erinnern“ und „rappeler“ sind entgegengesetzt; „rappeller“ meint „heraufholen“, „wieder zurückrufen“; „erinnern“ bezeichnet hingegen den Vorgang der Selbstversenkung. Es scheine, als ob das Französische dort beginne, wo das Deutsche aufhöre. Denn der Franzose zieht, wo der Deutsche stößt, der Franzose ruft zurück, der Deutsche versenkt sich in sein Inneres. Dasselbe komplementäre Verhältnis findet Goldschmidt in „Schublade“ und „tiroir“ (eigentlich wäre dem Deutschen „poussoir“ analog). „Erinnern legt in diese Lade, was rappeler wieder herausholt. Das „Ungewußte“ von erinnern und rappeler in die Zange genommen, läuft Gefahr, ans Tageslicht gezerrt zu werden.“(65) Nach einem Bild Lacans durchquere die Wahrheit die Sprache. Keine Sprache enthalte sie allein, sondern die Wahrheit liege stets quer zu dem, was eine Sprache, die immer unpräzise bezeichnet, also lügt, überaupt sagen könne.

Es ist Goldschmidts besonderes Anliegen, aus den etymologischen und morphologischen Möglichkeiten des Deutschen die Bedingungen für die Entstehung des autoritären Charakters abzuleiten. Die Sprachanalyse von „Erziehung“, „Zucht“, „Züchtigung“ und die Beobachtung, daß „ziehen“ etymologisch darin steckt, bringt Goldschmidt auf den Gedanken, daß jeder Deutsche zur Zeit von Freud mit Arten der körperlichen Züchtigung vertraut gewesen sein müsse. Die Drohung des übermächtigen Vaters mit blumigen Strafen „Du weißt nicht, was dir blüht“ und die Verschleierung dessen, was dem Kind durch Drohungen verboten wird, mußten eine ungeheuerliche Wirkung auf die Phantasie des Kindes ausüben. Alice Miller habe in „Am Anfang war Erziehung“ herausgefunden, daß die meisten Nazi-Funktionäre in ihrer Kindheit geschlagen wurden. Die alltäglichen Repressionen von angedrohter Gewalt und Erregung der kindlichen Phantasie, was denn den Vater so erzürnen könnte, das brutale Losschlagen anstatt einer rationalen Erklärung, was das Kind denn falsch gemacht habe, hätten die moralische Entwicklung der deutschen Kinder gehemmt. Kein Wunder, daß diese geschlagenen Kinder als Erwachsene „Wiederholungstäter“ wurden und an den Opfern in den Lagern das wieder ausübten, womit sie gezüchtigt worden waren. Kennzeichen dafür seien die sprachlose Brutalität, die besondere Qual, dem Opfer den Zeitpunkt der Züchtigung, die Dauer und den Grund zu verschweigen, also die restlose Willkür der Strafaktionen. „Was die Opfer in den Lagern leiden ußten, hatten bereits die deutschen Kinder symbolisch (und in Wirklihckeit) erlitten. Der Weg, der damals von der Kindheit in die Welt der Konzentrationslager führte, war in manchen Milieus klar vorgezeichnet.“(66) In der deutschen Literatur kämen mehr Selbstmorde von Kindern vor als in anderen europäischen Literaturen. Besonders bedenklich im Hinblick auf eine Konditionierung in der Gewaltausübung findet Goldschmidt Wörter, die ursprünglich brutale Vorgänge ausdrücken, aber schon in der Alltagssprache eine metaphorische Bedeutung angenommen haben, welche die wörtliche Bedeutung – die vorzivilisatorische Grausamkeit – in Vergessenheit geraten läßt. „Sich einbohren“, „Bohrer“, „einlassen“, „eingelassen werden“, „unterliegen“, „sich unterwerfen“, „untertan sein“ sind dieser Art. Auch die Bevorzugung von „Einstellung“ und „Stellung“ anstelle von „Haltung“ sei ein Indiz dafür, daß man im Deutschen gewohnt sei, daß ein Anderer, z.B. ein Vorgesetzter, einen in eine Stellung bringe. Über meine Haltung hingegen bestimme ich selbst. Es scheint, als seien alle Sprachen nur Variationen einer vorzivilisatorischen Grundsprache, die obszön ist. Das Deutsche stehe ihr näher als das Französische. Die Entdeckung der Lust im Verborgenen, die Goldschmidt als Auflehnung gegen den Vater bezeichnet, gehe der sprachlichen Artikulation voraus. Das gemeinsame Wissen um die Quelle der Lust von Vater und Sohn grundiere erst ihre Wortgebung. Der Erzeuger ist auch Zeuge der frühkindlichen Spiele mit dem Verbotenen, er weiht den Sohn darin ein. Wieder deutet Goldschmidt zufolge die etymologische Verwandtschaft hier auf den Ursprung der Sprache aus der Bezeichnung des Obszönen, Tabuisierten und Verbotenen. Metaphern betrachtet Goldschmidt folglich als Verbiegungen eines ursprünglich obszönen Sinns, den Freud nur an die Oberfläche zu holen brauchte. Schizophrene sprächen dieses Verbotene unverblümt in ihren Phantasien aus.(67)

Goldschmidt glaubt, daß Freud die Absicht hatte, die Neigungen der Deutschen zur Gewalt – letztlich ihre sprachlich-kulturelle Prädisposition zum Genozid – bei der Behandlung psychopathologischer Fälle und in seinen Fallbeschreibungen anzudeuten. Er habe vor den Gefahren warnen wollen, die in den symptomatischen Anamnesen immer wieder im Zusammenhang mit der Lust am Verbotenen, der Übertretung strenger Verbote und grausamen Strafen auftauchten: die Wiederkehr des Verdrängten.

Goldschmidt bescheinigt der Psychoanalyse prognostischen und therapeutischen Wert für Phänomene, die erst durch Verdrängung und Aufschiebung zu pathologischen Exzessen führen und äußert den Verdacht, daß sie Freud zum Zweck des Selbstschutzes und der Prophylaxe gegen antisemitische Umtriebe entwickelt habe. Die Psychoanalyse sensibilisiere für künftige Bedrohung, daher werde sie nicht zu Unrecht als „jüdische Wissenschaft“ bezeichnet. Den Antisemitismus wertet Goldschmidt – ähnlich wie Freud die Religion – als kollektives Symptom, für dessen Diagnose und Therapie die Psychoanalyse eigentlich hervorragend geeignet sei.(68) Thomas Steinfeld hat Goldschmidts etymologische Versuche („Geist“ – auf schwäbisch „Geischt“ – im Bild: „Gischt“) als willkürlich verfahrende Sprachmagie kritisiert und mit Blick auf Walter Benjamins Übersetzungs- und Sprachtheorie nach Goldschmidts „Theologie“ gefragt.(69) Was aber Goldschmidt eigentlich dazu bewegt, die Leistungsfähigkeit des Deutschen im Vergleich mit dem Französischen zu prüfen, ist die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Suggestivität der Bilder und konkreten Bedeutungen im Deutschen, der Aktivität des Unbewußten und der Erziehung zur Verdrängung, denn dieser Zusammenhang sei der Nährboden für die nationalsozialistische Rassenideologie gewesen.

Die Faszination für die Vielseitigkeit des Deutschen, das jedem erlaube, Neologismen aus Komposita zu bilden, ist Goldschmidt mit Martin Walser gemeinsam. Erst nachdem er französische Bücher verfaßt hatte, ging Goldschmidt in Vorzug des Deutschen auf: jeder Dichter könne sich im Deutschen seine Ausdrücke neu erfinden, während er sie im Französischen ein fertiges Wörterbuch vorfindet. Johann berauscht sich allerdings an dem, was er nicht versteht, was fremd klingt und daher dem Alltagsgebrauch enthoben ist. Für Goldschmidt haben gerade diejenigen Wörter besonderen Reiz, deren Bestandteile eine je eigene Bedeutung haben, während über ihre zusammengesetzte Bedeutung die Reihenfolge ihrer Teile bestimmt. Beide Schriftsteller schätzen Komposita wegen der Freiheit, sie zu bilden, ganz besonders. Allein Walser bedenkt auch den Mißbrauch, den Benutzer von komplizierten Komposita zum Zweck der Vernebelung und Irreführung machen können.

Walser hat sich eine Sprachphilosophie zurechtgelegt, die darauf zielt, die Herrschaftssprache mit ihren semantischen Festlegungen und gewaltsamen Umdeutungen zu unterwandern. Die dichterische Sprache stattet er zum ideologiekritischen Instrument aus.

Wahre Schriftsteller sind Walser zufolge dem Mangel, der sie zum Schreiben zwingt, lebenslänglich ausgesetzt. Dichter sind Experten für Identitätsbeschädigungen, und ihre Werke haben therapeutischen Wert.(70) „Märchen und Religionen sind voll von Figuren, mit denen Leute ihre negativen Erfahrungen beantwortet haben. Der Autor war immer ein Kollektiv.“(71) Johann ist solch ein Held, an ihm könnten sich Walsers deutsche Altersgenossen ein Beispiel nehmen, wollten sie denn ihre frühkindlichen Beschädigungen, Vergewaltigungen und Anpassungsversuche an totalitäres Denken in einer narrativen Therapie als schlüssige, gradlinig fortschreitende Erzählung bewältigen. Je mehr einer gelitten habe, je weiter unten er sich befinde, „umso schöpferischer muß er sein, falls er es zu einer erträglichen Identität bringen will.“(72)

Mit Lückenwörtern wie IBDID oder EIDEI, die namenlos lassen, was ihm an Glücksempfindungen allein angehört, schafft sich Johann einen Freiraum für die Phantasie. Sie hält sich an ursprüngliche, authentische Empfindungen. „Winnetou“ las Johann anders, als es ideologisch opportun war, indem zumindest sein Ich-Ideal – der Engel, der an jenem Anita gewidmeten Tag daheim für ihn agierte – für die bedrohten Indianer Partei ergriff und ihr Recht auf Heimat verteidigte. Er selbst war auch ein solcher Indianer, dem der Dialekt näherlag als die bayerische oder schwäbische Schulsprache, mit der man nur zielstrebig Karriere machen konnte.

Mit rein gebliebenen Wörtern aus dem väterlichen Wörterbaum streckt Johann 1945 seine Fühler aus, um nach Gleichgesinnten Ausschau zu halten. Halbjuden und Kinder politisch Verfolgter sind es, die er als Seinesgleichen entdeckt. Sie sind für seine Gedichte empfänglich. Daß er von ihrem Schicksal in Wasserburg nichts gewußt habe, könne ihm angesichts seines Strebens nach sprachlicher Puritas nicht angelastet werden. Die Kultivierung einer Gegensprache hat Johann aber nicht der Dorfgemeinschaft entfremdet, geschweige denn, daß sie ihn daran hindern müßte, seiner Mutter beizustehen und zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen. Noch während er der Mutter die Äpfel von den Bäumen holt oder Kohlen ausliefert, bleibt er mit sich identisch.

