Fremdsein als Wesenselement der Persönlichkeit

Zwei Essaysammlungen erinnern an Jean Améry

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Beginnen wir mit einer Episode. Der Ort ist Werner Höfers „Internationaler Frühschoppen“, wo am 17. November 1974 eine Talk-Runde über „Leben als Wegwerfware“ diskutiert. Anlässe sind der durch Hungerstreik selbst verschuldete Tod des RAF-Häftlings Holger Meins sowie die Ermordung des Berliner Kammergerichtspräsidenten Günter von Drenkmann. Als die Sendung dem Ende zugeht, fordert der Moderator die Anwesenden zu einer abschließenden Stellungnahme auf. Carola Stern empfiehlt der einsitzenden, ebenfalls die Nahrungsaufnahme verweigernden Ulrike Meinhof aufzugeben. Der letzte, der sich äußern soll, ist Jean Améry, der zuvor die Linke, nicht jedoch den linken Terrorismus verteidigt hatte. Er denkt nach. Da die Zeit davonläuft, drängt Höfer: „Aufgeben, zur Besinnung kommen?“ Was Améry darauf schließlich antwortet, liegt quer zu den Erwartungen: „Nicht aufgeben“. Diese zwei Worte werden unverzüglich von der einschlägigen Presse skandalisiert. Die „Bild-Zeitung“ ereifert sich, Améry habe den inhaftierten RAF-Mitgliedern den Rücken gestärkt. Ein paar Tage später erläutert dieser seine Position in der „Frankfurter Rundschau“ – und widerruft nichts. Er „kenne die Einzelzelle und kenne den Hunger“, er wisse, „daß der Hungerstreik die äußerste und einzige Waffe ohnmächtig Inhaftierter“ sei: „Er ist für sie Haltung und letzter Halt zugleich.“

Améry, der seit Mitte der 1960er-Jahre nach und nach in der Publizistik der Bundesrepublik heimisch wurde, war freier Autor, abhängig von Aufträgen aus den Redaktionsstuben der Zeitungen, Zeitschriften und Sendeanstalten. Wie konnte er, der er auf das Wohlwollen seiner Abnehmer, zumal beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk, angewiesen war, seine „Existenz als öffentlicher Intellektueller aufs Spiel“ setzen? Musste er nicht damit rechnen, dass ihm fortan der Zugang zu den Medien, wo er sein Geld verdiente, verschlossen bleiben würde? Dies fragt der Soziologe Heinz Bude in der von Ulrich Bielefeld und Yfaat Weiss herausgegeben Essaysammlung mit dem Titel „… als Gelegenheitsgast, ohne jedes Engagement“, die durch erneute Lektüre und Interpretation einen neuen, ergänzenden Blick auf „Werk, Wirkung“ und „Leben“ werfen möchte. Budes Antwort informiert nicht über den Fortgang der publizistischen Karriere, sondern verknüpft die Bemerkung bei Höfer mit der Folter, der Améry, der jüdische Emigrant aus Österreich und Angehörige der Résistance, 1943 während einer sechsmonatigen Gestapohaft im belgischen Fort Breendonck ausgesetzt war. Daraus wird klar, dass der im Frühschoppen erteilte Rat keineswegs darauf aus war, den Terror der RAF-Leute zu rechtfertigen. Er, Améry, habe vielmehr Menschen zu einer Handlung ermutigen wollen, für die er selber als Häftling weder den „Mut“ noch die „Kraft“  habe aufbringen können. Die eigene Würde lasse sich in solchen Fällen jedoch allein durch Gegengewalt bewahren, nur auf dem Weg des Widerstands würden aus Objekten fremder Zumutungen wieder ihrer selbst bewusste Subjekte, würden aus Opfern der Gewalt, formuliert Bude, „wieder Menschen, die als Akteure von Gesellschaft und Geschichte in Erscheinung treten“. Insofern stecke in Amérys erratischem, im Moment der Sendung nicht näher erläutertem Statement der „Kern seiner Idee des Politischen“.

Um die „Tortur“ und den darüber verfassten Aufsatz kreisen gleich mehrere Beiträge des Sammelbandes. Dan Diner zum Beispiel interpretiert ihn als „verschobene Erinnerung“ und zeigt sich irritiert von Amérys Bemerkung, die Folter sei zwar keine Erfindung des Nationalsozialismus, wohl aber dessen „Apotheose“. Damit würde Auschwitz gleichsam „überschrieben“, durch die Dominanz der individuellen Leiderfahrung würde das kollektive Schicksal der europäischen Judenheit relativiert, jedenfalls „hintangestellt“, was möglicherweise den damals in Frankreich geführten Diskussionen über den Algerienkrieg und die dort von der Armee praktizierten Folter- und Verhörmethoden geschuldet sei. Einen wirklich triftigen Beleg für diese Lesart, die von anderen Arbeiten Amérys eigentümlich abstrahiert, liefert Diner allerdings nicht.

