Technik – Lebenswelt der Moderne

Hans Blumenbergs „Schriften zur Technik“ zusammengestellt und neu herausgegeben

Von Wolfgang KrohnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wolfgang Krohn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Buch versammelt bisher unterschiedlich gut zugängliche, aus verschiedenen Schaffensperioden stammende Texte Hans Blumenbergs, die sich einander ergänzend zu einer kohärenten Philosophie der Technik fügen. Zwar liegt nach Textumfang und intellektuellem Aufwand der Schwerpunkt des Bandes in der Frage, wie die typisch moderne Form wissenschaftsbasierter Technik und technikorientierter Wissenschaft hat entstehen können, aber die Beiträge befassen sich auch mit zeitdiagnostischen Spannungen zwischen Technik und Lebenswelt sowie der Positionierung von Technik in der neuzeitlichen Philosophie.

Der Band wird eröffnet mit dem Essay Atommoral – Ein Gegenstück zur Atomstrategie, verfasst 1946 ein Jahr nach dem Abwurf der Bombe über Hiroshima. Es war vor dieser Textsammlung nicht allgemein bekannt, dass das bestimmende Thema der Philosophie Blumenbergs hier seinen Ausgangspunkt nahm: die Deutung der Natur als eines unerschöpflichen Potentials für einen sich selbst als ‚frei‘ denkenden menschlichen Schöpfer technischer Konstruktionen. Die Freisetzung der Kräfte des Atomkerns signalisierte die „Unerschöpflichkeit“ der Natur und die „Absolutheit“ der technischen Autonomie. Blumenberg zieht mehrfach die geläufige Metapher der „Dämonie“ der Technik heran, formuliert jedoch die Aufgabe, diese auf eine Interpretation nicht der Technik, sondern des Menschen zurückzuführen. Aber wie?

In dem zweiten Aufsatz (1951) artikuliert Blumenberg die theoretische Differenz zwischen einem allgemein anthropologisch fundierten Grundverhältnis von Natur und Technik und einer spezifisch historischen Interpretation. In anthropologischer Sicht wäre die selbstzerstörerische Gegenwart das Ergebnis einer kontinuierlichen Entfaltung des technischen Tieres ‚Mensch‘; in geschichtlicher Betrachtung könnte das moderne Verhältnis von Natur und Technik einer spezifischen, diskontinuierlichen Konzeption entspringen, die zu Beginn der Neuzeit gleichsam erfunden wurde. Hinter Blumenbergs Option für die zweite Lesart stand dabei auch der moralische Impuls, dass es nur bei einer historisch entstandenen Konstellation eine Chance der Reformulierung gibt, die in ein weniger fragwürdiges technisches Naturverhältnis führen könnte. Blumenberg hat sich trotz mancher konservativer Untertöne niemals dem Kulturpessimismus hingegeben, zu dem viele Philosophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts angesichts der deterministischen Gewalt der industriellen und bürokratischen Technisierung der Gesellschaft neigten. In dem letzten Aufsatz der Sammlung zu Motivationen des technischen Fortschritts beharrt er darauf, dass weder durch romantische noch durch revolutionäre Ausstiegsszenarien, sondern allein innerhalb des wirkmächtigen Paradigmas der technologischen Modernisierung Korrekturmöglichkeiten von Fehlentwicklungen gefunden werden können. Als Beispiele dienen ihm neben der erfolgreichen Verhütung eines atomaren Weltkriegs die Automatisierungsdebatte in den 1960er Jahren und die Ansätze zur Bewältigung der Umweltprobleme.

