Ruth Klüger in der Gedenkstunde des Deutschen Bundestages für die Opfer des Nationalsozialismus

Hinweise zu der Schriftstellerin und ihrer Rede am 27. Januar 2016

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Die US-amerikanische Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger, die in Deutschland mit ihrem 1992 erschienenen und viel beachteten Buch weiter leben bekannt wurde, blickte  am 27. Januar 2016 im Deutschen Bundestag zum jährlichen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus erneut auf ihre Jugend zurück. 

Die Rede, deren Text auf der Website des Deutschen Bundestags dokumentiert ist, endete mit den Worten:

Meine Herren und Damen, ich habe jetzt eine ganze Weile über moderne Versklavung als Zwangsarbeit in Nazi-Europa gesprochen und Beispiele aus dem Verdrängungsprozess zitiert, wie er im Nachkriegsdeutschland stattfand. Aber eine neue Generation, nein, zwei oder sogar drei Generationen sind seither hier aufgewachsen, und dieses Land, das vor achtzig Jahren für die schlimmsten Verbrechen des Jahrhunderts verantwortlich war, hat heute den Beifall der Welt gewonnen, dank seiner geöffneten Grenzen und der Groβherzigkeit, mit der Sie die Flut von syrischen und anderen Flüchtlingen aufgenommen haben und noch aufnehmen. Ich bin eine von den vielen Auβenstehenden, die von Verwunderung zu Bewunderung übergegangen sind. Das war der Hauptgrund, warum ich mit groβer Freude Ihre Einladung angenommen und die Gelegenheit wahrgenommen habe, in diesem Rahmen, in Ihrer Hauptstadt, über die früheren Untaten sprechen zu dürfen, hier, wo ein gegensätzliches Vorbild entstanden ist und entsteht, mit dem bescheiden anmutendem und dabei heroischem Wahlwort: Wir schaffen das.

Ich danke Ihnen für diese Einladung.

In einem knappen Kommentar der Frankfurter Allgemeinen Zeitung dazu am 28.1. auf der Seite „Zeitgeschehen“ schlägt der anfangs respektvolle Ton der Rednerin gegenüber in hämische Kritik um, die der von Klüger bewunderten Hilfsbereitschaft gegenüber Menschen in Not eine Alternative für Deutschland entgegenhält: „Aber was genau schaffen wir? Die Kanzlerin ist nicht dem Beifall der Welt verpflichtet, sondern dem Wohle des deutschen Volkes. Das allein ist die Grundlage für Offenheit und Großzügigkeit.“

Im Oktober 1993 hatte im Feuilleton der gleichen Zeitung Marcel Reich-Ranicki seine Rede zur Verleihung des Grimmelshausenpreises an Ruth Klüger veröffentlicht – unter dem Titel „Vom Trotz getrieben, vom Stil beglaubigt“ . Am Ende der Lobrede auf Klügers weiter leben stehen die  Sätze: „An Identitäten fehlt es der Autorin dieses Buches nicht: eine jüdische hat sie und eine österreichische, eine deutsche und eine amerikanische. Doch ist nicht zu beneiden, wer sich auf so viele Identitäten berufen muss. Und es kommt noch eine fünfte Identität hinzu ­ und vielleicht ist es die einzige, auf die sich Ruth Klüger ganz verlassen kann. Die Sprache ist es, die deutsche, die Literatur ist es, die deutsche.“

Vollständig ist die Lobrede, die an seine Anfang des Jahres im Literarischen Quartett  (14.1.1993) gehaltene anknüpfte, jetzt in literaturkritik.de an gesonderte Stelle nachzulesen.  Vor einem Jahr haben wir  (in 2/2015) bereits die Rede, die  Marcel Reich-Ranicki am 27. Januar 2012 bei der Gedenkstunde gehalten hatte, noch einmal publiziert  – zusammen mit Ruth Klügers Interpretation von Paul Celans „Todesfuge“ .

Anmerkung: Hinweise auf bisherige Veröffentlichungen in literaturkritik.de über Ruth Klüger sind hier zusammengestellt.