Rumänien im Jahre Null

György Dragomán schreibt in seinem Roman „Der Scheiterhaufen“ über die zaghafte Emanzipation einer Gesellschaft von der Diktatur

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Irgendwo in Siebenbürgen, wenige Monate nach der politischen Wende von 1989: Der Diktator ist gestürzt; seine Porträts, die zuvor in jeder Schul- und Amtsstube hingen, sind auf dem Scheiterhaufen der Geschichte gelandet. In dieser Zeit des Übergangs ist nur eines sicher: Eine Epoche ist an ihr Ende gelangt. Ansonsten aber gibt es kaum Gewissheiten. Was ist in den revolutionären Dezembertagen genau geschehen? Wer hat die Fäden gezogen, wer hat sich wann auf welche Seite geschlagen? Wer profitiert von den neuen Verhältnissen? Ist die Revolution gelungen, oder ist sie unvollendet geblieben, gar „gestohlen“ worden? Und was heißt das alles für die nun angebrochene neue Zeit?

György Dragomán siedelt seinen neuen Roman „Der Scheiterhaufen“ in einer Phase der jüngeren rumänischen Geschichte an, in der vieles noch vage und unklar ist. Eine Gesellschaft hat sich vom Alten erlöst und ringt nun um ihre Zukunft, muss sich aber zugleich und vor allen Dingen der Vergangenheit stellen. Dabei lautet eine zentrale Frage, die den ganzen Roman prägt, wer unter Nicolae Ceauşescus Diktatur Schuld auf sich geladen hat. Im Mittelpunkt der Handlung steht ein Mädchen, das in den Monaten nach Ceauşescus Sturz allmählich zur Frau heranwächst und auf dem Hintergrund der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verwerfungen eine eigene und sehr persönliche Befreiungsgeschichte erlebt.

Dragomán entstammt der ungarischsprachigen Minderheit Rumäniens und ist bereits 1988 mit seiner Familie nach Ungarn übergesiedelt. Das Land seiner Kindheit lässt ihn aber offenbar nicht los. Die rumänische Diktatur und ihre Wahrnehmung durch die Augen eines Kindes sind sein bevorzugtes Thema. Zumindest diese Grundkonstellation lässt sich also durchaus autobiografisch verorten. Schon in seinem ersten Roman „Der weiße König“ hatte Dragomán die Erzählperspektive eines Kindes eingenommen. Dabei ging es um einen 11-jährigen Jungen, dessen Vater mit dem Ziel der „Umerziehung“ in ein Arbeitslager gesteckt worden war. Anders als im nun vorliegenden Roman war die Diktatur dort noch nicht überwunden. In einem Interview mit der rumänischen Zeitung „România liberǎ“ deutete der Autor unlängst an, dass auch sein nächstes Buch wieder durch die Stimme eines Kindes geprägt sein werde und sich das Romanprojekt damit durchaus zu einer Trilogie runden könnte.

„Der Scheiterhaufen“ setzt zwei Monate nach dem Sturz des Diktators ein. Die 13-jährige Emma lebt nach dem mysteriösen Unfalltod ihrer Eltern seit einem halben Jahr im Internat. Die Revolution hat sie daher vor allem mittelbar erlebt: Die Lehrer im Heim müssen nun nicht mehr als „Genossen“ angesprochen werden und die Bilder des Herrscherpaars hat man von den Wänden gerissen und zusammen mit den Insignien der kommunistischen Macht verbrannt. Zu Beginn des Romans erscheint wie aus dem Nichts eine ältere Frau im Internat, die behauptet, Emmas Großmutter zu sein. Sie will Emma zu sich holen. Das Mädchen fügt sich zunächst nur widerstrebend, folgt dann aber doch der Frau in die fremde Stadt.

Ein Großteil des Romans hat die Beziehung zum Thema, die sich nun nach und nach zwischen den beiden entwickelt. Der Großmutter scheint es nicht schlecht zu gehen, was in diesen turbulenten Zeiten anfangs überraschen mag. Jedenfalls muss Emma bei ihr nicht darben. Sie wird schon bald eingeschult und muss sich in der neuen Umgebung behaupten. Sie lernt, sich gegen Mitschülerinnen durchzusetzen, und erlebt ihre erste Liebe. Von Beginn an schwankt Emmas (und unsere) Wahrnehmung der Großmutter zwischen zwei Polen: Die alte Frau weist gute wie schlechte Seiten auf, sie erscheint als Hexe und Kräuterweib, als Zauberin und Magierin. Sie verbindet die wirkliche Welt mit einer überrealen Dimension. Sie steht aber vor allem auch für die wundersame Initiation ins Leben, die sie an Emma vornimmt. In der Vergangenheit der Großmutter gibt es einige dunkle Flecken. Manche Leute in der Stadt halten sie für eine Spionin des mittlerweile gestürzten Regimes und auch die genaue Rolle ihres Mannes, der erst kurz zuvor an Sylvester gestorben ist, bleibt undurchsichtig. Weder Emma noch die Bewohner der Stadt noch wir Leser gelangen in der Bewertung der Vergangenheit der Großeltern zu eindeutigen Antworten. Gerade an diesen Figuren zeigt Dragomán eindrücklich auf, wie die Ereignisse von Ende 1989 die Maßstäbe durcheinander gebracht haben. In langen Monologen und seltsamen Ritualen öffnet sich die Großmutter gegenüber Emma allmählich, so dass sich mit der Zeit ein etwas deutlicheres Bild der Vergangenheit herauskristallisiert. Und diese hat ihre Wurzeln weit vor der kommunistischen Epoche. Was hat es dabei mit dem Holzschuppen im Garten der Großmutter auf sich, der für Emma unter Androhung von Strafe tabu ist? Und wer war jene jüdische Freundin, die vor Jahrzehnten deportiert wurde, als Emmas Großmutter selber noch ein junges Mädchen war?