In den zentralen theoretischen Texten geht es um die Frage, wie die beginnende Neuzeit aus der Kontinuität der abendländischen Geistesgeschichte ausgebrochen ist und sich auf einen Weg der technologischen Modernisierung begeben hat, für den es kein gedankliches Modell gab. Blumenberg geht ihr mit einer außerordentlichen Gelehrsamkeit nach, die die antiken Wurzeln, die mittelalterlichen Konflikte, die tastenden Versuche der Renaissance und die Antworten der Frühen Neuzeit umfasst. Leser seines Hauptwerks über die Legitimität der Neuzeit kennen diese Zusammenhänge; aber erst die hier vorgelegte Zusammenstellung macht die Leitfunktion greifbar, die darin die Reflexion auf Technik einnimmt. Diese soll in gebotener Kürze benannt werden: Blumenberg behauptet, dass Technik als Bereich der „Authentizität der menschlichen Werksetzung“ in der Frühen Neuzeit zu einem „einzigartigen metaphysischen Rang“ aufgestiegen ist.

Greifbar ist dies nach Blumenberg nicht in spektakulären technologischen Durchbrüchen, sondern in einem feinsinnigen Dialog, den Nikolaus von Kues um 1450 einen Scholastiker, einen Rhetoriker und eine Figur, die er idiota (den Ungebildeten) nennt, miteinander führen lässt. Es geht dabei um die Seinsqualität eines Esslöffels: Der Cusaner verteidigt mit der Stimme des idiota den Wert des Löffels gegenüber den scheinbar höherwertigen Dingen der Natur, die nach ewigen Ideen bestehen. Zwar sei der Löffel nur kontingent in die Wirklichkeit getreten, jedoch drücke sich in seinem Angefertigtsein der unabhängige und selbständige Schöpfungswille des Menschen aus. Diese Neubewertung ist so bedeutsam, weil der Löffel weder einem Vorbild der Natur folgt (wie etwa die Kleidung, die das Fell der Tiere imitiert), noch an der Vollendung eines in der Natur angelegten Ideals mitwirkt (wie es etwa im Konzept des mimetischen Kunstwerks mitgedacht wird). Der Löffel gewinnt seine Dignität allein aus der Erfindungswillkür des Menschen. Dieser Gedankengang hat für Blumenberg paradigmatische Bedeutung, weil darin die klassische Identität von „Natur und Sein“ aufbricht. Wenn das Sein des technischen Dings in einer eigenen, nicht-naturalen Ontologie fundiert ist, dann ist das technische Sein weiter als die göttlich geschaffene Natur. Es ist fundiert in dem Möglichkeitsraum, den der Mensch als kreatives Wesen aufspannt. Durch diese Interpretation – nicht durch seine unscheinbare und uralte Existenz – gewinnt der Löffel eine kulturhistorische Mächtigkeit, mit der sich die Freisetzung des technischen Schöpfertums gegenüber der phänomenal erlebten und ideell begriffenen Natur erfassen lässt.

Es liegt für Blumenberg in der Konsequenz dieses Ansatzes, dass alle bestehenden Begrenzungen für überwindbar erklärt werden, bis hin zur technischen Nutzung der atomaren Kräfte. Alles, was von Natur aus ist, stellt nur noch ein Beispiel dar für das, was von Natur aus möglich ist. Früher Höhepunkt dieser Entkoppelung von Sein und Natur (verbunden im Kosmos) zur Verkoppelung des Seins mit der Kontingenz (gedacht im Universum) ist die Philosophie von René Descartes. In seinen Principia philosophiae wird die Weltentstehung zu einer möglichen Lösung eines formalen Modells, in seinem Traité de l‘homme der bestehende Mensch zu einer möglichen Lösung einer hypothetischen Konstruktion. Später wird das wichtigste neue Instrument der wissenschaftlichen Wirklichkeitsbeschreibung – das Naturgesetz – konsequent zum Entwurf kausaler Möglichkeiten, für die die beobachtbaren Phänomene nur noch angenäherte Fälle sind. Das ist der historische Ursprung der Spannung zwischen Technik und Lebenswelt, deren Analyse seit Husserls Krisis der europäischen Wissenschaften von 1936 wichtiger Bestandteil der phänomenologischen Philosophie ist, der sich Blumenberg zurechnet. Die enge Verkoppelung von Wissenschaft und Technik in der Moderne ist letztendlich darin angelegt, dass neue (wissenschaftsbasierte) Technologien den naturgesetzlich abgesteckten Möglichkeitsraum mit immer weiteren Beispielen füllen, ohne ihn je auszuschöpfen. Die Analogie zwischen dem christlichen Schöpfergott und dem sich in der Kreativität, mithin in seiner Technik verwirklichenden Menschen legt dann auch die weitere Interpretation nahe, dass es über kurz oder lang nicht mehr darum geht, die Werke Gottes um solche der Menschen zu erweitern, sondern die menschlichen Erfindungen in einem eigenen kohärenten Schöpfungswerk zu vernetzen. Die Industrialisierung ist der Eintritt in diese Entwicklung; in ihrem Verlauf wird die durch das Erleben naturaler Phänomene bestimmte Wirklichkeit (Lebenswelt) radikal substituiert durch Technologien, die Arbeit, Organisation, Kommunikation und Konsum gleichermaßen durchdringen. Technologien sind längst keine Instrumente mehr, die nach einem Schema der Nützlichkeit gedeutet werden könnten, sondern Medien, die nach einem Schema des Entwurfs von Möglichkeiten gedeutet werden müssen. Auch diese Spannung zwischen Lebenswelt und Technisierung wird in dem Band berücksichtigt.