Experimente in einer der Alltagssprache enthobenen Gegensprache verhalfen Johann zur Unabhängigkeit. Die Gedichte des Sechzehnjährigen taugten jedoch nicht dazu, Ideologien zu entlarven, die Halt- und Verantwortungslosigkeit des Krieges und die Unerreichbarkeit der Kriegsziele zu demonstrieren. Denn diese Jugendgedichte waren eben aus dem Sprachmaterial, das seine nationalsozialistischen Lehrer in der Oberschule benutzten, um aus den Klassikern einen Sinn herauszuwirtschaften, der sich für die Rassenideologie oder Durchhalteparolen instrumentalisieren ließ. Mit Ironie läßt Walser Johann mit schwärmerischen Liebesgedichten ins Leere laufen. Bisher habe er nur gedichtet, um sein Ziel – etwas Namenloses, was inadäquat mit „Glück“ umschrieben werde – zu erreichen. Sobald er glaubt, es in der Umarmung mit Lena erreicht zu haben, meint er, fortan keine Wörter mehr brauchen zu müssen. Walser weiß mehr von den Mängeln dieser Welt, die ihm Geschichten als Parabeln eingeben, als sein Protagonist, welcher noch an die Aufhebung des Mangelbewußtseins im anderen Zustand der Liebe glaubt.(73) Deutlich distanziert sich Walser von Johanns schlichter Sprach- und Erkenntnistheorie. Nur einen Aspekt der Verwendungsweise von Wörtern hat Johann allein kennengelernt. Dank seiner Fähigkeit, neue Wörter zu bilden und Phantasienamen zu erfinden, „kommt dem jugendlichen Dichter die Sprache vor wie noch nie benutzt. Er ist der erste, der Wörter zusammenschmilzt, die bis dahin voneinander noch nichts wußten.“(74) Außerdem ist Johann ein Authentizitätsfanatiker: Er schreibe nur über Empfindungen, die er selbst gehabt habe. „Niemand sollte ihm eine Empfindung abverlangen, die er nicht selbst hatte.“ Wovon er nichts weiß, das könne ihm keiner vorwerfen. An der Verfolgung der Juden fühle sich der Wasserburger Bub daher unschuldig.(75) Von der Erkenntnis, daß sich Sprache nicht zur Rechenschaft ziehen lasse, weil sie kein moralisches Wesen sei, ist Walsers Protagonist jedoch noch weit entfernt. Es fehlt Johann die Übersicht über die Verwendungsvielfalt der deutschen Sprache, für gute und trügerische Absichten. Sein Wasserburger Horizont reicht zunächst nicht über die moralische Umwertung solcher Wörter hinaus, die von Adolf Brugger und seinem Vater entwertet worden seien. Gleichwohl befindet sich Johann auf dem Weg zu Walsers Sprachphilosophie. Der Essay über „Einheimische Kentauren“ faßt sie zusammen. Johann teilt mit seinem Autor die Faszination für die magische Qualität fremder Laute. Er berauscht sich an Wörtern, die keine Referenz haben oder deren Bedeutung im reichsdeutschen Sprachkosmos ins Leere läuft. Sie lösen Wörter wie „Erlösung“ ab, mit denen ihn Pfarrer und Gesangbuch bekannt gemacht haben. Der Vater weihte ihn in fremde Wörter ein, die feierlich klangen, weil sie keine Instrumente der Alltagsbewältigung waren, also auch nicht in trügerischer Absicht mißbraucht werden konnten. Im Deutschen können neue Komposita gebildet werden, die aus Adjektiv und Nomen oder aus Substantiven bestehen, von denen eines im Genitiv oder Dativ stehen kann. Solche „Kentaurenwörter“ eignen sich einerseits gut „zur Einschüchterung, zur Verhetzung, zum Aufputschen“. „Es sind Kentauren aus Begriff und Realität, und der reale Rumpf muß herhalten, einem leeren Begriff reale Existenz zu erschleichen.“(76) So gefährlich Wörter dieser Art zum Beispiel in der „Lingua tertii Imperii“ sind, kann die Empfindlichkeit gegenüber ihrem Mißbrauch doch gelernt werden.(77) Johann sensibilisert sich mit Hilfe von Klopstock, Schiller, Nietzsche und Stefan George, ohne allerdings selbst auf die verführerische Möglichkeit poetischer Neubildungen zu verzichten. Schon Johann macht die Erfahrung, daß Schriftsteller durch ihre Brauchbarkeit für die Errichtung von Gegenwelten und Ausstattung von Utopien zu Klassikern werden. Brauchbarkeit ist das Kriterium für Klassizität. „Brauchbarkeit entsteht durch historische Bedingungen. Wenn der Bürger Selbstbewußtsein braucht, ist Goethe fällig. Wenn dem unsittlichen, also häßlichen Feudalismus die bürgerliche Freiheit als das menschlich Schönste entgegentreten soll, ist Schiller fällig. Wenn es, trotz allen geschichtlichen Veränderungsdonners in der Welt, im deutschen Land nicht besser werden will, muß, wer nicht ersticken will, mit Jean Paul in seine zweite Welt in der hiesigen flüchten.“(78) Seine Vertrautheit mit einer solchen zweiten Welt hat Johann dazu ermächtigt, sich in einer neuen Welt nach dem Sieg der Alliierten zurechtzufinden.

Der Preis, den der Oberschüler Johann während der Ausbildung zum Gebirgsjäger für die Produktion zahlloser Komposita aus zehn Buchstaben gewinnt, ermutigt ihn auf dem Weg zur schriftstellerischen Selbsterfahrung.(79) Durch den spielerischen Umgang mit der Sprache schafft der Dichter neue Wörter, an denen das Mängelbewußtsein und Ausdrucksbedürfnis einer Generation ablesbar ist. Um seine Kreativität zu erproben, ist ihm jede Situation recht. Auch als Gebirgsjäger liest Johann weiter und läßt sich von der Natur, in der er wehrtüchtig werden soll, zu dichterischen Höhenflügen inspirieren. Johann habe das Beste aus einer Situation gemacht, die andere ideologisch verdorben habe.

„1933 wurde unsere Sprache eingezogen, dienstverpflichtet. Wie schnell sie funktionierte, wie schnell die Wörter ausgerichtet, in Reih und Glied gestellt werden konnten, ist nicht so erstaunlich, wenn man das spezielle Training bedenkt, das diese Sprache hinter sich hatte. Unsere Sprache war vorbereitet, Wörter zu bilden, denen in Wirklichkeit wenig oder nichts entsprach. Und die Bevölkerung war seit Generationen gewöhnt an solche Wörter, deren ‚Wirklichkeit im Jenseits bleibt‘ (Marx).“(80)

In der Schule seien Walsers Altersgenossen „mit herabgewirtschaftetem Ideenvokabular“ schlecht ernährt worden. „Die Anfälligkeit gegen voluminösen Wortwust wird präpariert. Und falls im rechten Augenblick ein Hitler kommt, kann er auf diese Anfälligkeit bauen.“(81) Der Sprache selbst sei deswegen kein Vorwurf zu machen, erst recht nicht demjenigen, der mit ihren Möglichkeiten experimentiert, denn solche Sprachspiele mit Lauten, Klängen, Rhythmen aus einem allerdings auch für andere Verwendungszwecke verfügbaren Sprachmaterial immunisieren gegen jene Anfälligkeit.

„Die Sprache ist keine Person. Sie hat manipulierbare Möglichkeiten; aber ihre besten Möglichkeiten widersetzen sich der Manipulation, der Sprachregelung. […] Der Zeitgenosse war stumm oder emigriert. […] Die Sprache der Opfer machte das Schreiben wieder möglich.“(82)

Sie zu lernen, dazu hatte Johann dank seiner Schulung in der Gegensprache nach 1945 gute Voraussetzungen. Aus Johann wurde Martin Walser, der Schriftsteller.