Anders als dieser verknüpft Manuela Consonni die drei wichtigsten Essaybücher zu einer dichten, intertextuell angelegten Analyse. Für sie sind die Schriften „Jenseits von Schuld und Sühne“, die den Beitrag über die „Tortur“ enthält, „Über das Altern“ und „Hand an sich legen“, jener berühmte „Diskurs“, der den eigenen Freitod denkend vorwegnimmt, Sinnbilder „eines verwundeten Lebens“. In der Folter habe Améry sein Weltvertrauen verloren, betont die Autorin, er habe, um es mit seinen Worten zu sagen, die „Gewißheit“ eingebüßt, dass „der andere“, der Folternde, „auf Grund von geschriebenen oder ungeschriebenen Sozialkontrakten“ ihn schone und dass er seinen „physischen und damit auch metaphysischen Bestand“ respektiere. Dies gehöre, betont Consonni, gemeinsam mit der ‚Erfahrung Auschwitz‘ zu den „notwendigen Vor-Ereignissen“, die den späteren „philosophischen und existentiellen Weg“ Amérys markiert, ja bestimmt hätten.

Einen generationellen Ansatz für seine Betrachtung wählt Dominik Rigoll. Améry wird darin als 1945er verortet, als einer von denjenigen, die mit dem Ende des Krieges befreit worden waren, zum NS-Regime in Opposition gestanden hatten oder doch nach dem Zusammenbruch der Diktatur Chancen für einen tiefgreifenden gesellschaftlichen und politischen Wandel sahen. Ausgangspunkt ist hier eine der letzten Arbeiten Amérys, die postum 1979 in der von Axel Eggebrecht betreuten Sammlung von Interventionen erschien, mit denen sich eine Reihe alter Männer ihren Zorn über 30 Jahre Bundesrepublik von der Seele schrieben. Amérys Beitrag trug den Titel „In den Wind gesprochen“, ein Text, der mit den Enttäuschungen der Mitstreiter konform war, zugleich jedoch die Verantwortung für das, was Walter Dirks den restaurativen Grundzug der Epoche genannt hatte, nicht außen, sondern innen suchte: „Wir, die Älteren, waren miserable Lehrer“; sie hätten versäumt, der Jugend einen klaren Begriff vom Charakter der braunen Vergangenheit zu vermitteln.

Der Kalte Krieg erscheint als das schärfste Dementi jener Hoffnungen auf die Wirksamkeit einer breiten antifaschistischen Koalition, bestückt mit „militanten“ Christen bis hin zu Sozialisten und Kommunisten. Plötzlich jedoch hätten sich die „Nazi-Kriegsverbrecher als die eigentlichen Kriegsgewinner“ entpuppt, konstatiert Améry resigniert: „Wir Auferstandenen“, den Schrecknissen der NS-Herrschaft Entronnenen, „sahen blöde und ungläubig in die Welt.“ Gleichsam eine Illustration solcher Erfahrungen, fast ein Lehrstück für die hier aufscheinenden Probleme war der von Nikolas Berg nachgezeichnete, ein paar Jahre zuvor ausgefochtene Disput mit dem Lyriker und Publizisten Hans Egon Holthusen, der im „Merkur“ einen Zweiteiler untergebracht hatte: eine Rechtfertigung seiner Mitgliedschaft in SS und NSDAP, alles in allem ein peinlicher Versuch der Selbstentschuldung. Die Ironie der Geschichte wollte es, dass Améry, als er 1972 mit dem Literaturpreis des Bayerischen Akademie der Schönen Künste ausgezeichnet wurde, eine Urkunde überreicht bekam, welche die Unterschrift seines Kontrahenten, des Akademiepräsidenten Holthusen zierte.

Er habe ein „Dichter“ sein wollen, sei aber nur ein „Journalist, ein Tagesschreiber“ geworden, der zu Papier bringe, „was immer die Redaktionen gerade in Auftrag geben“, bekannte Améry 1957. Der späte, mit erheblichen Selbstzweifeln unternommene Versuch, als Romanautor hervorzutreten, war wenig erfolgreich. Der, wie er ihn nannte, Romanessay „Lefeu oder Der Abbruch“ wurde von der Kritik höchst ungnädig aufgenommen, ein geradezu gehässiger Verriss stammte aus der Feder des FAZ-Kritikers Marcel Reich-Ranicki. Nicht viel anders erging es seinem zweiten, kurz vor dem Freitod fertiggestellten Prosa-Werk „Charles Bovary, Landarzt“, eine Auseinandersetzung mit Gustave Flaubert, dessen „Madame Bovary“ er im Blick auf Personal und Wertung in neuer Tektonik erscheinen ließ. Der gehörnte Ehemann, den Flaubert als ridikülen Trottel schildert, rückt in den Vordergrund. Améry fühlt sich gedrängt, ihm seine Würde als bürgerliches Individuum, seinen Rang als Subjekt des Geschehens zurückzugeben, ohne dabei die Ehre der untreuen Gattin Emma Bovary zu untergraben.

