Auf der Suche nach dem Lächeln Gottes

Akram Aylislis Roman „Steinträume“ – ein umstrittenes Bekenntnis zum Frieden

Von Elnura JivazadaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Elnura Jivazada

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wird ein Roman zum Literaturskandal, dann scheint er mit seiner Rezeption untrennbar verbunden. So auch im Fall des Romans Steinträume des renommierten aserbaidschanischen Schriftstellers Akram Aylisli. Dieser fand erst internationale Beachtung, als dem Autor die staatlichen Auszeichnungen aberkannt und er aus dem Verband der Schriftsteller ausgeschlossen worden war. In den Augen seines Volkes wurde der 76-jährige Aylisli zum „Verräter“, nachdem der Roman 2013 in Moskau erschien. Darin stellte er die in Aserbaidschan gängigen Feindbilder und die geltenden Stereotypen über Armenier infrage und bezeichnete seine Landsleute nicht nur als Opfer, sondern auch als Täter.

Wie es in solchen Fällen üblich ist, hatten die meisten Beteiligten den Roman gar nicht oder nur in Auszügen gelesen. Auch drei Jahre nach dem Skandal gibt es keine aserbaidschanische Ausgabe des Buches. Dabei gibt es Stimmen, die Aylisli bescheinigen, seiner Zeit Jahrzehnte voraus zu sein. Die Fähigkeit, Wut und Verbitterung über eigene Verluste zurückzunehmen und Reue für eigene Untaten zu zeigen, mag gerade für den deutschen Leser banal klingen; im Nationalismen verhafteten Kaukasus jedoch glich diese Einsicht einer Rebellion.

Als sich Ende der 1980er Jahre in Berg-Karabach ein armenisch-aserbaidschanischer Konflikt anbahnt, sind auch in Baku, einst als kosmopolitische Stadt des sowjetischen Südens gerühmt, die alten Ressentiments entfesselt. Die Hauptfigur des Romans, Sadai Sadigli, prominenter Schauspieler des Nationaltheaters in Baku, wird krankenhausreif geprügelt, als er einen alten Armenier vor dem Mob zu retten versucht. Durch Beschreibung der Träume des in Lebensgefahr schwebenden Schauspielers erfährt der Leser von Sadiglis Heimatdorf Aylis in Nachitchevan, dessen armenischen Gründer er bewundert.

Mit Ehrfurcht bestaunt der Schauspieler die armenischen Kirchen von Aylis. Dabei wird er von seinem Schwiegervater, einem bekannten Medizinprofessor und ebenfalls Aylis-Patriot, begleitet. Der Aylis-Patriotismus der beiden ist nicht dem Provinziellen verhaftet, sondern dem multikulturellen Erbe dieses kleinen einstigen Paradieses. „Junger Mann, hast Du irgendwo sonst erlebt, dass Moslems ihren Söhnen den Namen Sekerie gegeben haben?“, fragt der alte Professor begeistert. So verehrt war der armenische Kaufmann und Chronist bei seinen muslimischen Landsleuten. Steinträume führt vor Augen, dass die Geschichte der Armenier und Aserbaidschaner nicht immer aus Konfrontation bestand. Hier wäscht die Armenierin Aikanusch den lausigen Kopf eines Waisenkindes einer im Zweiten Weltkrieg zerstörten aserbaidschanischen Familie, die Aserbaidschanerin Sohra pflegt sorgfältig Aikanushs Zitronenbäume und schickt ihr von der Ernte nach Jerewan, wo sie im Alter nun bei ihrem Sohn wohnt.