Strukturanalogien in Autobiographien der Jahrgänge 1927/28 im Lichte der narrativen Psychologie

Der von Jürgen Straub herausgegebene Tagungsband „Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein“ vereint Beiträge von Psychologen und Historikern über das Erzählen von Lebensgeschichten, über die therapeutische Leistung narrativer Sinnbildung und die Herkunft des narrativ strukturierten Zeit- und Geschichtsbewußtseins. Die Frage, „ob (und aus welchen Gründen) […] solche ‚Leistungen‘ für erstrebenswert […] oder nicht“ zu halten seien, wird von Psychologen, Historikern und Literaturwissenschaftlern durchaus unterschiedlich beantwortet.(83) Psychologen haben im Umgang mit Patienten, die wegen ihrer Probleme, mit ihrem vergangenen Leben zurecht zu kommen, ihre Hilfe aufsuchen, ein differenziertes hermeneutisches Rüstzeug entwickelt, um die narrativen Strukturen problematischer Lebensgeschichten zu analysieren.(84) Literaturwissenschaftler sind es gewohnt, sie in den Kategorien Hans Georg Gadamers zu beschreiben, während die Psychotherapeuten lieber Anleihen bei der Gestalttheorie (wie Gabriele Rosenthal) oder der Theorie des Unbewußten von Freud machen. Auch der Psychotherapeut will verstehen, wo die konfliktträchtigen Brüche liegen, indem er untersucht, wie ein Patient sie charakterisiert oder warum er sie glätten will. „Das Vorliegen nicht artikulierter, pränarrativer Erfahrungen dient als Korrektiv oder Leitfaden für die reflexiv gebildete Geschichte. Nun kann nicht einfach jedes beliebige Erzählen auf authentische Weise das Pränarrative in eine legitime Darstellung integrieren. […] Narrative Konstruktionen müssen kontinuierlich nachjustiert werden, bis man mit ihnen – aus der Perspektive des gegenwärtigen Standpunktes – als adäquaten symbolischen Transformationen gelebter Erfahrung zufrieden ist.“(85) Die Produktionsästhetik habe Gadamer anschaulich beschrieben: „Alle Anfänge liegen im dunkeln, ja mehr noch, sie können allein im Lichte dessen, was später kommt und aus der Perspektive dessen, was folgt, ins Licht gerückt werden.“(86) Sie müsse in der Rezeptionsästhetik rekonstruiert werden, damit es zu einer „Horizontverschmelzung“ komme.

Wer lebensgeschichtliche Zeugnisse als narrative Bewältigungsversuche von Krisenerfahrungen verschiedener Schwierigkeitsgrade verstehen will, ohne sie ästhetisch bzw. ihre Verfasser ethisch bewerten zu wollen, kann sich aus den Beiträgen der narrativen Psychologen in Straubs Sammelband Anregungen holen. Zwei Ansätze möchte ich zum Schluß wiedergeben.

Donald E. Polkinghore unterscheidet in den Lebensgeschichten, die ihm Patienten in der therapeutischen Situation erzählt haben, drei Arbeitsvorgänge.

a) Erinnerungen als Rekonstruktionen von vergangenen Ereignissen, b) Glättungsvorgänge, die gestalthafte Figuren ergeben und c) Verwendung kulturell verfügbarer Plots.

Zu a): „Erinnerung ist eine partielle Rekonstruktion der Vergangenheit, die Gedächtnisspuren nach Maßgabe gegenwärtiger Bedürfnisse und Deutungen berücksichtigt und verknüpft.“(87) Zeugnisse wie Fotos, Pässe, Kleidungsstücke evozieren Erinnerungen, die jedoch je nach Zeitpunkt verschiedene Interpretationen veranlassen. Die ästhetische Transformation der Erinnerungsinhalte ist abhängig vom Verhältnis zwischen jeweiliger Gegenwart und Vergangenem, in dem entweder gerade die Gegensätze oder die Analogien den Erinnerungsprozeß in Gang rufen können. Maurice Halbwachs erklärte die Kreativität des Erinnerungsvermögens folgendermaßen: „Das Gedächtnis läßt die Vergangenheit nicht wiederaufleben, sondern es rekonstruiert sie.“(88) Dazu seien in der Gegenwart analoge Erlebnisse nötig, die früher Erlebtes wieder aufriefen. Bei der Rekonstruktion der Erinnerungen Erwachsener an Kindheitserlebnisse geht Halbwachs davon aus, wie gern Erwachsene ein Kinderbuch oder Kinderfotos anschauen, in der Hoffnung, dadurch würden in ihnen Empfindungen von damals lebendig. Der Umstand, daß wir dazu Relikte brauchen und zum Teil wie Reliquien verehren, gemahnt uns daran, daß wir unsere Vergangenheit in der Gegenwart rekonstruieren. Durch Wiederholungen solcher Rekonstruktionen entsteht ein fixes Bild von meinem Ich als Kontinuum meiner Vorstellungen.

Zu b): „Die Erzählung hebt, ganz wie die visuelle Gestaltwahrnehmung, von einem Hintergrund jene Elemente ab, welche das Muster oder den Plot bilden, auf den sich die Aufmerksamkeit richtet.“(89) Geordnet werden die amorphen Erinnerungsstücke um einen oder zwei Hauptplots, die lebensgeschichtlich für so bedeutend gehalten werden, daß sie die Dramaturgie des Glättens, Ausscheidens, Kondensierens, Überhöhens etc. bestimmen.

