Im Auge des Taifuns

Interdisziplinäre Einblicke in Herwarth Waldens gattungsübergreifendes „Sturm“-Imperium

Von Katharina RudolphRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katharina Rudolph

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor rund fünf Jahren war auf der Darmstädter Mathildenhöhe eine Ausstellung zu sehen,  die dem Besucher ein spektakuläres synästhetisches Vergnügen bereitete. Eine im Zickzack verlaufende schwarze Rampe führte hinauf ins Cabinet des Dr. Caligari, wo einen die weitaufgerissenen, schwarz untermalten Augen des Somnambulen Cesare anstarrten, eine Puppe, verhüllt in eine schrill-bunte Ganzkörpermaske der Künstlerin Lavinia Schulz mit ausladenden Draht-Tentakeln streckte die Arme mit geballten Fäusten gen Himmel, in einer Nische räkelte sich auf der Leinwand die Tänzerin Anita Berber, an den Wänden hingen Hans Poelzigs Skizzen für Bauentwürfe zum Film „Der Golem“ und über einem Porträt des Dichters Jakob van Hoddis prangten dessen berühmte Zeilen: „Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut, / In allen Lüften hallt es wie Geschrei, / Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei / Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.“

Thema der Darmstädter Schau war, natürlich, der Expressionismus. Und zwar als Gesamtkunstwerk. Es ging also darum, wie sich Künstler verschiedener Gattungen zwischen etwa 1905 und 1925 in einem nie dagewesenen Ausmaß immer wieder vernetzten und gegenseitig beeinflussten, sich austauschten, wie sie miteinander kooperierten, wie ihre Werke ineinander verschmolzen. Manch ein Maler war zugleich Schriftsteller oder Bühnen- und Kostümbildner, Komponisten dichteten und Dichter komponierten. Besonders in Cabarets, auf Theaterbühnen und später im Film vereinten sich Literatur, Musik, Tanz, darstellende und bildende Kunst.

Ein kürzlich erschienener Tagungsband knüpft nun zwar nicht expressis verbis, aber doch inhaltlich an die Ausstellung auf der Mathildenhöhe an. Unter dem Titel „Der Sturm. Literatur, Musik, Graphik und die Vernetzung in der Zeit des Expressionismus“ widmen sich die Autoren mit einem interdisziplinären Blick einer der wichtigsten Zeitschriften der damaligen Zeit, dem „Sturm“. „Pionierprojekt einer Einheit der Künste im Papierformat“, sei das Blatt gewesen, so einmal der Kurator und Kunsthistoriker Ralf Beil. Denn der „Sturm“ publizierte Lyrik, Dramen, Prosa, Holzschnitte, Zeichnungen, Bühnenentwürfe und sogar Tanzstudien. Gegründet worden war die Zeitschrift „für Kultur und die Künste“ im Jahr 1910 von Herwarth Walden, der selbst eine der vielen Doppelbegabungen der Zeit war, er komponierte, war Pianist und Autor in einer Person. Doch die Einheit der Künste im „Sturm“ reichte im Laufe der Jahre weit über das Papierformat hinaus. Der „Sturm“ wurde zur Marke, zum Forum und Zentrum der Moderne in ganz vielen Bereichen. Es gab eine Galerie, die nationale und internationale Ausstellungen organisierte, einen Literaturverlag, Künstlerpostkarten und Grafikmappen, Bühnenabende, einen Theaterverlag sowie eine eigene Kunstschule. Mit seinem umtriebigen Talent, einem feinen Gespür und der Hilfe seiner beiden Ehefrauen – Else Lasker-Schüler und später Nell Roslund – spann Walden ein gigantisches Netzwerk und scharte nahezu sämtliche Vertreter der Avantgarde um sich.

Neben dem ein oder anderen etwas dröge geratenen Beitrag bietet der Sturm-Sammelband nun vor allem viele abseitige, aber eben gerade deshalb anregende Einblicke in Waldens gattungsübergreifendes Kunst-Imperium. Da geht es etwa um den Einfluss einer Schaufenster-Ästhetik auf den Expressionismus und um August Mackes Schaufenster-Bilder, um Alfred Döblins Musik-Theorie, die er in seinem im „Sturm“ veröffentlichten Werk „Gespräche mit Kalypso“ vermittelte, um den Einfluss des durch den „Sturm“ in Deutschland bekannt gewordenen Futurismus auf Dada und die Werke Lyonel Feiningers, um Waldens ausgeprägtes Interesse fürs Theater oder um seine problematische Rolle als Kunstverkäufer und Kunstkritiker in Personalunion. Dafür von vielen Feuilletonisten kritisiert, ging er zum Angriff über, wie die Kunsthistorikerin Friederike Kitschen nachweist, unter anderem, indem er zu einem scharfen Kritiker der Kritiker wurde. So bewarb er beispielsweise den von ihm im Jahr 1913 organisierten Ersten Deutschen Herbstsalon, eine der wichtigsten Schauen der modernen Kunst in Deutschland, mit einem cleveren Marketing-Coup: Er veröffentlichte im „Sturm“ einen polemischen Beitrag und eine angefügte Presseschau über die zumeist negativen Kritiken zur Ausstellung. Schlechte Presse war für Walden und seine Entourage nicht nur besser als gar keine, sie war besser als gute Presse, denn es gehörte zum Selbstverständnis der Avantgarde, abseits der bürgerlichen Normen zu stehen. So konnte man geradezu stolz darauf sein, wenn in den Zeitungen und Zeitschriften von „Hottentotten im Oberhemd“, von einer „Horde farbenspritzender Brüllaffen“, von „blöden Schmierereien“ oder von „tollwütigen Pinseleien“ berichtet wurde.