Blumenberg weiß natürlich, dass die spätmittelalterliche Argumentation um den Löffel des Idioten nicht in kausaler Weise mit der neuzeitlichen Entwicklung verknüpft werden kann. Sie ist vielmehr ein Zeichen – neben vielen ähnlichen in anderen spätmittelalterlichen Texten beobachteten – für den Wandel des menschlichen Selbstverständnisses. In diesem Wandel wird der „Spielraum“ (ein Lieblingswort Blumenbergs) freigesetzt, den die Neuzeit philosophisch, theologisch und moralisch benötigte, um mit dem Fortschritt loszulegen. Insofern ist der Löffel eine zierliche, ironische Metapher, die Blumenberg den seit der Renaissance ikonischen Insignien der Moderne – Kanone, Kompass, Buchdruck, die für Macht, Geld und Wissen stehen – entgegen hält.

Ist Blumenbergs Modell überzeugend? Es hat den Rezensenten erstaunt, wie wenig Blumenberg sich mit konkurrierenden Interpretationen auseinandersetzt. Insbesondere scheinen ihm gesellschaftshistorische Ansätze eher unwürdige Gesprächspartner auf nicht unbedingt gleicher geistiger Augenhöhe zu sein. Leonardo Olschki, der bereits in den 1920er Jahren die nicht-lateinische Literatur zu Wissenschaft und Technologie der Frühen Neuzeit untersucht hatte, wird nur erwähnt, weil man dort etwas „über die erregte Empfänglichkeit für die neuen Lehren“ erfahren kann. Edgar Zilsel, der in den 1940er Jahren genaue Fallstudien zu den neuen Erkenntnisidealen forschender Praktiker (Ingenieure, Architekten, Chirurgen, Nautiker u.a.m.) angefertigt hat, wird nicht erwähnt. Boris Hessens einflussreiche Studie The Socio-Economic Roots of Newton’s Principia, 1931 in London vorgetragen, und die daran anschließenden wissenschaftshistorischen Arbeiten von Robert Merton und Henryk Grossmann kommen nicht vor. Es ist immer wohlfeil, einen Autor an dem zu messen, was zu bearbeiten nicht seine Absicht war. So sei festgehalten: Für die Rekonstruktion des hohen geistesgeschichtlichen Diskurses über Sein, Natur und Kontingenz und dessen Beitrag für die Freisetzung der Idee eines ungebundenen technischen Schöpfertums sind die Arbeiten Blumenbergs von hohem Wert. Literatur zum Beitrag der forschenden Praktiker zu einer Weltsicht, in der sich die Einheit von Technik und Natur durch Experiment, Kausalanalyse und quantitative Modellierung erschließt, wäre indes eine nicht minder wertvolle Ergänzung. 

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Bernd Stiegler / Alexander Schmitz (Hg.) / Hans Blumenberg: Schriften zur Technik.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015.
301 Seiten, 17,00 EUR.
ISBN-13: 9783518297414

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