Zu c): Anknüpfungspunkte der individuellen Erinnerungen an das kollektive Gedächtnis werden gesucht, um die Lebensgeschichte als Teil der Geschichte einer sozialen oder ethnischen Gruppe oder der tragischen Nationalgeschichte zwischen 1933- und 1945 verständlich zu machen. Lind, Goldschmidt und Walser (im übrigen auch Gerhard Durlacher, Cordelia Edvardson und Ruth Klüger) gliedern ihre Lebensgeschichten mit Hilfe derselben weltgeschichtlichen Zäsuren, mit denen Stationen der kindlichen Entwicklung verzahnt sind: die Vorschulphase fällt in die politisch und wirtschaftlich instabilen Endjahre der Weimarer Republik, in denen Nazi-Anhänger der ersten Stunde aus kindlicher Perspektive als halbstarke Heldenfiguren und große Vereinfacher im Gedächtnis Spuren hinterlassen haben. Die Pogromnacht am 9. November 1938 und der Kriegsausbruch prägten sich dem kindlichen Bewußtsein als Einschnitte ein, die ihnen die Sicherheit nahmen, daß ihre Eltern sie beschützen würden und daß der Schulalltag so unbekümmert weiter ginge wie bisher. Der dritte historische Einschnitt wird durch die Niederlage im Mai 1945 markiert. Dieses Datum ist für die Jugendlichen zugleich der Beginn eigenständiger beruflicher Orientierung, und die Bindungen an das Elternhaus haben sich entwicklungsgemäß gelockert. Für den Psychologen sind kunstvoll stiliserte Autobiographien nur ein Sonderfall. Zur Normalität gehören eher mündliche Berichte, die „von der Leber weg“ erzählt oder mit Hilfe von Assoziationen phantasiert werden. Lebensgeschichten als Mittel der Sinnkonstitution haben eine öffentliche Funktion und dienen zur Vergewisserung personaler Identität. Polkinghorne bietet seinen Patienten eine „narrative Therapie“an, die es ihnen durch die Art, wie sie sich selbst zum Helden von Geschichten machen, erleichtern soll, dem eigenen Leben Einheitlichkeit und Ganzheit zu verleihen.(90) Die narrative Psychologie konvergiert mit der Mentalitätengeschichte in dem methodischen Bemühen, die besonderen persönlichen Wahrnehmungen und ihre entwicklungs- und sozialisationsbedingten Muster als Quellen für die jeweils subjektive Sinnkonstitution ernst zu nehmen. Beide Wissenschaften teilen die „postmoderne“ Skepsis gegenüber einer Authentizität beanspruchenden Erzählung und setzen sich das Ziel, die individuellen und sozialgeschichtlichen Gründe herauszufinden, die den Autor einer Lebensbeschreibung zu einer bestimmten Erzählstrategie veranlaßten. Während der Literaturwissenschaftler auf Lejeunes Spuren im Falle von Walsers Roman „Die verteidigte Kindheit“ und seiner Kindheitserzählung „Ein springender Brunnen“ also nur konstatieren kann, daß beide Werke der Gattung des Romans angehören, weil ihre Protagonisten nicht mit dem Autor identisch sind, bietet die narrative Psychologie ihre Hilfe beim Versuch an zu erklären, wieso Walser Wasserburger Kindheitserfahrungen in einer Romanform modelliert, welche Alfred Dorns ostdeutsche Kindheit wie in einem Spiegelbild erscheinen läßt. Auf ähnliche Weise vermag der therapeutisch geschulte Blick narrativer Psychologen auch präziser zu erklären, in welchem Verhältnis beispielsweise Klaus Manns Lebensbericht „Der Wendepunkt“ zu seinem Exilroman „Der Vulkan“ steht, enthält doch nur dieser konkrete Schilderungen, wie einem Drogenabhängigen zumute ist, der sich einer Entziehungskur unterwirft. Auf die Offenlegung seiner aus den Tagebüchern bekannten Drogenprobleme hat Klaus Mann hingegen in seinem Lebensbericht verzichtet, kam es ihm doch im „Wendepunkt“ darauf an, die Bedingungen für sein berufliches Scheitern mit dem Schicksal einer Interimsgeneration zu verknüpfen, die zwischen zwei Kriegen herangewachsen sei. Wie viel leichter war es für Klaus Mann, eine Romanfigur mit den eigenen Drogenkonsum-Erfahrungen auszustatten und gleichsam im Experiment vorzuführen, welch geringe Überlebenschancen ein Drogenabhängiger unter den Bedingungen von Vertreibung und Exil habe.(91) Klaus Mann verteilte das, was er über seine Situation zu sagen wußte, auf zwei Bücher, wobei die Romanform sich als therapeutisch günstige Narrationsform anbot, um eigene Probleme am Beispiel einer Kunstfigur aus der auktorialen Fremdperspektive durchzuarbeiten. Die Bücher eines Autors, deren Entstehung in eine auch persönlich als solche erlebte Krisenzeit fällt und deren poetische Mikrokosmen einen autobiographischen Raum eröffnen, sind, wie mir scheint, hervorragend geeignete Analyseobjekte der narrativen Psychologie.

Jerome S. Bruner hat zehn „Gesetze“ für Strukturpläne narrativer Konstruktionen von Lebensgeschichten induziert, die, wie ich finde, auch den strukturellen Besonderheiten der Lebensberichte der Jahrgänge 1927/28 gerecht werden. „Um erzählenswert zu sein, muß eine Erzählung der Erwartung zuwiderlaufen“.(92) Autobiographien der Jahrgänge 1927/28 weichen in dreifacher Hinsicht von dem durch Goethes Autobiographie geprägten Gattungsmuster ab, dem beispielsweise Elias Canettis dreibändige Lebensbeschreibung noch verpflichtet war(93) . Unkonventionell ist die Inkongruenz zwischen kindlichen Wahrnehmungen und historischem Wissen. Ungewohnt ist außerdem die Art und Weise, wie Autoren von Erinnerungsbüchern die Spätfolgen ihrer Kindheitstraumata im NS-Terrorsystem in ihrer Art zu schreiben offenbaren. Neu ist schließlich auch der Dialog, den sichdiese Autoren insbesondere mit Lesern der „zweiten“ und „dritten Generation“ erhoffen. Psychologische Studien in Israel und Deutschland zeigen, daß die Kommunikation zwischen Angehörigen der Verfolgten mit der Enkelgeneration als unkomplizierter empfunden wird als die Weitergabe von Eindrücken persönlichen Leidens an die nächste Generation.(94) Die verständliche Absicht der Überlebenden der Shoah, ihre Kinder mit ihren Erinnerungen nicht zu belasten, sondern ihnen eine normale Entwicklung zu ermöglichen, wurde von den Kindern durchschaut und darf gerade deshalb als mißglückt gelten.

Ein anderes Merkmal der Lebensgeschichten ist die Mehrdeutigkeit oder „horizontale Vieldeutigkeit“ (Roman Jakobson) der Referenz in Lebensrückblicken auf historische Tatsachen: „Die Erzählung schafft oder konstituiert ihre Referenz, die ‚Wirklickeit‘, auf die sie zeigt, in einer Weise, die diese Referenz so vieldeutig macht, wie es die Bezugnahme der Philosophen auf die ‚Wirklichkeit‘ gerade nicht tut.“(95) D.h., es kommt nicht darauf an, daß die Geschichten, die Walser von Johann, seinem Freund Adolf Brugger sowie dessen Vater und vom Zirkus der Familie Wiener erzählt, nachprüfbar wahr sind. Indem Walser Johann zum Protagonisten seiner Geschichte erwählt, macht er den Lesern klar, daß es keine Verbindung zwischen den aus der Perspektive eines allwissenden Autors geschilderten Kindheitseindrücken Johanns und den Absichten des Autors Martin Walser gibt, seinen eigenen Lebensweg und beruflichen Werdegang zu rechtfertigen. Auch die Empfindungen des Jungen Arthur in der „Absonderung“ und der „Aussetzung“ repräsentieren ein wahnhaftes Angstsystem, das nicht notwendig den äußeren Bedrohungen entsprechen muß. Goldschmidt konfrontiert uns mit der Wirklichkeitssicht seines Helden, der seine psychologisch wohlbegründete Empfindung, ausgesetzt zu sein, nach außen projiziert.

