Good old art of typewriting

Das opulente Archiv von Ruth und Marvin Sackner zur Schreibmaschinenkunst ist ein Augenöffner

Von Markus BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Schreibmaschine scheint heute ein weitgehend „historisch überholtes“ Schreibgerät. Seit Friedrich Nietzsche sich für die Erfindung interessierte, hat sie ein Jahrhundert lang die Avantgarde-Position für schnelles, von der individuellen Handschrift losgelöstes, leicht lesbares Schreiben innegehabt, bevor der massenhaft verbreitete PC mit seinen Textverarbeitungs- und Grafikprogrammen ihr den Rang ablief. Der Typeschreiber hatte noch etwas vom alten Gutenbergʼschen Umgang mit auf Papier gedruckten Buchstabenzeichen, wovon nicht zuletzt die sichtbaren Stanzprofile auf der Rückseite der mit dem Gerät beschriebenen Papierblätter Spuren hinterließen. Der entscheidende Vorteil der Schreibmaschine lag neben der deutlichen Erkennbarkeit der Schrifttypen in ihrer linearen Anordnung, die dem Buchdruck ähnlich gerade Zeilen und normierte Abstände garantierte. So setzte sie sich bald im Behördenverkehr, in den Büros, beim Buchmanuskripterstellen bis hin zum Briefeschreiben durch. Nicht unbedeutend ist ihr Beitrag auch zur Bereitstellung von Arbeitsplätzen für Frauen. Das Jahrhundert der Schreibmaschine wird dereinst einmal als ein eigenes erkannt werden, weil es die Explosion der Verschriftlichung designästhetisch prägte.

Die Vorteile in der Schriftgestaltung haben Künstler seit jeher zur Gegenreaktion gereizt. Wo der Stift oder Füllfederhalter je nach des Autors oder Zeichners individueller Absicht wüst über das Blatt geführt werden kann, verlangt die Schreibmaschine besondere Vorgehensweisen, um ihre spezifische Ordnungsstruktur kreativ werden zu lassen. Insofern ist der vorliegende Band „Schreibmaschinenkunst“ von Ruth und Marvin Sackner ein Hohelied auf die Kreativität des Individuums, die auch vor der Maschine nicht Halt macht. Die dieser Kunst eigenen Mittel sind das Überschreiben, der Gebrauch unterschiedlicher Farbbänder, der Wechsel in der Repetition, die Ausstellung des grafischen Wertes der Lettern, die Perforation und anderes mehr. Wer sich kaum vorstellen konnte, was mit der Schreibmaschine möglich ist, wird in diesem Band auf die Bedeutung des Widerspenstigen für die Kreativität förmlich gestoßen: Tausende Wege, um aus der Linearität der Maschine das Gegenteil herauszuholen, ebenso viele Anlässe, Formen im Licht der maschinellen Produktion neu zu erfinden und Beweise der innovativen grafischen Gestaltung, die die Maschine erst ermöglicht, wenn man ihre scheinbar inhärent gegebenen Grenzen überschreitet.

Es war ein amerikanisches Ehepaar, das Ende der 1960er-Jahre auf diese Kunst der Schreibmaschine aufmerksam wurde und in Jahrzehnte langer Sammelarbeit eines der größten Archive an Originalpublikationen zusammengetragen hat. Marvin und die vor wenigen Monaten verstorbene Ruth Sackner nutzten die Reisetätigkeit des Arztes und Wissenschaftlers vom Mount Sinai Medical Center in Florida, um in Kontakt mit den Künstlern ebenso wie mit den Verlagen und Händlern zu treten, die stetig zum Wachsen der Sammlung beitrugen. Der vorliegende, aus dem Amerikanischen übersetzte opulente Band gibt einen glänzenden Eindruck vom Kreativitäts-Reichtum der Künstler wie von der Weite der Interessen der Sammler, die sich auf diverse Felder der Typewriting Art erstreckte. In einem eigenen Beitrag schildert Sackner die Entstehung der Sammlung in ihrer immensen Größe, weitere Texte gehen auf die Geschichte des dekorativen Maschineschreibens und die Geschichte der Konkreten und Visuellen Poesie ein.

Im Hauptteil mit seinen Abbildungen wird die Weite der künstlerischen Ansätze sichtbar. Der Band insgesamt ist ein Hingucker, eine Augenweide mit seinen in Foliogröße reproduzierten Grafiken, die ein unermessliches Feld des künstlerischen Umgangs mit der Schreibmaschine erkennen lassen. Von DADA, russischem Konstruktivismus oder der Konkreten und der Visuellen Poesie hin zu ganz eigenen Formen des „artype“, die wiederum von der Imitation künstlerischer Produkte bis zum schreibmaschinenbezogenen Ausdruck der scheinbar unendlichen Möglichkeiten zur Formgestaltung reichen, bietet jede Abbildung für sich verblüffende künstlerische Effekte. Die Erzielung von Raum- und Bewegungsillusionen durch Überschreibung, das Spiel mit den Semantiken, unendliche Formvariationen zeigen den Abwechslungsreichtum dieser bisher eher unbekannt gebliebenen künstlerischen Produktion. Nicht zufällig gerieten einige der Künstler durch Überlegungen zu Laut- und Klangabbildung auf die Schreibmaschinenkunst. Die Begeisterung beim Blättern steigert sich zunehmend an den subtilen Vorgehensweisen der unterschiedlichen Macharten bis hin zur Doppelseite 290/1, wo Steve McCafferys die Möglichkeiten der Schreibmaschine geradezu explodieren lässt.

Doch damit nicht genug: Im letzten Teil des Bandes sind in die Texte der Biografien einiger Künstler weitere Beispiele integriert, die der Leser gern ebenso auf Foliogröße sehen würde. Neben Tom Phillipps, Henri Chopin, dem genialen Dom Sylvester Houédard, Dirk Krecker, Brenda Miller, Françoise Mairey und vielen anderen taucht auch der Mitherausgeber eines der klassischen Kataloge zur visuellen Poesie („Text als Figur“) auf: Der britische Germanist Jeremy Adler ist selbst ein konkreter Poet, Herausgeber und Verleger. Weitere hierzulande eher geläufige Namen aus der etwas angloamerikanisch-lastigen Perspektive der Sackners sind natürlich der des in Bolivien geborenen Begründers der Konkreten Poesie Eugen Gomringer oder des DDR-Künstlers Carlfriedrich Claus. Auch Ruth Wolf-Rehfeldt aus Leipzig ist unter anderem mit ihrer faszinierend leichten „Faltung I“ vertreten.

Das Sackner-Archiv wird mit diesem herausragenden Katalog als Zentrum einer Kunst zwischen Maschine und Grafik sichtbar, deren bisher eher marginale Position allmählich die ihr gebührende Aufmerksamkeit erfährt.

Titelbild

Marvin Sackner / Ruth Sackner: Schreibmaschinenkunst.
Mit über 570 Abbildungen.
Übersetzt aus dem Englischen von Claudia Kotte.
Sieveking Verlag, München 2015.
351 Seiten, 69,90 EUR.
ISBN-13: 9783944874258

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch