Man müsste ein Engel sein

Richard Price geht in „Die Unantastbaren“ auf die Themen Schuld und Gerechtigkeit los

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Balance von Schuld und Vergeltung spielt im Polizeiroman immer schon eine zentrale Rolle, vor allem dann, wenn Polizisten selbst schuldig werden, um die Schuldigen treffen zu können – und dann das Maß nicht halten können. Die Liste der Polizeikrimis, die sich den Gewaltexzessen von Ordnungshütern gewidmet haben, ist sehr lang. Gerade in den USA gehören sie zum festen Inventar des Kriminalromans, vielleicht sogar als Reflex auf die beständigen Spannungen zwischen Cops und Rechtssystem.

Denn gerade weil die Cops in diesen Texten eben nicht die gehemmten und behinderten Exekuteure eines zahnlosen Systems sind, demonstrieren sie dessen Widersprüche umso stärker. Nur außerhalb des Rechts können sie ihrem Auftrag angemessen folgen, nämlich Gerechtigkeit durchzusetzen. Gerade weil das System sie zu seinem bewaffneten Arm gemacht hat, ihnen aber zugleich strikte Regeln auferlegt, können sie seinen vermeintlichen Kollaps überleben.

Denn mit einem Mal werden sie zu handlungsmächtigen Akteuren, die Gerechtigkeit exekutieren können. Dabei geht es nicht um Korruption – diese Cops wechseln nicht die Seiten, weil sie sich kaufen lassen (die schlechten Gehälter und die ungesicherte Stellung amerikanischer Cops im Krimi sind geradezu eine Einladung dazu, sie zu korrumpieren, aber das greift hier nicht, keine „Bad Lieutenants“ also). Sie wechseln die Seiten, weil sie verstehen, dass das Recht aufgegeben wurde, weil Gerechtigkeit nur auf direktem Wege durchgesetzt werden kann und muss.

In einem der Ahnenstücke des Genres – „Ein Mann sieht rot“ (im Amerikanischen unter dem Titel „Death Wish“ 1974 erschienen) – schaut die Polizei noch zu, dass da jemand ihren Job macht. Aber nur kurze Zeit später ist aus dem Arm des Gesetzes bereits der der Gerechtigkeit geworden. Moral ersetzt Recht. Was eben für die Täter zu einer doppelten Drohung wird: Der Polizist vertritt nicht nur das Rechtssystem, sondern auch die Gerechtigkeit. Er ist nicht nur Repräsentant des staatlichen Gewaltmonopols, sondern – was in den USA sowieso anders strukturiert ist – auch der gerechten Gewalt. Das ist für die intelligenteren Krimis sowohl Versuchung als auch Problem. Für Leser hingegen werden daraus sophistische Exempel über das Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit – wobei hier gegen den Sophismus nichts gesagt sein soll.

Dass man Richard Price zu den Intelligenten unter den Krimiautoren rechnen darf, ist – nehme ich an – halbwegs Konsens. Seine Mitarbeit an der Krimiserie „The Wire“ ist Indiz dafür. Und die Romane, die in den letzten Jahren in Deutschland bei S. Fischer erschienen sind, gehören zum Premiumsegment des amerikanischen Krimis. Dass er für das 2000er-Remake von „Shaft“ das Drehbuch (mit)schrieb, zeugt im Übrigen davon, dass er sich in Sachen Selbstjustiz gut auskennt.

Nun also zu seinem neuen Roman „Die Unantastbaren“. Rückgrat der Story sind fünf offensichtlich schuldige Mörder, die jeweils der gerechten Strafe entgangen sind: eine Gang, die einen Jugendlichen vor ein Auto getrieben hat, ein Kerl, der einen Basketballer umgebracht hat, weil der ihn schlecht hatte aussehen lassen, ein Kleinkrimineller, der einen 14-Jährigen erstochen hat, weil der seine Freundin angesprochen hatte, und ein Mann, der seine Ex-Freundin, deren Tochter und eine ihrer Nichten erschossen hat. Schlimm, aber keine große Sachen angesichts der Inflation extremer Gewalttaten, die der Krimi in den letzten Jahren erlebt. Aber die Opfer sind tot, und immerhin, die Täter kamen davon. Das lässt den Cop Billy Graves und seinen Ex-Kollegen keine Ruhe, so wenig, dass sie gerade nun mal diese Unantastbaren in die neuen Jobs, den Ruhestand oder die nächste Abteilung mitgenommen haben.

Das Ganze erhält Brisanz in dem Moment, in dem einer dieser Unantastbaren tot aufgefunden wird. Anscheinend das Opfer einer gerechten Tat, der vielleicht weitere folgen werden. Billy Graves verdächtigt seine Ex-Kollegen, mit denen ihn eigentlich immer noch eine enge Freundschaft verbindet. Aber wer sonst sollte nach so langer Zeit daran interessiert sein, diese Killer seinerseits um die Ecke zu bringen?

Dass Graves gestresst agiert – insgeheim baut sich sein Verdacht immer mächtiger gegen seine Freunde auf – hängt freilich nicht zuletzt damit zusammen, dass er und seine Familie ihrerseits wiederum Opfer von Angriffen werden. Ein Stalker irgendeiner Art hinterlässt Zeichen seiner Gegenwart: Eine Farbhand auf der Lederjacke des Sohnes, der demente Vater – ein Ex-Cop – der in sein altes Revier gefahren wird, und niemand weiß von wem. Und ähnliche Vorfälle mehr. Außerdem gerät Graves selbst in Verdacht, die „Unantastbaren“ nach und nach aus dem Weg räumen zu wollen – zumindest für die internen Ermittler sieht das alles ganz danach aus.

In der Auflösung dieses doppelten Falles jedoch scheint dann nun doch wieder ein Teil-Widerspruch auf, der im Verhältnis zwischen Recht und Gerechtigkeit virulent ist. Hier ist es die Frage der Schuldlosigkeit (die vor Jahrzehnten bereits Superman ganz mächtig in die Bredouille gebracht hat, denn wer kann sich mit letzter Gewissheit ohne Schuld wähnen?).

In diesem Fall ist es Graves Frau Carmen, die schuldig wird, aber die nie dafür belangt wird: weil sie wissentlich die Killer eines Drogenkartells in eine falsche Wohnung ihres Wohnhauses geschickt hat und deshalb ein Unschuldiger erschossen wurde (der sie vorher mies behandelt hat). Da war sie 15. Jahrzehnte später steht der Bruder vor der Tür und will Vergeltung. Wer wirft da den ersten Stein? Ein bitteres Possenspiel also darum, ob derjenige, der ohne Schuld ist, zum Rächer werden darf. Man müsste ein Engel sein, aber selbst da gäbʼs Probleme.

Titelbild

Richard Price: Die Unantastbaren. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Miriam Mandelkow.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2015.
426 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783100024169

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