Der Krise des Lesens entgegenwirken

Frank Janles Studie stellt die Prototypikalität als neuen Lernweg in die Literaturgeschichte vor

Von Torsten MergenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Mergen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die traditionelle Literaturgeschichtsschreibung hat in der Germanistik einen schwierigen Stand, da diverse Methodendebatten und Theoriekonzeptionen der vergangenen Jahrzehnte Instanzen wie Autor(in), Geschichte und Epochen(grenzen), Werk und Gattung als homogene und konsensfähige Fachtermini beziehungsweise Analysekategorien hinterfragt und in Zweifel gezogen haben. Poststrukturalistische Theorien, vor allem gestützt auf die Dekonstruktion, konstatierten in der Konsequenz mit verschiedenen Gründen die Unmöglichkeit der Literaturgeschichte als ernstzunehmendes wissenschaftliches Unterfangen: Kritik wird geübt an den Epochenbegriffen und -grenzen, es erfolgte und erfolgt eine Weitung des Blicks auf transnationale Entwicklungen von Literatur. Das Anzweifeln von seriöser und valider Kanonbildung verweist auf zugrundeliegende Dilemmata.

Diese Entwicklungstendenzen auf der fachwissenschaftlichen Bezugsebene haben für schulische Vermittlungsprozesse von Literatur gravierende Folgen: Die Beschäftigung mit Literaturgeschichte und die Vermittlung eines literaturgeschichtlichen Orientierungswissens stehen unter dem grundsätzlichen Verdacht, einem „musealen Bildungswissen“ verpflichtet zu sein, das lernpsychologisch wie fachlich antiquiert und eher dem 19. als dem 21. Jahrhundert angemessen wirkt. An dieser Konfliktlinie setzt die literaturdidaktische Studie „Prototypikalität als Weg in die Literaturgeschichte“ von Frank Janle an, die 2015 im Erich Schmidt Verlag erschienen ist. Janle macht es sich theoretisch, methodisch und konzeptionell nicht leicht: In sieben Kapiteln entwirft er einen neuen Zugang des Deutschunterrichts zu ausgewählten Werken der Literaturgeschichte. Es geht ihm um nachhaltige Prozesse literarischen Lernens, die mit dem Neologismus „prototypenbasierter Literaturunterricht“ belegt werden. Janle intendiert in diesem Kontext, Erkenntnisse beziehungsweise Ansätze der Lernpsychologie mit den Voraussetzungen und Bedingungen der Literatur zu einem in sich schlüssigen Konzept literarischen Lernens zu verknüpfen, wobei im Zentrum des Ansatzes der Begriff der „Prototypen“ steht.

Im ersten, einführenden Kapitel umreißt der Autor die Grundlagen einer „didaktischen Phänomenologie“, welche „literarische Texte bzw. Phänomene nach dem kognitiven Prinzip der Prototypikalität strukturiert“. Dabei greift Janle auf linguistische (unter anderen Martina Mangasser-Wahl) und wissenspsychologische (unter anderen Luc Ciompi) Studien zurück und stellt Bezüge zur aktuellen Kompetenzdebatte her, wobei er mit Verweis auf Kaspar Spinner konstatiert, dass die „Literaturdidaktik gerade dabei ist, den Aspekt der Prototypikalität für sich zu entdecken“. Durch die Vermittlung von übergeordneten Strukturen anhand von hervorstechenden Eigenschaften, also typisch-bedeutenden Vertretern einer Kategorie, soll die komplexe Literaturgeschichte exemplarisch erschlossen werden.

Im zweiten Kapitel konkretisiert Janle diesen Ansatzpunkt durch die genauere Analyse von Franz Kafkas Erzählung „Auf der Galerie“ und den Nachweis prototypischer Eigenschaften. Auf dieser Basis stellt er thesenartig die Relevanz eines prototypenbasierten Literaturunterrichts dar, wobei eine Leitthese lautet: „Prototypikalität stellt eine Möglichkeit dar, literarischen Rezeptions- und Verstehensprozessen eine sinnvolle, von der Sache her begründete Orientierung zu geben“. Dem werde der gegenwärtige literaturdidaktische Diskurs nicht gerecht, wohingegen die Sprach- und Schreibdidaktik diesen Ansatz bereits breit rezipiert und empirisch untersucht habe.

Das dritte Kapitel referiert den theoretischen Hintergrund der Prototypentheorie, die sowohl psychologische als auch philosophische Wurzeln besitzt. Eine besondere Rolle komme den Wahrnehmungsstudien von Eleonor Rosch in den 1970er-Jahren zu, vor allem dem Konzept der sogenannten Familienähnlichkeit. Gestützt auf sprachdidaktische Vorarbeiten des Didaktikers Peter Klotz aktualisiert Janle den Prototypenansatz um Elemente der Lernpsychologie nach Jean Piaget und Ciompi. Er sieht enormes Potenzial für Schülerinnen und Schüler, an „besten Beispielen“ ein „differenziertes mentales Straßen- und Wegesystem“ zu erwerben.

Wie dies mit geeigneten Basiskategorien für die Literaturgeschichte geleistet werden kann, untersucht der Autor im vierten Kapitel. Durch Analyse der ästhetischen Gestaltungsoptionen von Schriftstellern im Umgang mit der Wirklichkeit, hier verstanden als die natürliche Umwelt und die soziokulturellen sowie ideellen Bereiche, gelangt Janle zu einer Systematik von vier basalen literarischen Darstellungsmodi: dem realistischen, idealistischen, phantastischen und autoreferentiellen mit jeweils eigenen Aspekten, die für Textbeobachtungen eindeutige Zuschreibungen ermöglichen. Zentraler Gedanke bei der Unterscheidung von Texten wie Georg Büchners „Dantons Tod“, Friedrich Schillers „Maria Stuart“, Johann Wolfgang Goethes „Märchen“ und Döhls Blattgedicht ist es, Merkmale zu identifizieren, die auch für ungeübte Leserinnen und Leser eine eindeutige Unterscheidung ermöglichen. Die Deutschdidaktik hat im letzten Jahrzehnt eine Fortentwicklung in Richtung empirischer Forschung vollzogen. Dem wird das fünfte Kapitel der Studie gerecht, indem eine Praxiserprobung der Arbeit mit Prototypen vorgestellt wird: In einem Pilotschulversuch mit 24 Schülern hat Janle einen Oberstufenkurs eines baden-württembergischen Gymnasiums mit Materialien und Untersuchungsaufträgen zum realistischen Darstellungsmodus konfrontiert. Ausführlich dokumentiert werden die eingesetzten Text- und Bildquellen im Anhang der Studie, die zugleich einen Einblick vom Design möglicher Folgearbeiten mit literarischen Prototypen im Deutschunterricht gewährt. Didaktisch aufbereitet und im Unterricht durchgeführt wurde das Thema „Realismus in der deutschsprachigen Literatur und ihrer Geschichte“, dabei wurden Schillers Erzählung „Der Verbrecher aus verlorener Ehre“, Büchners Drama „Woyzeck“, Theodor Fontanes Roman „Effi Briest“ und Max Frischs Roman „Homo faber“ in acht Doppelstunden näher betrachtet.

Erste Hinweise und Ergebnisse der Fragebogenauswertungen deuten darauf hin, dass durch die Arbeit mit Prototypen Schüler „Vorstellungen von der thematischen Ausrichtung, der Spezifik des Wirklichkeitsbezugs und grundlegender Darstellungsstrategien realistischer Texte“ gewinnen konnten. Jedoch verweist der Autor selbst darauf, dass weiterhin „Baustellen“ bleiben: „Auch die Fähigkeit zur kritischen Reflexion des Epochenbegriffs und zur Unterscheidung des realistischen Darstellungsmodus von anderen basalen Darstellungsmodi […] befinden sich […] offensichtlich noch im Initialstadium.“ Ferner weisen die ersten, jedoch aufgrund fehlender Kontrollgruppe keineswegs objektiv-validen Ergebnisse darauf hin, dass literarästhetische Verstehens- und Urteilsfähigkeit durch die genauere Betrachtung von Prototypen „trainiert“ werden kann, da exemplarische Kenntnisse über Autoren, Werke und Themen sowie Narrations- und Dramatisierungsformen erworben wurden.

Kapitel sechs und sieben der Studie dienen dem Resümee und dem Ausblick. Für die weitere Arbeit mit dem Konzept der Prototypikalität im Literaturunterricht fruchtbar scheint die Erkenntnis Janles zu sein, dass hier die Möglichkeit besteht, einen nicht-chronologisch basierten, kognitiv rekonstruierbaren Zugang zu der Vielfalt literarischer Erscheinungen zu gewinnen.

Zusammenfassend zeigt Frank Janle eine Möglichkeit auf, „Schülern einen gleichermaßen objekt- wie rezipientenorientierten, kognitionspsychologisch fundierten Lernweg in die deutschsprachige Literatur und ihre Geschichte zu ebnen“. Dabei verkennt er keineswegs die Schwierigkeiten, die mit einer flächendeckenden Etablierung des „prototypenbasierten Literaturunterrichts“ einhergehen, und plädiert für weitere, vorrangig empirische Folgestudien zur kontrollierten Ausdifferenzierung des Neuansatzes. Die von Janle betriebene theoretische Fundierung erfolgt auf sprachlich wie qualitativ anspruchsvollem Niveau. Folgestudien und Lehrmaterialien werden zeigen, inwiefern literarische Prototypen im Schulalltag den klassischen Kompetenzerwerb zur Literaturgeschichte an exemplarischen Fällen ergänzen und bereichern können.

Titelbild

Frank Janle: Prototypikalität als Weg in die Literaturgeschichte. Entwurf einer didaktischen Phänomenologie.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2015.
416 Seiten, 59,00 EUR.
ISBN-13: 9783503155767

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