Ursprünglich waren es zwölf Kirchen, die, jeweils an einen der kahlen Berghänge angelehnt, ihre Farbe harmonisch wiederholen. „Das Lächeln Gottes“ nennt der Schauspieler das rosa-gelbliche Licht, das, von der Kuppel der schönsten Kirche in Aylis reflektiert, das Dorf erhellt. Die Suche nach dem Geheimnis dieses göttlichen Lichtes durchzieht wie ein roter Faden die gesamte Erzählung. Nach dem Vormarsch der osmanischen Truppen 1919 und dem Massaker an Armeniern sind diese Kirchen verlassen, doch ihre Steine zeugen von der Geschichte des Dorfes. Der feinfühlige Schauspieler möchte mit kindlicher Unschuld die Untaten seines Volkes beichten. Er überlegt seit Langem, nach Etschmiadsin, der Hochburg der armenischen Kirche, zu pilgern und sich bekehren zu lassen. Diesen Wunsch erklärt der Professor mit seiner aufrichtigen Liebe zu seinem Volk, einer Liebe, zu der nur Madschnun fähig war, und die keine Grenzen kennt: Madschnun, blind vor Liebe zu seiner Leila, stürzte sich aus Mitleid mit ihrem Vater im entscheidenden Moment in die Schlacht, auf Seiten des feindlichen Heers. Zur Bekehrung kommt es aber nicht. Der Schauspieler stirbt an seinen Verletzungen am Vortag des Pogroms an den Armeniern in Baku, dem ca. 100 Menschen zum Opfer fielen. Das Licht, das ihm am Sterbebett zum letzten Mal leuchtet, hinterlässt dennoch den Eindruck, eine Metapher für die Hoffnung auf Frieden zu sein.

Mit diesem Requiem, wie Aylisli seinen Roman nennt, beweint und trauert er um die, die vorzeitig aus dem Leben geschieden sind. Die Trauer gilt hier vor allem den armenischen Opfern, was die breite Öffentlichkeit in Aserbaidschan nicht akzeptieren mag. Die häufigste Frage lautet nämlich, warum er nicht um Aserbaidschaner trauert, die ihr Leben, Land, Hab und Gut verloren? „Es geht nicht darum, wie die Armenier heute sind, sondern wie wir heute sind“. Sollte ein Schlüsselsatz der Steinträume für die gereizten aserbaidschanischen Leser ausgewählt werden, dann wäre es dieser. Die Verarbeitung der Leiden, die den Aserbaidschanern von Armeniern zugefügt wurden, überließ Aylisli seinen armenischen Kollegen.

Doch mit Beifall von der „falschen Seite“ ‒ war doch Steinträume monatelang Bestseller in Armenien ‒ wurde statt einer kritischen Rückschau in der aserbaidschanischen Gesellschaft eine Hetzjagd auf den Autor forciert. Aylisli ist nicht der erste aserbaidschanische Schriftsteller, der die Schuldfrage an den Pogromen an Armenier literarisch aufarbeitet, dafür aber der prominenteste. Als sein jüngerer Kollege Ali Akbar in seinem Roman Artush und Zaur die Verfolgung der Armenier in Baku 1990 in die provokative Geschichte eines armenisch-aserbaidschanischen homosexuellen Paars einflocht, wurde er mit dem Vorwurf konfrontiert, durch diesen doppelten Tabubruch um Aufmerksamkeit der homophoben Gesellschaften beider Länder zu heischen. An Aylisli, dem ehemals mit allen Regalien ausgezeichneten Volkskünstler, prallen solche Vorwürfe ab.

Der Skandal hat die Rezeption des Romans so verstellt, dass der Hetzjagd im Heimatland eine Heroisierung im Ausland folgte. Jedoch sollte das nicht von einer nüchternen Betrachtung abhalten. Die Schuld für die Gewalttaten in Baku tragen hier fast ausschließlich die Yeraz, die aus Yerevan und anderen Teilen Armeniens vertriebenen Aserbaidschaner. Die anderen Landsleute, die nationalistische Hetze betreiben, werden zwar im Roman auch nicht verschont. Doch Gewalttaten überlässt Aylisli den Yeraz, eine beliebte Erklärung der alteingesessenen Bakuer, die gerne behaupten, bei den Pogromen nicht beteiligt gewesen zu sein.

Archaisch wirkt die Erklärung der Fälle der geistigen Behinderung in mehreren Familien in Aylis. Ausgerechnet der Professor für Psychiatrie erklärt diese Krankheit mit der Schuld der Vorfahren, die beim Aufmarsch der osmanischen Armee 1919 beim Massaker an Armeniern geholfen und sich deren Häusern bemächtigt hatten. Stigmatisierung der Behinderung als Strafe für die Untaten der Vorfahren wird hier reproduziert.

Die Übersetzerin des Buches hat es gemeistert, Aylisli, einen der größten Stilisten seiner Muttersprache, auf Deutsch so wiederzugeben, dass die starke Bildsprache des Autors beibehalten blieb. Obwohl das Buch auf Aserbaidschanisch bisher nicht erschienen ist und die russische Ausgabe des Romans der deutschen Fassung zugrunde lag, sind die Spuren dieser doppelten Übersetzung nur selten zu merken. Störend wirkt eher die Wiedergabe der Eigennamen auf Russisch, was einen postkolonialen Beigeschmack hat. Eine bessere Lösung hierfür hat man bei der Übersetzung von Alexandr Ilitschewskis Der Perser gefunden, der ebenfalls Baku als Kulisse hat und bei dessen Übertragung auf die korrekte Wiedergabe der Namen strikt geachtet wurde.

Das Nachwort von Ernst von Waldenfels zum Roman ordnet das Werk in den Kontext der Region und Zeit und macht seine Brisanz für den deutschen Leser erst deutlich. Akribisch rekonstruiert Waldenfels die sich immer weiter steigernde Obsession und Feindseligkeit, gegen die Aylisli ein Zeichen setzte, als er sich dazu entschloss, das Schweigen zu brechen. Diese Entscheidung fiel dem Autor nicht leicht, wie Aylisli in seinem eigenen Nachwort schildert. Mit der Ausgrenzung, Anfeindung, Jobverlust und der Sippenhaft seiner Familienmitglieder hatte er gerechnet, wie er im Nachwort der deutschen Ausgabe bekannt gibt.  Buchverbrennung und Mobs vor seiner Haustür findet er jedoch einen zu hohen Preis, den er für die Liebe zur Wahrheit und zu seiner kleinen Heimat Aylis zahlen muss. Die Reaktionen seien mit denen auf Doktor Schiwago von Pasternak vergleichbar.

Doch nicht nur die Wächter der nationalen Ehre reagierten auf Steinträume. Etwa 200 Vertreter der Öffentlichkeit, vor allem freie Journalisten und Schriftsteller, sprachen Aylisli in einer Erklärung ihre Unterstützung aus. Sie sahen den Skandal als künstlich aufgeblasenes Spektakel und vor allem als Gefahr für die Meinungsfreiheit in Aserbaidschan. Die Hetzjagd gegen einen Schriftsteller würde die Grundlagen der Republik erschüttern, die ohne Garantie des freien Denkens nicht möglich sei.

Wie verhärtet die Feindbilder derzeit auch sein mögen; nicht alle Brücken sind zerschlagen. Als die aserbaidschanische Regierung 2015 bekannt gab, die armenische Kirche im Nachbarland Georgien kostenlos mit Gas zu versorgen, begründete es der Vertreter des staatlichen Energiekonzerns damit, dass die Feindschaft nicht dem ganzen Volk gelten kann, sondern nur einzelnen Kriegsverbrechern. Ob das ein Ergebnis der reinigenden, korrigierenden Wirkung des Literaturskandals ist, sei dahingestellt. Dennoch: Sollten die beiden Völker wieder zueinander finden, dann wird es auch Aylislis Leistung sein.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Akram Aylisli: Steinträume.
Aus dem Russischen übersetzt von Annelore Nitschke.
Osburg Verlag, Berlin 2015.
238 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783955100742

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