Was an Dragománs Roman besonders überzeugt, ist die bereits angedeutete Engführung zwischen der „großen“ und der „kleinen“ Geschichte: Rumänien befindet sich in einer Übergangsphase, die sich auch in Emmas privatem Leben widerspiegelt. „Der Scheiterhaufen“ ist eine Coming-of-Age-Geschichte: Bei Emma setzt die Periode ein, und sie wird allmählich erwachsen. Während sich das Land seiner Vergangenheit stellt, befreit sich nach und nach auch Emma aus ihrer verkümmerten Kindheit. Sie sucht Antworten auf die Frage nach ihrer Herkunft, freundet sich mit der Großmutter an und akzeptiert damit letztlich auch ihre Familiengeschichte. Sie lernt sich zu behaupten und ergreift die Initiative, sie wird nach und nach von einem Waisenkind zu einer Handelnden, die ihr Schicksal selber bestimmen will. Auf ihre ganz eigene Art emanzipiert sich aber auch die Großmutter – sie redet sich in ihren Monologen vom Vergangenen frei und erteilt sich in ihren Ritualen quasi selbst die Absolution. Diese verschiedenen Prozesse verlaufen nun allerdings zwar parallel, aber nicht unbedingt gleichförmig: Bei der Überwindung der Vergangenheit scheint es keine festen Regeln, kein Drehbuch zu geben. Die Bewältigung der Geschichte erweist sich zugleich als ein kollektives als auch als individuelles Projekt, das aber immer wieder in die Frage mündet, wie man mit der neu gewonnenen Freiheit umgehen soll. Emmas Zeichenlehrer in der Schule meint einmal resigniert: „Es sieht so aus, als könnte hier keiner mit der Freiheit etwas anfangen“.

In der Metapher vom Scheiterhaufen hat Dragomán den Umgang mit der Geschichte verdichtet. Man kann das Vergangene zwar symbolisch verbrennen, aber wer entscheidet – und nach welchen Kriterien –, was überhaupt auf den Scheiterhaufen gelangt? Wird das Richtige den Flammen überantwortet? Wird alles zu Asche, oder bleibt etwas zurück, das nicht verbrennt? Und: Wird sich das Feuer als reinigend erweisen?

Interessant an der Figurenkonstellation von Emma und Großmutter ist in erster Linie, dass hier die mittlere Generation fehlt. Es ist, als müsse die Geschichte von den Jüngsten und den Ältesten geschrieben werden. Zugleich wird jedoch auch angedeutet, dass Emma dafür in mancher Hinsicht noch zu jung, die Großmutter wiederum bereits zu alt ist. Es erscheint daher geradezu als symptomatisch, dass Emmas Eltern durch einen Unfall aus der Geschichte „eliminiert“ worden sind. Zwar werden hier und da Emmas Erinnerungen an ihre Eltern in die Erzählung eingestreut, doch kann das Kind beziehungsweise die junge Frau auf deren Erfahrungen und Hilfestellung nicht mehr zurückgreifen.

Im Mittelteil des Romans entsteht der Eindruck, er beginne ein wenig zu zerfallen. Verlief die Entwicklung bis dahin linear, gleichsam in einem einzigen Strom, so treten nun immer mehr Themen zur Erzählung hinzu. Doch scheint gerade dies auch wieder beispielhaft für die errungene Freiheit zu sein: Der Sturz der Diktatur mag eine Nullstunde in der rumänischen Geschichte markieren. Der Neuanfang erweist sich dann hingegen als komplexer als von vielen vermutet. György Dragomán weiß darum – und gerade deshalb hat er mit „Der Scheiterhaufen“ ein eindrückliches Stück Literatur vorgelegt, das man als späten rumänischen Wenderoman bezeichnen könnte.

Titelbild

György Dragomán: Der Scheiterhaufen. Roman.
Übersetzt aus dem Ungarischen von Lacy Kornitzer.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015.
495 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783518424988

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