Ein anderes Merkmal trifft sowohl auf mündliche Erzählungen von Katastrophengeschichten als auch auf ihre fiktionale Gestaltung zu. Früh lernen wir als Kommunikationspartner, Erzählungen derselben Ereignisse, die wir selbst kennen, in verschiedenen Versionen zu akzeptieren, die durch jeweils unterschiedliche Perspektiven und Wahrnehmungsweisen bedingt sind.(96) Welche Version „richtig“ oder „falsch“ ist, wie es mit ihrer Glaubwürdigkeit bestellt ist, erscheint intersubjektiv aushandelbar, zunächst aber begegnen Zuhörer und Leser einer fremden Version mit einem Vertrauensvorschuß und Toleranz. Genau diesen Prozeß setzten Autoren wie Jakov Lind, Cordelia Edvardson, Georges-Arthur Goldschmidt und Ruth Klüger in Gang, als sie ihre traumatischen Erinnerungen als verhandelbare Versionen ihrer Sicht der Realität des NS-Staates zur Diskussion stellten. Wer seine Erinnerungen an eigene leidvolle Erfahrungen als Verfolgter und Diskriminierter veröffentlicht, will, daß seine Leser darüber sprechen und sie weitervermitteln. Ruth Klüger ermuntert sogar ihre Leser dazu, sich lieber im Lichte der eigenen Erfahrungen vorzustellen, was es bedeutet, tagelang in einem Viehwaggon eingesperrt zu sein, anstatt angesichts der Unverhältnismäßigkeit des zu Vergleichenden ehrfurchtsvoll zu verstummen.(97) Diesen Anspruch auf Verhandelbarkeit von Erfahrungen Gleichaltriger nimmt Walser ernst. Auf die Wirklichkeitsversionen seiner jüdischen Altersgenossen bezieht sich die „eigentümliche“(98) Wirklichkeitssicht in „Ein springender Brunnen“.

Anmerkungen

(1) Martin Walser: Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1998: Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede. Frankfurt a.M. 1998, S. 16 und 18.

(2) [Frank Schirrmacher:] Wir brauchen eine neue Sprache der Erinnerung. Das Treffen von Ignatz Bubis und Martin Walser: Vom Wegschauen als lebensrettender Maßnahme, von der Befreiung des Gewissens und den Rechten der Literatur. In: FAZ vom 14. Dezember, S. 39-41, hier 39 und 41.

(3) Martin Walser: Unser Auschwitz (1965). In: ders.: Werke in 12 Bänden. Frankfurt a.M. 1997, hier Bd. XI, S. 158-172. Außerdem in: ders.: Heimatkunde. Aufsätze und Reden. Frankfurt a.M. 1998 (11968).

(4) Ebd., S. 171.

(5) Martin Walser: Auschwitz und kein Ende (1979). Ebd., XI, S. 630-636, hier 635. Auch in: ders.: Über Deutschland reden. Frankfurt a.M. 1989, S. 24-31, hier 29.

(6) Walser: Unser Auschwitz, S. 18.

(7) Walser: Händedruck mit Gespenstern (1979). In: ders.: Heimatkunde, S. 14f.

(8) Walser: Ein springender Brunnen. Frankfurt a.M. 1998, S. 9.

(9) Ebd., S. 281f. (Beginn des 3. Teils).

(10) Walser: Über Deutschland reden, S. 76f.

(11) Walser: Händedruck mit Gespenstern, S. 8.

(12) Walser: Über Deutschland reden, ebd. 76f.

(13) Erika Mann: The Lights go down. Translated by Maurice Samuel. New York/Toronto 1940.

(14) Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt. Aus dem Französischen von Wolfgang Bayer und Dieter Hornig. Frankfurt a.M. 1994 (1 1975), S. 31. Zur Problematik der Referenz in Prousts „A la recherche du temps perdu“ s. Paul de Man: Autobiographie als Maskenspiel. In: ders.: Die Ideologie des Ästhetischen, hg. von Christoph Menke. Frankfurt a.M. 1993, S. 131-146, hier 133.

(15) Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 34.

(16) Georges-Arthur Goldschmidt: Ein Garten in Deutschland. Aus dem Französischen von Eugen Helmlé. Frankfurt a.M. 1991 (11986); ders.: Die Absonderung. Frankfurt a.M. 1993 (1 1991); ders.: Die Aussetzung. Zürich 1996.

(17) Imre Kertész: Roman eines Schicksallosen. Aus dem Ungarischen von Christina Viragh. Berlin 1995 (11975); ders.: Kaddisch für ein ungeborenes Kind. Aus dem Ungarischen von György Buda und Kristin Schwamm. Berlin 1996 (11991); ders.: Galeerentagebuch. Aus dem Ungarischen von Kristin Schwamm. Berlin 1996. In seinen jüngsten Aufzeichnungen „Ich – ein anderer“ begründet Kertész die Selbstentfremdung des Ichs im Fluß der Zeit (Berlin 1998). Zum „autobiographischen Raum“ s. Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 45-48.

(18) Martin Walser: Auskunft. 22 Gespräche aus 28 Jahren, hg. von Klaus Siblewski. Frankfurt a.M. 1991. In seinem Deutschland-Roman „Die verteidigte Kindheit“ hat Walser das Problem einer unter widrigen politischen Umständen verlorenen und vom Streit der Eltern persönlich überschatteten Kindheit am Beispiel des Ostdeutschen Alfred Dorn geschildert. Alfred Dorns Heimatliebe ist ein ostdeutsches Spiegelbild der programmatischen Heimatverbundenheit Walsers. Martin Walser: Die Verteidigung der Kindheit. In: Walser: Werke, Bd. VI. Frankfurt a.M. 1997. Dazu s. Erich Wolfgang Skwara: Ein Parzival-Roman der deutschen Teilung. Martin Walsers „Die Verteidigung der Kindheit“. In: Heike Doane/Gertrud Bauer Pickar (Hgg.): Leseerfahrungen mit Martin Walser. Neue Beiträge zu seinen Texten. München 1995 (= Houston German Studies 9), S. 189-195; Ursula Reinhold: Figuren, Themen und Erzählen: „Die Verteidigung der Kindheit“ in ästhetischen, poetologischen und politischen Kontexten. Ebd., S. 196-215.

(19) Primo Levi: Ist das ein Mensch? Aus dem Italienischen von Heinrich Riedt. München 1992 (1958), bes. S. 104-121, hier 105.

(20) In „Das periodische System“ (Turin 1975, deutsche Übersetzung von Edith Plackmeyser, München 1992) stellt Levi den Zusammenhang zwischen seinem Beruf und den Beobachtungen in Auschwitz selbst her. Vgl. bes. die Kapitel „Cer“ und „Kohlenstoff“, auch das Nachwort von Natalia Ginzburg, S. 251-257.

(21) Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. Stuttgart 21980, S. 31.

(22) Jorge Semprun: Die große Reise. Aus dem Französischen von Abelle Christaller. Frankfurt a.M. 1981 (11963); ders.: Was für ein schöner Sonntag! Aus dem Französischen von Johannes Piron. Frankfurt a.M. 1984 (1 1981).

(23) Jakov Lind: Counting my Steps. London 1969; ders.: Selbstporträt. Frankfurt a.M. 1970.

(24) Cordelia Edvardson: Gebranntes Kind sucht das Feuer. Aus dem Schwedischen von Anna-Liese Kornitzky. München 1986 (11985); Gerhard L. Durlacher: Streifen am Himmel. Vom Anfang und Ende einer Reise, Aus dem Niederländischen von Maria Csollány. Hamburg 1994 (11985), ders.: Ertrinken. Eine Kindheit im Dritten Reich. Aus dem Niederländischen von Maria Csollány. Hamburg 1993; Ruth Klüger: weiter leben. Göttingen 1992. Zu Goldschmidt und Kertész s. Anm. 16 und 17.

(25) Hans Keilson: Sequentielle Traumatisierung bei Kindern. Deskriptiv-klinische und quantifizierend-statistische follow-up Untersuchung zum Schicksal der jüdischen Kriegswaisen in den Niederlanden. Stuttgart 1979, S. 55-59 und 84.

(26) Die Beiträge liegen vor in einem Sammelband vor. Alexander Friedmann/Elvira Glück/David Vyssoki (Hgg.): Überleben der Shoah – und danach. Wien 1998. Hans Keilson faßt die Ergebnisse seiner Untersuchung hier auf S. 109-126 zusammen.

(27) Vgl. Brigitte Ungar-Klein: Überleben im Versteck – Rückkehr in die Normalität? In: Friedmann/Glück/Vyssoki (Hgg.): Überleben der Shoah, S. 31-40; Micha Neumann: Psychische Folgen für die Kinder der Nazopfer, ebd., S. 100-108; Yitzhak Elzas: Die Emanzipation der jüdischen Nachkriegsgeneration in den Niederlanden, ebd., S. 127-137; Haim Dasberg: Entwicklungsbedürfnisse alternder Child Survivors. Bericht über eine narrative Gruppe in AMCHA, ebd., S. 138-149. Vgl. auch die Fallstudien über traumatisch belastete Kinder in verschiedenen Krisengebieten in Roberta J. Apfel/Bennette Simon (Hgg.): Minefields in Their Hearts. The Mental Health of Children in War and Communal Violence. Yale University 1996.

(28) Ausdrücklich Bezug auf Keilsons Erklärungskonzept der „Sequentiellen Traumatisierung“ nimmt Eberhard Gabriel in seinem Beitrag: Posttraumatische Belastungsstörung. Theoretische Grundlagen, ebd., S. 58-67.

(29) Ebd., S. 222. Kinder im Alter von 10-13 Jahren gehören in Keilsons Untersuchung zur fünften Altersgruppe. Die sechste Altersgruppe (14-18 Jahre) erlebte in den Niederlanden den Schock der Trennung von Zuhause erst 1942. Im deutschen Reich und in Österreich würde man mit Keilson zu einer anderen Periodisierung der Traumatisierungen kommen.

(30) Ebd., S. 226 und 248.

(31) Ebd., S. 245.

(32) S. 246.

(33) Barbara Bauer: Drama-Märchen-Gleichnis-Parabel. Wie Kinder den Holocaust erlebten und wie sie ihre Erfahrungen als Erwachsene darstellten. In: Viktoria Hertling (Hg.): Mit den Augen eines Kindes – Children in the Holocaust, Children in Exile, Children under Fascism. Amsterdam 1998 (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur, S. 51-85; dieselbe: Die Immoralität der Nazi-Welt aus der Sicht von Kindern und Jugendlichen in Erinnerungsbüchern Überlebender des Holocaust. In: Barbara Bauer/Waltraud Strickhausen (Hgg.): „Für ein Kind war das anders“. Jüdische Kindheit im NS-Terrorsystem. Berlin 1999 (im Druck).

(34) Lind: Selbstporträt. Aus dem Englischen von Günther Danehl. Frankfurt a.M. 1970, S. 25.

(35) Ebd., S. 29.

(36) Goldschmidt: Ein Garten in Deutschland.

(37) Lind: Selbstporträt, S. 67.

(38) Ebd., S. 131.

(39) Ebd., S. 135.

(40) Walser: Ein springender Brunnen, S. 158-161.

(41) Ebd., S. 203.

(42) Ebd., S. 204.

(43) Ebd., S. 205.

(44) Ebd., S. 299-307, 349f.,399f.

(45) Die folgende Interpretation verdanke ich der vorzüglichen Diskussion mit Studierenden eines Forschungsseminars von Prof. Dr. Peter Rusterholz (Bern).

(46) Karl Kraus: Die dritte Walpurgisnacht, hg. von Heinrich Fischer. Frankfurt a.M. 1967

(47) Barbara Bauer: „Unter dem Eindruck der Ereignisse in Deutschland“. Canettis poetische Kritik an der Macht und Machtwahn der Männer und der Sprache der Gewalt. I: Gerhard Neumann (Hg.): Elias Canetti als Leser. Münchner Symposion zu seinem 86. Geburtstag. Freiburg 1996, S. 77-111.

(48) Klaus Mann: Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht, mit einem Nachwort von Frido Mann. Reinbek 1987, S. 425f., 429f. und 438-441. Von 1942 an führte Klaus Mann sein Tagebuch auf Englisch. Vgl. Klaus Mann: Tagebücher 1940-1943, hg. von Joachim Heimannsberg, Peter Laemmle und Wilfried F. Schoeller. München 1991.

(49) Elias Canetti: Wortanfälle. In: ders.: Das Gewissen der Worte. Frankfurt a.M. 1981, S. 170-174

(50) Lind: Selbstporträt, S. 56.

(51) Ebd., S. 57.

(52) Ebd., S. 64f.

(53) Ebd., S. 99f.

(54) Durlacher: Ertrinken, S. 11.

(55) Peter Handkes Vorwort zu Goldschmidt: Die Absonderung, S. 8.

(56) Georges-Arthur Goldschmidt: Als Freud das Meer sah. Freud und die deutsche Sprache. Zürich 1999 (11988). Die Fußnoten sind in der deutschen Fassung ausführlicher und übersichtlicher.