Auch zu einem besonderen Desiderat, zur Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs, bietet der Tagungsband einen Beitrag. In keinem Zeitabschnitt der Geschichte sind in Deutschland so viele Gedichte geschrieben und verbreitet worden wie zwischen 1914 und 1918. Sie erschienen auf Postkarten, Flugblättern, in Anthologien. Aber auch und besonders in Zeitungen und Zeitschriften, was in der Forschung bisher nur wenig berücksichtigt wurde. Der Literaturwissenschaftler Sören Steding verglich nun zum ersten Mal in einer empirischen Untersuchung die Kriegslyrik in den Zeitschriften „Sturm“, „Aktion“ und den „Weißen Blättern“ zwischen 1914 und 1918. Das Ergebnis: Kriegsgedichte wurden in allen drei Zeitschriften, obwohl jeweils andere Autoren veröffentlichten, in einem ähnlichen Rhythmus herausgebracht. Die Anzahl der Gedichte pro Ausgabe stieg bis etwa Mitte 1915 an, fiel bis 1916 wieder ab und stieg dann 1917 erneut an, bis sie gegen Ende des Kriegs ganz zurückging. Die verschiedenen Autoren reagierten, so Stedings Schlussfolgerung, offenbar ähnlich auf die politischen Ereignisse: Erregtes Schreiben zu Beginn, zwischenzeitliches Leiserwerden oder gar Verstummen durch die Ernüchterung des zermürbenden Stellungskriegs, dann Aufbäumen gegen Leid und Tod – denn ab 1917 wurden immer mehr Anti-Kriegsgedichte veröffentlicht – und zuletzt der Wechsel zu anderen Medien des Ausdrucks.

Mitten ins Zentrum des Sturms oder, treffender gesagt, ins Auge des Taifuns führt der Aufsatz der Kunsthistorikerin Johanna Kaus. Sie schreibt über den im Jahr 1919 im renommierten Kurt Wolff-Verlag erschienene Satire-Roman „Taifun“ des heute weitgehend vergessenen Autors Hermann Essig. Dabei widmet auch sie sich einem in der Wissenschaft bisher nur wenig beachteten Thema: dem Nutzen von Literatur als historische Quelle. Kaum verschleiert nämlich treten in Essigs Roman, der als eine bittere „Sturm“-Parodie gelesen werden muss, Herwarth und seine zweite Ehefrau Nell Walden als Oskar und Hermione Ganswind sowie weitere Figuren des Sturm-Kreises auf. Zwar müsse man Essigs Schilderungen mehr als Interpretation denn als Tatsachenbericht lesen und sie einer präzisen Quellenkritik unterziehen, da Essig schlechte Erfahrungen mit Walden gemacht hatte und sein Buch eine Abrechnung mit dem Sturm-Kreis sei. Dennoch könne der „Taifun“ gerade für das Sozialgefüge innerhalb der Gruppe und die Beziehung der Mitglieder zur übrigen Gesellschaft, wofür Essig offenbar ein gutes Gespür hatte, als Quelle dienen.

Auch Waldens Anspruch, alle Sparten der Kunst zu vertreten, wird bei Essig übrigens, freilich ironisiert, deutlich. Wer sich durch Johanna Kaus Beitrag angeregt fühlt, einmal selbst im „Taifun“ zu lesen – und das sei unbedingt empfohlen –, der wird dort an jener Stelle, an der Oskar Ganswind vom gescheiterten Schauspieler Dr. Alfred Bäumler um die Vermittlung einer Ehefrau gebeten wird, die bezeichnende Aussage des „Taifun“-Gründers finden: „Sie machen mich auf einen Zweig der Kunst aufmerksam, dem ich bisher noch keine Beachtung geschenkt hatte. Es ist die Kunst der Heiratsvermittlung. Diesen Zweig werde ich sofort in Angriff nehmen“.Herwarth Walden nahm sie in Angriff, die unterschiedlichen Zweige der Kunst, die Musik, die Malerei, die Grafik, die Literatur, das Theater. Er tat es zuweilen mit Hochmut, aber vor allem mit unbändiger Leidenschaft. Der vorliegende Sammelband macht das, einmal mehr, deutlich.

Titelbild

Henriette Herwig / Andrea von Hülsen-Esch (Hg.): Der Sturm. Literatur, Musik, Graphik und die Vernetzung in der Zeit des Expressionismus.
De Gruyter, Berlin 2015.
458 Seiten, 79,95 EUR.
ISBN-13: 9783110413182

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch