Die Liebende als Lesende

Silvia Bovenschens „Sarahs Gesetz“

Von Claudia LiebrandRSS-Newsfeed neuer Artikel von Claudia Liebrand

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Narrative, zu denen Schreibende greifen, wenn sie von der Liebe handeln, haben – auch noch in unseren Tagen – meist eine Neigung zum Pathos oder Melodrama. Vom Schicksal zusammengefügt – so das Narrativ – seien die Liebenden, gegen eine Welt von Ablehnung müsse die Liebe, die natürlich die einzige und wahre sei, erkämpft werden, am sichersten ‚verbürgt‘ werde diese einzige, wahre, romantische Liebe (von Shakespeare bis zu den Hollywood-Dramen onstage and offstage) durch Katastrophe und Tod: Nur letzterer verweise dramatisch genug auf ihre jede Immanenz sprengende Kraft.

Nun hat Silvia Bovenschen mit Sarahs Gesetz ein Buch vorgelegt, das von der Liebe handelt – von der vierzig Jahre währenden Freundschaft und Liebe der Intellektuellen, der Literaturwissenschaftlerin, der Schriftstellerin zur fast dreizehn Jahre älteren Malerin Sarah Schumann – und dieses Buch lässt all diese Narrative am Rande liegen. Unprätentiös und lakonisch erzählt Bovenschen, wie sie Schumann kennengelernt habe; dem Zufall (einer Telefonzelle vor dem Berliner Haus, in dem die Malerin wohnte) sei zu verdanken, dass ein verabredetes Treffen nach Hindernissen doch noch zustande gekommen sei: Aufgerufen wird statt des Schicksals die Kontingenz („Ich glaube nicht, dass unsere erste Begegnung die Folge einer gütigen Vorsehung, einer schicksalhaften Notwendigkeit war. Sie war ein Zufall. Zunächst nichts weiter.“). Die Verbindung, das „Verhältnis“ (wie es Bovenschen selbst in Anführungszeichen setzt), kommt nicht in den Blick als eines, das unter den Anfeindungen einer Mitte der siebziger Jahre noch nicht überschwänglich homosexuellenfreundlichen Gesellschaft gelitten habe. Das rudimentäre, sehr vorsichtig gestellte Set an Fragen, die sich diesbezüglich ergeben könnten, delegiert Bovenschen an einen Freund: „Neulich fragte mich ein Freund, ob es für mich ein Problem sei, eine Frau zu lieben. ‚Nein‘, sagte ich. Er wagte sich noch etwas weiter vor. Ob es für mich je ein Problem gewesen sei, eine Frau zu lieben. ‚Nein‘, sagte ich. Ob es Männer gegeben habe, die ich geliebt habe. ‚Ja‘, sagte ich.“

Auch die Katastrophe, der drohende Tod, der als Kulisse für die Gefährdung des gemeinsamen Glücks berufen werden könnte – gerade von der mit schweren gesundheitlichen Einschränkungen geschlagenen Schreibenden –, wird nicht bemüht. Von schweren Krankheiten, von Todesbedrohungen wird berichtet, sie werden aber nicht als dramatische Hintergrundkulisse für das Liebes-Sujet hergerichtet. Bovenschen hasst das Pathos, sie hat nichts übrig für Melodrama, für Indezenz. Sie fühlt sich (ob in Fragen der Sexualität oder psychiatrischer Episoden im Leben der Freundin) der Diskretion verpflichtet („Ich werde sie auch wahren im Zusammenhang mit diesem Buch.“). Und es ist zu konzedieren: Bovenschen ist eine Großmeisterin des Taktes. Allerdings greift sie nicht mehr auf die Technik zurück, die sie noch in ihrem – Familienähnlichkeit mit Sarahs Gesetz aufweisenden – ‚Ratgeber‘ Älter werden (2006) verwandte. Dort anonymisiert sie ihr nahestehende lebende und bereits gestorbene Personen, indem sie sie als Monogramme auftreten lässt: „S. Sch.“, „K. M. M.“, „V. A.“, „H. J. P.“, „A. G. D.“ und andere mehr. Das ist als Geste gemeint, die die Privatsphäre derjenigen schützt, die in ihren Text ‚geraten‘ sind. Diese Geste des Schützens bleibt allerdings prekär: Weisen autobiographische Aufzeichnungen doch ein hohes Maß an Referenzialisierbarkeit auf; und diese Möglichkeit, Referenzen herzustellen, wird durch die Namensabbreviatur, die wie ein Verschlüsselung funktioniert, eben nicht verunmöglicht. Sie wird erschwert, das ist die eine Seite. Die andere Seite aber ist, dass jedes Monogramm zur Rätselvorlage wird, die zu lösen und auszuschreiben sich der Leser, der in die Rolle eines lecteur d’un roman à clef gerät, gedrängt fühlt – zu einer Rätselvorlage, die ausgeschrieben werden kann von denen, die sich im kulturellen und universitären Leben der Bundesrepublik, insbesondere in seinen Frankfurter und Berliner Spielarten, auskennen. Schon in den Rezensionen von Älter werden finden sich (zumindest einige) Aufschlüsselungen – die gelegentlich auch mit dem Hinweis einhergehen, dass die Kehrseite von dezentem Verschweigen die nicht genutzte Chance zur Hommage sei. Diese macht sich Sarahs Gesetz (in Bovenschens Text werden Namen ausgeschrieben) ausdrücklich zum Programm. Der Titel bezieht sich auf Entscheidungen und Festlegungen, die – so die Schreibende – von der Freundin getroffen und vorgenommen würden: Fast alttestamentarisch heißt es, Sarah sei das Gesetz – eine Formulierung, die ironisch relativiert erscheint, blickt man auf die Art der ‚erlassenen‘ Gesetze (die etwa Untertassen verbieten, weil sie zusätzliche Arbeit beim Einräumen in die Spülmaschine machten). Die ‚Gesetzgeberin‘ erscheint der Literaturwissenschaftlerin Silvia Bovenschen als eine zu Lesende: „Meine Freundin Sarah war, als ich sie kennenlernen durfte, eine Frau, die ich nicht verstand. Ich glaube, nein, ich bin sicher, ich war nie zuvor einem Menschen begegnet, den ich so wenig deuten konnte. Knapp gesagt: Ich wurde nicht schlau aus ihr. Nichts fügte sich. Ratlos. Von Stund an begann meine Sarah-Hermeneutik, die nun schon an die vierzig Jahre währt. Ich glaube nicht, dass ich zu endgültigen Befunden kommen werde. Ich glaube nicht einmal an die Möglichkeit endgültiger Befunde. Ich glaube nicht, dass wir einander wahrhaft kennen können. Bei aller Liebe nicht. Und wir sollten es auch nicht wollen.“

Das ist nicht weit von Roland Barthes’ Maxime des Immer-Wieder-Lesens (wer nur einmal liest, lese nämlich immer das gleiche Buch). Bovenschen lässt uns einen Blick auf ihre Interpretationsarbeit werfen, und sie gibt der Freundin selbst das Wort (markiert durch die Kursivierung der diesbezüglichen Passagen), lässt sie aus ihrer Lebensgeschichte erzählen, von der Flucht mit den Eltern, ihrer Kindheit, der Ehe mit Hans Brockstedt, der späten Wiederbegegnung mit der Halbschwester. Wiederholt ist von der Literaturkritik konstatiert worden, so entstehe ein Doppelporträt der Schriftstellerin und der Malerin. Das ist richtig und falsch zugleich. Richtig, insofern sich bei der Lektüre durchaus ein Bild der Schreibenden und der Beschriebenen einstellt, und zwar ein Bild, das historisch präzise modelliert ist. Wir erfahren von dem feministischen Engagement beider Frauen im Rahmen der Ausstellung Künstlerinnen – International 1877-1977 genauso wie vom gemeinsamen Löffeln einer Möhrensuppe mit Fleisch aus der Senatskonserve („Im Zuge der zyklischen Erneuerung des verderblichen Vorrats werden die Dosen [eine Notversorgung, die im Zusammenhang mit der Blockadeerfahrung steht, die die Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg machen musste] kostengünstig an die Stadtbevölkerung verkauft.“). Falsch ist der Eindruck, es handele sich um ein Doppelporträt insofern, als damit ein Genre aufgerufen wird, dem Bovenschens Text (der endgültigen Fixierungen als dogmatischen Verhärtungen misstraut) sich auch zu verweigern sucht. Kein abgeschlossenes Porträt zeichnet der Text, er ist einer Bewegung des Fragens und Suchens verbunden, setzt immer wieder zu einer neuen Skizze an, ist essayistisch (auch aphoristisch) modelliert in der demonstrierten Offenheit des Denkens und des Ernstnehmens der Erfahrungswirklichkeit, in der Einschaltung von Assoziationen und Digressionen, im idiosynkratrischen Zugriff auf zwei ‚Leben‘.

Als Motto des Buches ausgewählt wurde ein Zitat Ilse Aichingers: „Vielleicht beginnt das Unglück in dem Augenblick, in dem einer den anderen zu durchschauen glaubt. Solange wir wissen, dass wir unerkundbar sind, ist Liebe.“ Vielleicht hätte es dieses Peritextes nicht bedurft. Dass die Schreibende die Liebe als unendliche und letztlich (und Gott sei Dank!) vergebliche Erkundung einer Alterität versteht, die weder angeeignet, noch kolonisiert, nicht einmal begriffen werden kann, macht nahezu jede Passage des Textes deutlich. Man hätte den vorangestellten Lektüreschlüssel nicht vermisst. Ein wirkliches Surplus sind aber die Fotographien, die dem Band beigegeben sind (Fotos, die Bovenschen und Schumann oder Bovenschein allein oder Schumann allein zeigen). Als Beispiel sei das Foto genannt, auf dem die etwa dreißigjährige Bovenschen an der Reiseschreibmaschine sitzt, mit schwarzem Rollkragenpullover, langen Haaren, rotlackierten Nägeln, eine Zigarette in der Hand. Das Bild setzt völlig unaufgeregt eine Konstellation in Szene, die für den Feminismus der 70er Jahre genauso wie für die ‚Gesellschaft‘ (nicht nur der Siebziger) einer Aporie gleichkommt: Eine kluge, schreibende, feministische Intellektuelle, die gleichzeitig elegante Dame ist, mode- und kosmetikaffin – ein Traum von Hochglanzmagazinen.

Die Fotos sind uns wie die Erzählungen Schumanns, wie die Überlegungen Bovenschens zur Lektüre vorgelegt. Überdies finden wir – leider in Schwarz-Weiß gehaltene – Abbildungen von Werken Schumanns. In einem Anhang I Über die Malerin Sarah Schumann finden sich Texte, die Bovenschen zu unterschiedlichen Anlässen über das Œuvre der Freundin verfasst hat, in einem Anhang II Über die Verfasserin eine ‚Selbstauskunft‘ der Schreibenden, verfasst im Rahmen der Aufnahme in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Auch hier rekurriert die Autorin auf kleine autobiographische Vignetten, Erinnerungs­schnipsel, die überschriebenen sind (die Germanistin verleugnet sich nicht) von Versen aus Wenn der arme Weber träumt, er webe. In Brentanos Gedicht träumen lauter Mängelwesen (der lahme Weber, die kranke Lerche, die stumme Nachtigall…) von einer erfüllten Existenz und vom Glück. Der Leser muss vom Glück nicht träumen, macht doch die Lektüre von Sarahs Gesetz schon glücklich.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Silvia Bovenschen: Sarahs Gesetz.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015.
251 Seiten, 18,99 EUR.
ISBN-13: 9783100024725

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch