Literatur und Landschaft

Eine voluminöse Literaturgeschichte Frankens von Hermann Glaser

Von Klaus HübnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hübner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass er ein, wenn nicht der Experte schlechthin für Frankens Literatur und deren Geschichte ist, hat Hermann Glaser, der langjährige Kulturdezernent der Stadt Nürnberg, in unzähligen Vorträgen, Aufsätzen, Radiosendungen und Büchern bewiesen. Im ehrwürdigen Alter von 87 Jahren legt der vielfach ausgezeichnete Autor und Kulturpolitiker nun ein schwergewichtiges Werk vor, das man mit einigem Recht als Summe seiner lebenslangen Bemühungen um die Literatur Frankens bezeichnen darf. Auf dem Erlanger Poetenfest stellte Hermann Glaser sein Opus Franken – Eine deutsche Literaturlandschaft erstmals vor. Er versteht seine Arbeit als Fortführung und Erweiterung der Fränkischen Klassiker aus dem Jahr 1971, einem aus einer Sendereihe des BR-Studios Nürnberg entstandenen, von Wolfgang Buhl herausgegebenen Werk, das das weitverzweigte Thema in Einzeldarstellungen erschlossen hatte. Dem Publizisten und Rundfunkmann Buhl und dem Mediävistikprofessor Horst Brunner wird für ihre Vor- und Mitarbeit gebührend gedankt, andere „Zulieferer“ werden erwähnt. Der Verfasser, betont Glaser, sei in der komfortablen Lage gewesen, „sich als umfangreicher Kompilator zu entlasten“, und bei diesem keineswegs unschöpferischen Zusammenstellen spiele das Zitat eine wichtige Rolle. So weit, so gut. Und da die „Geografie der Literatur“, für deren Anerkennung als wichtige Hilfswissenschaft jeglicher Beschäftigung mit Literatur vor allem die Schweizer Literaturwissenschaftlerin Barbara Piatti seit Jahren eine Lanze bricht, ein Forschungsfeld ist, mit dem schon jeder Literaturinteressierte einmal irgendwie in Berührung gekommen ist, freut man sich auf eine kompetente und erhellende Darstellung der Literaturlandschaft Franken.

Deutschland und Franken

Aber ach! Hermann Glaser hat in seinem ehrenwerten Bemühen, die literarischen Beziehungen und vielfachen Wechselwirkungen zwischen Franken und dem übrigen Deutschland herauszuarbeiten, eine Entscheidung getroffen, über die man vehement streiten kann, ja streiten muss: Er hat dem Fränkischen, das erst ab Seite 355 behandelt wird, einen umfangreichen ersten Teil vorangestellt, der die Epochen der deutschen Literatur vom frühen Mittelalter bis zu Franz Xaver Kroetz, Herbert Achternbusch und Martin Sperr behandelt – eine ganz konventionelle Geschichte der deutschsprachigen Literatur. Man liest also zunächst einmal einen vollkommen überraschungsfreien germanistischen Grundkurstext, der Glaser als grundfleißigen Kompilator zeigt, aber kaum das bewirken wird, was er eigentlich soll: die Literatur Frankens erkenntnisfördernd zu beleuchten und sie in größeren Zusammenhängen zu verorten. Der Entschluss, sein Buch so beginnen zu lassen, macht den Einstieg unnötig mühsam. Wer nicht möchte, dass das spannende Thema in weithin bekannten Fakten zu Oswald von Wolkenstein, Adelbert von Chamisso, Max Frisch oder Christa Wolf untergeht, wer dieses Buch nicht schon erschöpft zuklappen möchte, bevor es zur eigentlichen Sache geht, dem muss man dringend raten, den gesamten ersten Teil zu überspringen und sich mit den gut 200 Seiten zu begnügen, die dem Kernthema der Studie gelten: Franken – Eine deutsche Literaturlandschaft.

