Facetten des Glücks

Mit Jiro Taniguchis „Der spazierende Mann“ die besonderen Momente des Alltags entdecken

Von Maria Stephanie EngelnsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maria Stephanie Engelns

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dieser Manga kommt genauso wie die Spaziergänge seines namenlosen Protagonisten daher: als ein kurzes, genießerisches Zwischenspiel im Alltag. Jiro Taniguchi, der mit diesem Werk Mitte der 1990er Jahre auch in Europa Bekanntheit erlangte, schafft es dabei, Augenblicke des Lebens und des täglichen Glücks in detaillierten Bildern einzufangen.

Der Titel ist hier Programm: Der Protagonist, über den man in den 18 Episoden kaum etwas erfährt, spaziert durch seine Nachbarschaft. Manches Mal ist er in Begleitung seines Hundes unterwegs und nimmt dabei bewusst den einen oder anderen Umweg in Kauf, bei dem er neue Eindrücke und Erfahrungen sammelt, etwa wenn er spontan aus dem Bus aussteigt, weil er in einer Seitengasse den Aufstieg zu einem Shinto-Park entdeckt hat und diesen hinaufgehen möchte. Der Autor sperrt die alltägliche Hektik aus und animiert die LeserInnen dazu, die Natur und die Vielfalt seiner Umgebung in Ruhe neu zu entdecken. Die Lektüre des Bands ist dabei genauso entspannend wie ein Spaziergang am Sonntagnachmittag. Gleichzeitig entsteht aber auch eine erwartungsvolle Neugierde im Hinblick auf die Frage, was dem Mann bei seinen Streifzügen in der typischen japanischen Vorstadt als nächstes passiert, welchen Menschen er begegnet oder welches landschaftliche Kleinod er entdeckt.

Die Erzählungen werden von einer ausgeprägten Klangkulisse begleitet. Die für Mangas, aber auch westliche Comics typische Onomatopoesie untermalt die teils kuriosen Begegnungen des Spaziergängers mit Tieren („Kikeriki!“, „Twiip!“), Menschen oder der Witterung („Plitsch“, „Plot Plot“). Davon abgesehen, kommen die Geschichten meist mit reduzierten Worten bzw. Sprechblasen aus. Sie bedürfen oft genug auch keines Kommentars, weil die kraftvollen Bilder die Spaziergänge illustrieren, indem sie gleichsam dazu einladen, die detailreichen Landschaften mit dem Mann zu erkunden. Taniguchi vermischt dabei gekonnt japanische und westliche Einflüsse, was diesen Band letztlich zu einem gut geeigneten Ausgangspunkt für eine europäische Auseinandersetzung mit dem asiatischen Manga macht. Charakteristisch für einen Manga ist dabei beispielsweise, dass die Seiten in schwarz-weiß gehalten sind und dass Schattierungen und Strukturen durch Rasterfolie und variable Strichstärken erzeugt werden. Zudem liegt der Fokus oft auf der Darstellung der Emotionen und der Mimik der Figuren. Zwar gibt es auch in diesem Band Geschichten, in denen die Reaktionen der Hauptfigur in den Mittelpunkt gestellt werden: etwa wenn der Mann erst in den frühen Morgenstunden erschöpft von der Arbeit kommt und feststellt, dass er seinen Schlüssel vergessen hat und sich darüber ärgert. Es handelt sich hier jedoch eher um eine Ausnahmeerscheinung, denn gleich darauf setzt sich der Spaziergänger wieder in Bewegung, und das Augenmerk wandert zurück auf die detaillierte Darstellung der nächtlichen Landschaft. Taniguchi folgt dabei der europäischen Comicstilrichtung ligne claire, die erstmals in den 1970er Jahren von Joost Swarte benannt wurde, indem er den Stil des Tim und Struppi-Zeichners Hergé beschrieb. Die ligne claire abstrahiert Figuren, während die Hintergründe mit klaren Konturen und großem Detailreichtum abgebildet werden. Der Spaziergänger rückt oftmals aus dem Zentrum heraus, um Platz zu schaffen für die Landschaften und die besonderen Kleinigkeiten, die es zu erkunden gilt – wie etwa die Steintafeln auf dem spontan erklommenen Hügel, die auf die Höhe des Hügels verweisen.

Das Gestaltungskonzept der ligne claire bricht der Manga nur dann, wenn der Mann seine Umgebung ohne Brille betrachtet und die Konturen dann durch seine Sehschwäche verschwimmen. In einer anderen Geschichte zersplittern die Brillengläser, was dazu führt, dass man die Welt gemeinsam mit dem Protagonisten fragmentiert wahrnimmt. Daraus entsteht – trotz fehlender Informationen zu seiner Person – eine ungeahnte Nähe zu dem Mann. Schließlich könnte man selbst an seine Stelle treten und die Geschichten auf seinen eigenen Alltag übertragen. Die kulturellen Eigenheiten Japans fallen dabei kaum ins Gewicht, Taniguchi wird nicht umsonst als „Europäer“ unter den japanischen Comiczeichnern bezeichnet. Dies spiegelt sich auch darin wider, dass der Band nicht wie für Manga typisch in der japanischen Leserichtung von rechts nach links gelesen wird, sondern der westlichen Leserichtung folgt. 

Mit Der spazierende Mann ist Taniguchi ein außergewöhnliches Glanzstück voller Detailreichtum und leiser Töne gelungen, dessen Lektüre dazu anregt, mal wieder vor die Tür zu treten und seine eigene Umgebung durch die ruhigen Augen des Spaziergängers zu betrachten.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Jirō Taniguchi: Der spazierende Mann.
Neuauflage mit Farbseiten.
Übersetzt aus dem Japanischen John Schmitt-Weigand.
Carlsen Verlag, Hamburg 2012.
168 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783551777911

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