Hanjo Kesting, viele Jahre Leiter der Hauptabteilung „Kulturelles Wort“ beim Norddeutschen Rundfunk und einer der besten Kenner Amérys, hat aus dem etwas sperrigen Bovary-Text ein zweiteiliges Radio-Feature geschaffen, das im Februar 1978 auf Sendung ging. Über die Entstehung und Realisierung dieses Projekts berichtet er im Band „Augenblicke mit Améry“, der verschiedene seiner bereits an anderen Orten publizierten Arbeiten über Améry versammelt. Es sind „Essays und Erinnerungen“, mit denen er das Seine dazu beiträgt, eine vermutete, vielleicht auch nur erhoffte Renaissance des Autors, Freundes und Kollegen zu bestärken, dessen „Ruhm“, wie er konstatiert, „ebenso rasch verflogen, wie er anderthalb Jahrzehnte zuvor aufgeblüht war“, bestrebt, ihm neue Leser und neue Aufmerksamkeit zu verschaffen, nicht zuletzt der achtbändigen Gesamtausgabe der Werke und Korrespondenzen.

Kestings Buch, geschrieben in flüssiger, unprätentiöser Prosa und durchzogen von längeren, erhellenden O-Tönen, ist jedenfalls ein eindringliches Plädoyer, Améry nicht der Vergessenheit anheimzugeben. Es bietet eine fassliche Einführung wie auch vertiefende Analyse und bewegt sich wesentlich in drei Dimensionen, die säuberlich voneinander zu scheiden freilich nicht möglich ist: in einer politisch-moralischen, einer literarisch-philosophischen und einer persönlichen. Teils bestätigt, teils vertieft, teils erweitert es ganz beträchtlich die Essays aus dem oben angezeigten Sammelband. Das Politische, um nur dies noch zu erwähnen, birgt die Hoffnungen des Anfangs und die darauf folgenden Desillusionierungen und Melancholien. „Zwei Menschengruppen, Überwältiger und Überwältigte“, so lautet eine der Utopien Amérys, würden sich im gemeinsamen Wunsch nach „Zeitumkehrung“ und „Moralisierung der Geschichte“ treffen. Dies hätte, als Forderung von den Deutschen erhoben, „ein ungeheures Gewicht“, denn damit wäre die „deutsche Revolution nachgeholt, Hitler zurückgenommen“, und für Deutschland erreicht, „wozu das Volk einst nicht die Kraft oder den Willen gehabt hatte“, nämlich die „Auslöschung der Schande“. Einer Erfüllung solcher Sehnsüchte waren die Umstände und die Mentalitäten der Betroffenen wenig günstig: „Die Deutschen, abgesprungen aus dem Nichts, hatten im Sprunge schon hinweggesetzt nicht nur über ihre scheußliche Jüngstvergangenheit, sondern auch über deren von den Exilierten verkörperte Negation.“

Dass Améry sich im Lichte seiner Erfahrungen und Einsichten nicht mehr zu beheimaten vermochte, bis zum selbst gewählten Tod – begriffen als Akt der Befreiung – ein Unbehauster blieb, verwundert nicht. Die Welt war in seinen Augen „revolutionsbedürftig“, aber ganz offenkundig „nicht revolutionsfähig“. Die Linke, der er sich zurechnete, entpuppte sich als untauglich, um die Entwicklung ins Positive zu wenden. Für die Anliegen der 68er hegte er zwar Sympathien, aber deren prononcierte „Antibürgerlichkeit“, wie Kesting notiert, auch deren unhistorischer, die „Errungenschaften der bürgerlichen Demokratie geringschätzender Neo-Marxismus“ war seine Sache nicht. Das, woran er unbeirrt festhielt, waren die Traditionen und die Ideen der Aufklärung: Wer sie „verleugnet, verzichtet auf die Erziehung des Menschengeschlechts“. Das gehört zu den zeitlosen Überzeugungen. Améry hat sie nicht nur bedacht und theoretisch begründet, sondern durchlebt und durchlitten.

Titelbild

Hanjo Kesting: Augenblicke mit Améry. Essays und Erinnerungen.
Wallstein Verlag, Göttingen 2014.
270 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783835315556

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Titelbild

Ulrich Bielefeld / Yfaat Weiss (Hg.): Jean Améry. „…als Gelegenheitsgast, ohne jedes Engagement“.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2014.
148 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783770557530

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