Erweiterung und Überarbeitung eines Standardwerks

Das „Lexikon der ,Vergangenheitsbewältigungʻ in Deutschland“ ist in dritter Auflage erschienen

Von Torsten MergenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Mergen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist um knapp 100 Seiten angewachsen, mehr als 20 Einträge – vorrangig zu Stichworten des letzten Jahrzehnts – sind neu hinzugekommen, viele Texte sind überarbeitet und bibliografisch aktualisiert worden. Der Gegenstand bleibt aber weiterhin so unabgeschlossen und diffizil wie bisher: Seit der ersten Auflage des „Lexikon der ‚Vergangenheitsbewältigung‘ in Deutschland“ sind beinahe zehn Jahre vergangen, jedoch haben sich seit 2007 die wissenschaftlichen als auch die gesellschaftlichen Kontroversen um die Auseinandersetzung mit der Geschichte des beziehungsweise um die Erinnerung an den Nationalsozialismus keineswegs reduziert. Stichworte von „Umbenennung von Straßen“ bis hin zu „NSU-Morde“ prägen bis heute den medialen Diskurs zum Problemkomplex des Lexikons, die das Nachschlagewerk in bewährter Manier kompakt und wissenschaftlich verantwortungsbewusst nachzeichnet.

Als 2007 die erste Auflage mit rund 170 Einträgen zu Großereignissen beziehungsweise wirkmächtigen Debatten erschien, verlief die Rezeption in der Fachwelt und der Öffentlichkeit recht positiv: Micha Brumliks Vorwort, das auch der 3. Auflage vorangestellt ist, betonte bereits einführend einerseits die Quantität wie Qualität der geleisteten Aufarbeitung der NS-Vergangenheit im deutschsprachigen Raum seit Gründung der BRD: „Gemessen an den anderen Staaten, in denen Massenverbrechen, Genozide und Politizide begangen wurden, hat die Bundesrepublik Deutschland, ein vernünftiger Zweifel ist nicht möglich, Außerordentliches vollbracht.“ Die damit korrespondierenden Debatten wollte das Lexikon resümieren und exemplarisch dokumentieren. Brumlik lenkte anderseits den Blick auf die problembehaftete Titelwahl mit dem Kompositum „Vergangenheitsbewältigung“. Dieses suggeriere eine Erkenntnis des Lexikons, „Vergangenheit lasse sich in einem substantiellen Sinn ‚bewältigen‘ und damit abschließen“, welche eher die Intention des Werkes verschleiere: Denn Erinnerung wie Diskurs seien prozessual angelegt, vice versa per se nicht konstant.

Der Aufbau des Lexikons bleibt für die 3. Auflage erhalten: Die Herausgeber Torben Fischer und Matthias Lorenz konstatieren sechs Phasen der Debatten und Diskursgeschichte zum Themenfeld Nationalsozialismus zwischen 1945 und 2008, dem selbstgewählten Endpunkt der Betrachtung. Während im ersten Abschnitt, „1945–1949“, und im dritten Abschnitt, „1961–1961“, keine Beiträge ergänzt wurden, schließt der zweite Abschnitt „1949–1961“ nun mit dem Artikel „Literatur über Flucht und Vertreibung“. Darin erfährt man unter anderem, dass die „Flucht und Vertreibung von Deutschen lange als Tabuthema“ galt, was sich besonders „seit den 1990er Jahren“ durch die „Renaissance deutscher Opfernarrative“ gewandelt habe. Während der vierte Abschnitt („1968–1979“) lediglich um zwei Beiträge ergänzt wurde – einerseits zum unbewältigten Erbe der NS-Homosexuellenverfolgung und anderseits der Heidegger-Kontroverse –, sind der fünfte („1979–1995“) und sechste („1995–2008“) grundlegend überarbeitet, teilweise neu angeordnet und thematisch ergänzt worden.

Komplett neu sind im sechsten Abschnitt die Themenbereiche „Antisemitismus und Rechtsextremismus“ mit sechs Artikeln, unter anderem zur „Neuen Rechte[n]“ und zur „Hohmann-Affäre“, ferner der Themenbereich „Erkenntnis gesamtgesellschaftlicher Verstrickung“ mit zehn Beiträgen. Referiert und reflektiert werden die medial bisweilen inszenierten Debatten über Kontroversen wie „Das Amt und die Vergangenheit“, also die Rolle des Auswärtigen Amtes im NS-Staat, des Weiteren Debatten über die „NSDAP-Mitgliedschaften“ prominenter Persönlichkeiten wie etwa Walter Jens, Walter Höllerer, Martin Walter, Erhard Eppler oder Niklas Luhmann. Günter Grassʼ Mitgliedschaft in der sogenannten Waffen-SS ist ein eigenständiger Artikel gewidmet. An diesem Einzelfall wird der Blick für das Grundsätzliche geschärft: Durch solche „Enthüllungen“ wurde „die moralische Vormachtstellung der Flakhelfer-Generation, deren Vertreter als ‚unbelastete‘ Zeitzeugen den Diskurs um die ‚Vergangenheitsbewältigung‘ stets dominiert hatten“, infrage gestellt. Mit Gewinn konsultiert man die sechs Querschnittsartikel, die mit der Überschrift „Fenster“ den Blick auf grundsätzliche Entwicklungsprozesse und Diskussionsmeilensteine richten: Es finden sich differenzierte Ausführungen etwa zu „Revisionismus/Leugnung des Holocaust“ (Maria Munzert) „Doppelte Vergangenheitsbewältigung“ (Carola Rudnick), „Antizigianismus/Opferkonkurrenz“ (Iulia-Karin Patrut) oder „Rechtsextremismus“ (Fabian Virchow), ferner zu „Nationalsozialismus im Schulunterricht“ (Andrea Höft) und „§ 175 und das unbewältigte Erbe der NS-Homosexuellenverfolgung“ (Andreas Pretzel).

Nicht zuletzt dank des klaren Aufbaus, sorgfältig ausgewählter weiterführender Literaturangaben zu jedem Eintrag und eines hilfreichen Personenregisters, das einen schnellen Zugriff ermöglicht, hat sich das Lexikon zu einem wichtigem Hilfsmittel und Nachschlagewerk entwickelt. Die aktuelle Ausgabe enthält zudem eine umfangreiche Auswahlbibliographie, sodass ein Eindruck von dem vermittelt wird, was die Herausgeber in ihrem Vorwort zur 3. Auflage als Intention umrissen haben: ein zuverlässiges Referenzwerk anzubieten, „das über die Dokumentation von Einzelereignissen hinaus in der Lage ist, Entwicklungen und Strukturen der nunmehr siebzig Jahre währenden Nachgeschichte des Nationalsozialismus aufzuzeigen“.

Titelbild

Torben Fischer / Matthias N. Lorenz (Hg.): Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945.
3., überarbeitete und erweiterte Auflage.
Transcript Verlag, Bielefeld 2015.
398 Seiten, 34,99 EUR.
ISBN-13: 9783837623666

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