Facettenreiche Literaturlandschaft

„Im 11. Jahrhundert beginnt die Geschichte Frankens als Literaturlandschaft“, und zwar mit dem christusfrommen Ezzo-Lied und dem Historienepos vom Herzog Ernst, schreibt Glaser. Wie zwei der bedeutendsten deutschen Dichter des Mittelalters, Wolfram von Eschenbach mit dem Parzival und Walther von der Vogelweide mit seinen Sangsprüchen, mit Franken verbunden sind, erläutert er eindringlich, und dass das 13. Jahrhundert „als die glänzendste Zeit der Region in der Literaturgeschichte“ gelten kann, führt Glaser nicht nur an den Werken des Konrad von Würzburg oder des Wirnt von Gravenberc einleuchtend vor. Seinem beeindruckenden Mittelalter-Kapitel folgt eines zu Humanismus und Renaissance, und hier ist der Nürnberger auf seinem ureigensten Gebiet. In dieser „löblichen Stat“ wirkten unter anderem Albrecht Dürer und Willibald Pirckheimer, vor allem aber die Handwerker-Poeten, die weithin bekannt, aber zu wenig gelesen sind und dennoch bis ins 20. Jahrhundert hinein nachwirkten, unter ihnen Hans Rosenplüt und Hans Folz, vor allem jedoch der große Hans Sachs. Glaser versteht es, ihre Dichtungen dem Leser auf wenigen Seiten derart nahezubringen, dass man sich seiner Unkenntnis zu schämen beginnt und sich fest vornimmt, seine Lektürelücken ganz schnell zu schließen.

Nürnberg bleibt auch in der Barockzeit eine der wichtigsten Literaturstädte Deutschlands – hier entstand 1644 ein „Pegnesischer Blumenorden“, der es sich zur Aufgabe machte, die deutsche Sprache als Sprache der Literatur und der Wissenschaft zu pflegen. Glaser weiß manch Einleuchtendes zu sagen über Georg Philipp Harsdörffer, Philipp von Zesen, Johann Klaj oder Sigmund von Birken, und seine üppig präsentierten Zitate aus ihren Werken sind überlegt ausgewählt. Die Bedeutung Frankens als Literaturlandschaft geht dann im 18. Jahrhundert ein wenig zurück, auch wenn der Ansbacher Dichter Johann Peter Uz überregional gelesen wird und Glaser den 1738 bei Leipzig geborenen Moritz August von Thümmel, der 20 Jahre lang Minister im Coburgischen Staatsdienst war, als oft übergangenen Meister des ebenso heiter-empfindsamen wie sarkastisch-spöttischen Reiseromans zu seinem Recht kommen lässt. Interessant ist Glasers liebevolle Würdigung des Nürnberger Dialektdichters Johann Konrad Grübel – fränkische Mundartliteratur gibt es, wie er betont, keineswegs erst seit Fitzgerald Kusz.

„Stürmer und Dränger hat Franken viele hervorgebracht, aber – mit einer Ausnahme – keinen bemerkenswerten Autor in der Epoche des Sturm und Drang“, heißt es am Anfang des vierten Kapitels. Dass diese Ausnahme, der berühmte Württemberger Literat und Zeitungsmann Christian Friedrich Daniel Schubart, nur mit Ach und Krach dem Frankenland zuzurechnen ist, nimmt der Leser gerne hin. Mit seinen luziden Ausführungen zu Goethe und dessen Dürer-Begeisterung ist Glaser dann ganz in seinem Element, und gerade hier wird deutlich, dass „Literaturlandschaft“ weit mehr bedeutet als nur „Geburtsregion“. Das beweisen auch die Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders (1796), mit denen Wilhelm Heinrich Wackenroder und Ludwig Tieck zur Popularität der Ferienregion „Fränkische Schweiz“ und zum Ansehen des Nürnberger Kunstgeists Entscheidendes beigetragen haben – wie später auch Joseph Victor von Scheffel, dem man in Gößweinstein ein sehenswertes Denkmal errichtet hat.

Dass Hermann Glaser im Abschnitt über seinen Lieblingspoeten Jean Paul alle Register seines Könnens zieht, verwundert nicht. Dort, und auch in den Ausführungen zum Werk des zeitweiligen Bambergers E.T.A. Hoffmann und des Schweinfurter Dichtergelehrten Friedrich Rückert, findet selbst der Kenner viel Neues. Das 19. Jahrhundert wird weitgehend mit den Philosophen Max Stirner, Gottfried Wilhelm Friedrich Hegel und Ludwig Feuerbach bestritten, doch kommen auch später in München wirkende Franken wie Oskar Panizza, Michael Georg Conrad und Ludwig Derleth nicht zu kurz. Oder, später dann, wichtige Autoren des 20. Jahrhunderts wie Jakob Wassermann, Leonhard Frank, Bernhard Kellermann, Ernst Penzoldt oder Hermann Kesten. Dass sich Glaser ausführlich der in den letzten 50 Jahren boomenden fränkischen Mundartdichtung zuwendet, versteht sich von selbst. Mit differenzierten Darstellungen von Schriftstellern, deren Wirken erst von einigen Jahrzehnten begann – Max von der Grün, Gisela Elsner, Hans Wollschläger, Peter Horst Neumann, Natascha Wodin, Ludwig Fels, Gerhard Falkner oder Kerstin Specht –, geht Hermann Glasers Parcours durch die Jahrhunderte dann seinem Ende entgegen. Der zweite Teil von Franken – Eine deutsche Literaturlandschaft bietet erheblich mehr, als hier aufzuzählen der Ort ist, und er bietet beileibe nicht nur Information über die Dichter, sondern auch Interpretation und begründete Verortung im Fränkischen – selbst Hans Magnus Enzensberger entkommt ihr nicht ganz. Kurzum, die Seiten 355 bis 562 offerieren genau das, was man sich von diesem Glaser’schen Lebenswerk von Anfang an erwartet hatte.

Fränkische LiteraTour

Franken – Eine deutsche Literaturlandschaft ist durchgängig illustriert, in Farbe oder in Schwarz-Weiß. Kosten und Mühen wurden jedenfalls nicht gescheut, um Glasers Darstellung auch zu einem optischen Genuss zu machen. Das ist gelungen – und nicht hoch genug zu rühmen. Aber es kommt noch besser: Der zweite Teil des Buchs ist mit einer „LiteraTour“ verlinkt – auf Seite 11 findet sich ein QR-Code, über den man die Website „www.buchhausschrenk.de“ erreicht und damit auch das neue, noch im Aufbau befindliche „Franken-Literatur-Portal“. Hier stößt man auf oft erstaunliche Erinnerungsspuren, die Schriftsteller im Frankenland hinterlassen haben – Geburts- und Wohnhäuser natürlich, Denkmale und andere Memorabilien. Das ist eine sehr gute Sache, wobei das Ganze sicher noch ausbau- und verbesserungsfähig ist. Immerhin – die „Bildpartitur“, wie Glaser das nennt, kann zu Reisen und Wanderungen zwischen Wolframs-Eschenbach und Joditz oder zwischen Aschaffenburg und Hilpoltstein animieren, die die per se schon sehenswerte Region um anregende Perspektiven bereichert. Wenn schon „Tour“, warum nicht „LiteraTour“?  

Zuverlässiges Nachschlagewerk

Man kann meinen Haupteinwand gegen die Struktur des Werks auch ins Positive wenden und sich sagen: Mit dem Erwerb dieses Buches bekommt man eine faktenreiche Geschichte der deutschsprachigen Literatur von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, und dazu erhält man noch eine äußerst kenntnisreiche und farbige Darstellung der Literaturlandschaft Franken, die es bisher in dieser Form nicht gab und in absehbarer Zeit wohl auch nicht geben wird. Dass es sich als zuverlässiges Nachschlagewerk behaupten wird – wozu der Anhang Wichtiges beiträgt –, steht außer Zweifel. Dennoch ist wahrscheinlich, dass sich die Zahl derer, die Glasers Werk von vorne bis hinten durchlesen werden, in engen Grenzen halten wird. Ist das schlimm? Nein. Man freut sich auch so über dieses opulente Kompendium – aufschlussreich, gelehrt, anregend und unterhaltsam ist es allemal.

Titelbild

Hermann Glaser: Franken - eine deutsche Literaturlandschaft. Epochen - Dichter - Werke.
Schrenk-Verlag, Gunzenhausen 2015.
584 Seiten, 65,00 EUR.
ISBN-13: 9783924270667

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