Der Comic im Bilderbuch – das Bilderbuch im Comic?

Zur gelingenden Symbiose bildlicher Erzählformen am Beispiel von Øyvind Torseters „Das Loch“

Von Katrin Dammann-ThedensRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katrin Dammann-Thedens

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Øyvind Torseters Hullet wurde 2012 in Norwegen publiziert und erschien im vergangenen Jahr unter dem Titel Das Loch in Deutschland. In der Mitte des Einbandes befindet sich ein Loch von knapp einem Zentimeter Durchmesser, das das gesamte Buch von der ersten bis zur letzten Seite durchzieht. Ausgehend von dieser visuell-haptischen Idee hat Torseter eine beeindruckende Erzählung verfasst, die comic- und bilderbuchspezifische Elemente spannungsvoll miteinander verzahnt.

Das Loch rhythmisiert die Erzählung, denn um ein jedes herum entfaltet sich ein ganzseitiges Bild. Zu sehen ist zunächst ein Raum, in den eine namenlose Figur tritt. Aus anderen Erzählungen Torseters lässt sich rekonstruieren, dass sie ‚Mulegutten‘ heißt, was sich mit ‚Maul-Junge‘ übersetzen lässt. Wenige schwarze Linien, die sich auf das Wesentliche beschränken, umreißen Raum und Figur. Letztere gleicht mit ihrem Tierkopf, ihren Punktaugen und den vier Fingern pro Hand einer klassischen Comicfigur. Ihre Tätigkeiten konkretisieren den Raum, und so kann der Betrachter beim Einzug in eine Wohnung zuschauen: Mulegutten trägt Kisten und packt sie aus, schließlich bereitet er sich ein Spiegelei zu. Das Loch befindet sich an einer Zimmerwand, bleibt aber unbeachtet. Abgesehen von den Beschriftungen der Kisten gibt es keine Schriftsprache. Die Erzählung entsteht über die Bilder. Der immer gleichbleibende Blickwinkel des Betrachters wird von Bild zu Bild dynamisiert durch die Aktivitäten sowie die Mimik, Gestik und Körpersprache von Mulegutten. Insbesondere auf Unsichtbares wird dabei durch comicspezifische Mittel verwiesen; so stehen beispielsweise drei übergroße Tropfen über dem Kopf der Figur für deren Anstrengung beim Tragen der Kisten.

Schließlich fällt Muleguttens Blick auf das Loch, und seine weit aufgerissenen Augen markieren diese Entdeckung als unerwartetes Ereignis. An dieser Stelle ist die erste der wenigen Sprechblasen platziert, in der die Figur ausspricht, was sich vielleicht auch mancher Betrachter inzwischen fragt: „Was ist denn das?“ Mit dieser Entdeckung setzen kompositorische Variationen der Bilder ein, die vergessen lassen, dass das Loch stets in der Bildmitte bleibt: Als Mulegutten es genauer betrachten will, beginnt das Loch, seinen Aufenthaltsort zu wechseln, und Mulegutten vermag nur noch „Hä?“ zu denken und „HILFE!“ zu rufen. Schließlich fängt er das Loch mit einiger Mühe ein und gibt es in einem Forschungslabor ab. Damit scheint sein Problem gelöst.

Doch ebenso wenig, wie die Sprache die zentrale Ebene dieser Erzählung ist, endet hier die Geschichte des Loches. Im letzten Bild der Erzählung, so viel sei noch verraten, ist das Loch wieder genau dort zu sehen, wo es sich zu Beginn befand.

Es bleibt dabei dem Rezipienten selbst überlassen, ob er diese außergewöhnliche Bilderzählung als vergnügliches Versteckspiel des Loches oder – im übertragenen Sinne – als Begegnung mit dem Unerwarteten oder als noch etwas anderes sieht und liest. In jedem Fall besticht Torseters Repertoire bildlichen Erzählens durch die dargestellte Verzahnung visueller Erzählverfahren und -inhalte und entzieht sich einer genauen Zuordnung zu einer bestimmten Adressatengruppe ebenso wie der Definition, ein Bilderbuch oder ein Comic zu sein.

Stellvertretend für eine wachsende Gruppe von Bild-Erzählerinnen und -Erzählern erteilt Øyvind Torseter so der längst überholten Opposition von ‚hochwertigem‘ Bilderbuch und ‚minderwertigem‘ Comic eine konsequente Absage und schafft stattdessen durch die Verschränkung verschiedener bildlicher Erzählverfahren immer wieder neue Formate visueller Narrativität. Man darf wohl gespannt sein auf das nächste Buch dieses Künstlers, das in Norwegen gerade unter dem Titel Mulegutten erschienen ist.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Øyvind Torseter: Das Loch.
Maike Dörries.
Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2014.
64 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783836957878

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