Am Abgrund

James Ellroy zeichnet in „Perfidia“ ein ernüchterndes Bild von der Polizeiwelt der USA

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

James Ellroy schreibt bereits seit Jahren an dem, was man früher eine Sittengeschichte der amerikanischen Gesellschaft und insbesondere der amerikanischen Polizei genannt hätte. Dass es dabei kein gutes Zeugnis für das Amerikanische geben würde, kann jeder ahnen, der einigermaßen um die Genregesetze der Polizeikrimis weiß, in dem die Abgründe von Polizeiwillkür und Machmissbrauch einen großen Anteil haben.

Dies ist im amerikanischen Krimi – anders als im früheren europäischen – nicht ideologiekritisch fundiert, sondern Teil der selbstreflexiven Diskussion der amerikanischen Gesellschaft über ihren Prozess der Zivilisation, der eben an den Prämissen der von Siedlern begründeten Gesellschaft ihre Grenzen findet. Grenzen, die immer wieder aufs Neue verschoben werden müssen, soll das Projekt Zivilisation nicht vollends aufgeben werden.

Dass es überhaupt immer noch vorangetrieben wird, ist eines der Wunder der sogenannten offenen Gesellschaften, die im Grunde nicht minder rassistisch und chauvinistisch sein müssen als die geschlossenen oder jene, die sich offen zu totalitären Formen bekennen. Der Antikommunismus und Rassismus in den USA der 1930er- und 1940er-Jahre steht demjenigen in Deutschland kaum nach.

Daran arbeiten sich zahlreiche Autoren ab: Dennis Lehane, Richard Price, James Ellroy, ja eben auch Upton Sinclair oder Jack London zu ihrer Zeit – denn das Skandalon, das darin begründet ist, dass eine Gesellschaft, die sich auf Freiheit gründet, die des Andersdenkenden nicht achtet, ist bis heute unbegreiflich.

Dennoch sind es gerade solche offenen Gesellschaften, und es sind gerade die USA, die darin nicht aufgehen, sondern den langwierigen Prozess durchlaufen, in dem aus einer chauvinistischen eine faire Gesellschaft wird, in der es immer noch ungeheure Gewaltausbrüche gerade von Seiten der staatlichen Institutionen gibt und die dennoch mit der Verheißung verbunden wird, dass dies dann doch das Land der Freiheit sein soll.

Das bedeutet aber immer auch, dass gegen das moralische Gesetz dessen, der immer alles besser weiß, das Recht gesetzt wird, das auf die körperliche Unversehrtheit, das auf einen fairen Prozess setzt. Und das auf die Pflicht, dass ein Rechtsverstoß eben auch nachgewiesen wird, nicht verzichten will. Das bedeutet auch, dass die Unmittelbarkeit, die in dem Recht des Einzelnen auf Waffenbesitz und -anwendung abgebildet wird, ihre Grenzen finden muss. Und diese Grenzen werden – so ist zu hoffen – mehr und mehr verschoben, bis eben Gewalt selbst soweit zurückgedrängt ist, wie es sich für eine zivilisierte Gesellschaft gehört, die eben nicht der Macht gehorcht, sondern dem Recht. Denn das ist die andere Seite des Unmittelbarkeitsprinzips der Moral, dass sie nämlich tatsächlich nur der Büttel der Macht ist, die sich ihrer bedient.

James Ellroy hat „Perfidia“ genau an einem Orientierungspunkt der US-amerikanischen Selbsterhebung angesiedelt, nämlich am Überfall der japanischen Marine auf den Stützpunkt Pearl Harbor am 7. Dezember 1941. In der Nacht vor dem Überfall wird eine in Los Angeles lebende japanische Familie tot aufgefunden, ein ritueller Selbstmord, wie es auf den ersten Blick scheint. An der Ermittlung beteiligt sind zwei Polizisten namens Lee Blanchard und Dudley Smith sowie ein Ermittler namens Hideo Ashida. Mit William H. Parker kommt ein weiterer Polizist dazu. Es dauert nicht lange, bis klar wird, dass der Selbstmord der japanischen Familie inszeniert war. Ein Mehrfachmord.

In der aufgeheizten Atmosphäre nach dem Überfall auf Pearl Harbor kommt das nicht gut an. Jeder japanischstämmige Amerikaner, der sich auf die Straße wagt, geht das Risiko ein, vom aufgebrachten Mob gelyncht zu werden. Um seine Souveränität zu wahren, will das Polizeidepartment aber seine Überparteilichkeit demonstrieren und fordert einen Schuldigen bis zum Jahresende, gegen den Anklage erhoben werden soll. Wenn es denn nicht der wahre Täter sein kann, dann wenigstens einer, der die Todesstrafe für einen solchen Mord verdient. Sollte der wirklich Schuldige je herauskommen, werde man sich seiner auf andere Weise entledigen.

Die Handlung entwickelt sich auf den folgenden 900 Seiten zu einem Machtkampf zwischen Smith und Parker, die beide die starken Männer auf der Departmentebene sind. Dabei spielt eine Reihe weiterer Polizisten, Politiker, Ermittler und eine junge Frau, die mit einem der Polizisten lebt, Kay Lake, verschiedene ergänzende Rollen.

Das Ganze ist als Verwirrspiel angelegt, das den Fokus auf Genauigkeit und Unübersichtlichkeit legt. In der Tat werden die Aktivitäten der einzelnen Akteure derart detailliert beschrieben, dass sich ihre antagonistischen Wirkungen ungehemmt entfalten können. Eine bessere Demonstration gruppensoziologischer Prozesse kann man sich kaum denken.

Das aber ist nur die eine Seite des Romans: die andere ist die hemmungslose Gewaltversessenheit seines Personals und der ungefilterte Rassismus seiner Akteure – eine Miniaturausgabe der großen Machtpolitik mit denselben Typen und denselben Folgen, nur eben in kleinerem Maßstab.

Dass in einem solchen Konglomerat so etwas wie Recht nur Fassade ist, erfüllt die Erwartungen. Hier schlägt das Pendel massiv zur anderen Seite aus, hier spielt auch Moral keine Rolle mehr, sondern nur noch die Überlegung, wie Chancen besser realisiert werden können. Moral ist dabei ebenso ein Hindernis wie Recht. Wenn da nicht der Gedanke wäre, dass sich in einer solchen Szenerie die Moral ihrer Oberfläche entledigt hat und in ihrem wahren Kern erscheint: Gewalt, die von Einzelnen ausgeht.

Titelbild

James Ellroy: Perfida. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Stephen Tree.
Ullstein Verlag, Berlin 2015.
952 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783550088971

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