(57) Deutsche Version S. 15, französ. Fassung S. 13.

(58) Deutsche Version, S. 46, französ. Original S. 49.

(59) Deutsche Version, S. 82, französ. Original S. 92.

(60) Dies ist vor allem das Thema des zweiten Bandes. Goldschmidt: Quand Freud attend le verbe. Paris 1996.

(61) Deutsche Fassung S. 28f., französ. Version S. 31.

(62) Deutsche Fassung S. 35-45, französ. Version 45-48.

(63) Deutsche Fassung S. 47-50, französ. Version 51-53.

(64) Deutsche Fassung S. 82f., französ. Version S. 95.

(65) Deutsche Fassung S. 78, französ. Version S. 90f.

(66) Deutsche Fassung, S. 92, französ. Version 105.

(67) Deutsche Fassung S. 99-115, französ. Version 115-137.

(68) Deutsche Fassung S. 174, französ. Version S. 211.

(69) Thomas Steinfeld: Dein rechtes Auge ruht in meinem linken. Die deutsche und die französische Sprache, angeschaut von Georges-Arthur Goldschmidt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. Mai 1999, Sonntagsbeilage V.

(70) Martin Walser: Wer ist ein Schriftsteller? (1974), in: Walser: Werke, Bd. XI, S. 418f.

(71) Ebd., S. 500.

(72) Ebd., S. 501.

(73) Walser: Ein springender Brunnen, S. 393.

(74) Walser: Einheimische Kentauren oder: Was ist besonders deutsch an der deutschen Sprache? In: ders.: Werke, Bd. XI, S. 90-107, hier 94f.

(75) Walser: Ein springender Brunnen, S. 401.

(76) Walser: Einheimische Kentauren, S. 91.

(77) Ebd., S. 92.

(78) Walser: Was ist ein Klassiker? In: ders.: Über Deutschland reden, S. 40-52, hier 45.

(79) Walser: Ein springender Brunnen, S. 286.

(80) Walser: Einheimische Kentauren, S. 98.

(81) Ebd., S. 99.

(82) Ebd., S. 101.

(83) Jürgen Straub (Hg.): Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Erinnerung, Geschichte, Identität I. Frankfurt a. M. 1998, Vorwort von Jürgen Straub, S. 7-11 (Zitat S. 9).

(84) Gabriele Rosenthal: Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Frankfurt a.M. 1995; Dan Bar-On: Studying the Transgenerational After-effects of the Holocaust in Israel, in: Barbara Bauer/Waltraud Strickhausen (Hgg.): „Für ein Kind war das anders“. Jüdische Kindheit im NS-Terrorsystem. Berlin 1999 (im Druck).

(85) Donald E. Polkinghorne: Narrative Psychologie und Geschichtsbewußtsein. Beziehungen und Perspektiven, in: Straub (Hg.): Erzählung, S. 12-44, hier 23.

(86) Hans Georg Gadamer: Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft. Frankfurt a.M. 1976, zit. von Polkinghorne, S. 23f.

(87) Ebd., S. 24.

(88) Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen.Frankfurt a.M. 1985, S. 22.

(89) Polkinghorne: Narrative Psychologie, S. 25.

(90) Ebd., S. 37.

(91) Klaus Mann: Der Vulkan. Roman unter Emigranten (11939). Mit einem Nachwort von Martin Gregor-Dellin. Reinbek 1981; ders.: Der Wendepunkt. In der Exilforschung wurde dieser psychologisch komplizierte und gattungstheoretisch interessante Zusammenhang bisher nicht berücksichtigt.

(92) Jerome S. Bruner: Vergangenheit und Gegenwart als narrative Konstruktionen. In: Straub: Erzählung, S. 46-79, hier 60.

(93) Elias Canetti: Die gerettete Zunge. München 1977; ders.: Die Fackel im Ohr. München 1981; ders.: Das Augenspiel. München 1985.

(94) Dan Bar-On, Die Last des Schweigens. Gespräche mit Kindern von Nazi-Eltern, Frankfurt a.M./New York 1993; ders., Zwischen Furcht und Hoffnung. Von den Überlebenden bis zu den Enkeln – drei Generationen des Holocaust. Hamburg 1997 (erstmals englisch 1995); Gabriele Rosenthal (Hg.): Der Holocaust im Leben von drei Generationen. Familien von Überlebenden der Shoah und von Nazi-Tätern. Gießen 1997. Vgl. jetzt auch die Beiträge von Gabriele Rosenthal und David J. de Levita in Alexander Friedmann/Elvira Glück/David Vyssoki (Hgg.): Überleben der Shoah – und danach. Wien 1998, S. 68-99.

(95) Bruner: Vergangenheit und Gegenwart, S. 62f.

(96) Ebd., S. 73.

(97) Klüger: weiter leben, S. 110.

(98) Walser übersetzt Hölderlins Kennzeichnung „nationell“ mit „eigentümlich“ und meint damit die regional beschränkte Perspektive, die Blicke von mikroskopischer Schärfe erlaubt. Er schlägt vor, das längst fragwürdig gewordene Bekenntnis eines Deutschen zu seiner Nation durch eine Treueerklärung an die eigene Heimat und den Dialekt zu ersetzen, um die an sich berechtigte Frage nach dem national und regional bedingten Sichtweise unmißverständlich von chauvinistisch-patriotischen Konnotationen freizuhalten. Vgl. Walser: Was ist ein Klassiker? In: ders.: Über Deutschland reden, S. 48.

Titelbild

Martin Walser: Ein springender Brunnen.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1998.
416 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3518410105

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Titelbild

Jürgen Straub: Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1998.
380 Seiten, 14,20 EUR.
ISBN-10: 3518290029

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Titelbild

Imre Kertész: Ich - ein anderer. Übersetzt von Ilma Rakusa.
Übersetzt aus dem ## von ##.
Rowohlt Verlag, Berlin 1998.
128 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 387134334X

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Titelbild

Viktoria Hertling (Hg.): Mit den Augen eines Kindes. Children in the Holocaust/Children in Exile/ Children under Fascism.
Rodopi Verlag, Amsterdam 1998.
317 Seiten, 46,50 EUR.
ISBN-10: 904200623
ISBN-13: 9789042006232

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Titelbild

Georges-Arthur Goldschmidt: Als Freud das Meer sah.
Ammann Verlag, Zürich 1999.
184 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3250103330

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Titelbild

Alexander Friedmann / Elvira Glück / David Vissoky: Überleben der Shoah - und danach.
Picus Verlag, Wien 1999.
352 Seiten, 20,40 EUR.
ISBN-10: 3854524269

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