Das neue Uhrwerk und fruchtloses Austicken

Thomas Raabs Roman „Die Netzwerk-Orange“

Von Darius WatollaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Darius Watolla

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Roman Die Netzwerk-Orange des österreichischen Schriftstellers Thomas Raab wird im Klappentext mit den Worten „Utopie oder Dystopie? Oder schon Realität?“ beschrieben. Diese Trias gibt den Rahmen vor, in dem der Inhalt des Romans angesiedelt ist. Eine der ersten Fragen, welche die Lektüre durchgehend begleiten, ist die Überlegung, inwiefern diese Genre-Zuschreibungen sich in diesem Text gegenseitig ausschließen.

Die Handlung des Romans, die in einer fiktiven Staatenunion des Jahres 2025 angesiedelt ist, ist relativ schnell erzählt: Ein Cyberpeut – ein Computertherapeut, der auf einem komplexen Programm mit Internetzugang basiert – soll seine Anwender prophylaktisch glücklicher machen, ihre persönliche Entwicklung fördern und währenddessen weiter über Menschen lernen. Die therapeutische Arbeit erfolgt durch das Versenden von kurzen Parabeln oder Fabeln an die daran interessierten Nutzer. Figuren des Romans, die um den Schöpfer des Cyberpeuten, einen Psychologieprofessor, angeordnet sind, erlauben unterschiedliche Einblicke, sowohl in die Funktionsweise der Gesellschaft wie auch in die Art, wie der Cyberpeut funktioniert und entsteht. Die Wege der Figuren, die sich im Laufe der Handlung immer wieder kreuzen, verdeutlichen, wie eng ihre Existenzen miteinander doch verwoben sind, trotz der scheinbaren Distanz. Die Auflösung der Handlungsstränge, in denen sich individuelle biographische Verwerfungen skizzieren, kündigt sich früh an und kann deswegen kaum überraschend wirken, sondern eher konstruiert und unwahrscheinlich – wenn etwa ein zur Adoption abgegebener Sohn seine leiblichen Eltern in den Personen seines Dozenten und einer Mitarbeiterin des für den Cyberpeuten zuständigen Ministeriums findet.

Die Handlung des Romans besteht dabei aus mehreren Ebenen: Neben der dargestellten Entwicklung einzelner Romanfiguren gibt es eine weitere Schicht, in der die Entstehung einer Revolte gegen die politische Führung der Union geschildert wird. Die Tatsache, dass diese Revolte verpufft, noch ehe Veränderungen herbeigeführt werden können, überrascht ebenfalls wenig, denn keiner der Akteure scheint auch nur ansatzweise zu wissen, was überhaupt gefordert werden sollte. Selbst eine sich ankündigende Rebellion des Cyberpeuten, der ein Bewusstsein seiner selbst zu entwickeln scheint, bleibt aus. Der Roman endet ohne den ‚großen Knall‘; alles scheint weiter seinen gewohnten Gang zu gehen, die einzelnen Figuren wirken versöhnt, mit der gesellschaftlichen Realität wie mit dem eigenen Leben. Die wichtige dritte Handlungsebene könnte dagegen fast übersehen werden: Während der Roman ansonsten ohne einen personalen Erzähler auskommt, werden die dramatischen Ereignisse während der Proteste an einigen Stellen ausnahmsweise von einem personalen Erzähler, der als Bewohner eines Seniorenheims die Geschehnisse im Fernsehen verfolgt, zum einen kommentiert, aber merkwürdigerweise darüber hinaus wie aus der Sicht eines Augenzeugen wiedergegeben. Diese Berichterstattung beschränkt sich nicht nur auf das, was im Fernsehen zu sehen ist, sondern wechselt plötzlich in eine auktoriale Erzählsituation, die durchgehende Erzählform des Romans, um ein Gespräch zu schildern, bei dem nur zwei Personen anwesend sind. Es wäre interessant gewesen, mehr von diesem nicht näher beschriebenem Erzähler zu erfahren. Zumal diese Figur, die teilweise auch in der Pluralform („wir“) spricht, als Teil der Romanwirklichkeit so nah an den Ereignissen zu sein scheint. Leider bricht diese Passage abrupt ab, was wirklich schade ist, da hier eine unerwartete Wendung möglich gewesen wäre.

In dem Roman gibt es neben dem reinen Erzähltext gleich mehrere weitere Textebenen, die zur Beschreibung der vorgestellten Gesellschaft beitragen oder auch Hinweise auf den Produktionsprozess des Textes selbst liefern. So beginnt der Roman mit der altgriechischen Inschrift, die der Überlieferung zufolge am Eingang des Orakels von Delphi angebracht gewesen sei: „Gnothi sauton!“, „Erkenne dich selbst!“ Während diese Losung in Verbindung mit den drei darauf folgenden Zitaten von Burrhus F. Skinner, Thomas C. Schelling und Junior Kimbrough, die alle dem Erzähltext vorangestellt sind, eher Impulse für die Interpretation bereitstellt, trägt das am Ende des Romans eingefügte Literaturverzeichnis zu einer eventuellen weitergehenden Auseinandersetzung mit den Inhalten des Romans bei. Das Verzeichnis ist mit den Worten „Dieses Buch beinhaltet kurze Passagen oder Paraphrasen aus […]“ eingeleitet und listet 14 Quellen auf – unter anderem Werke von Foucault und Spinoza, aber auch Liedtexte von Radiohead oder Snap. Die Tatsache, dass den einzelnen Quellen keine Seitenangaben beigefügt sind, die präzisieren würden, wo genau denn diese intertextuellen Elemente zu finden sind, stellt eine charakteristische Eigenschaft des Romans dar, der stellenweise wie ein Informationsdossier wirkt, das erst sortiert werden müsste. Die Rezeptionswege sind einerseits von dem Vorwissen des Lesers abhängig, das ein Wiedererkennen dieser intertextuellen Bezüge ermöglicht, und andererseits von der Bereitschaft, diese Allusionen weiterzuverfolgen. Der eigentliche Erzähltext wird als ein behördlicher Bericht zu Unruhen, die im Oktober des Jahres 2025 ausgebrochenen waren, vorgestellt. Diese Herausgeberfiktion ermöglicht es, auf eine kleinschrittige Vorstellung der Gesellschaft des Jahres 2025 zu verzichten, weil der Bericht sich an informierte Mitglieder des Ministeriums richten.

Diese Erzählweise wird allerdings gleich zweifach durchbrochen. Zum einen entspricht der Bericht nicht den textsortenspezifischen Erwartungen – statt der sachlichen Wiedergabe von Ereignissen beinhaltet er in erster Linie Dialoge, die auch den Großteil der Handlung tragen, und wirkt bestenfalls wie ein Protokoll. Zum anderen ist er durch drei andere Elemente unterbrochen: Mitten im Roman finden sich relativ kurze Passagen, die kursiv hervorgehoben sind und wie Lexikoneinträge wirken. In diesen kurzen Beiträgen entsteht schrittweise ein Abbild der Gesellschaft, ihrer Institutionen und der Mechanismen, die sie steuern. In diesen quasi lexikalischen Artikeln nimmt die Beschreibung der einzelnen gesellschaftlichen Schichten, die aufgrund ihrer Undurchdringlichkeit mehr wie Kasten wirken und im Roman „Segmente“ heißen, viel Raum ein. Die einzelnen „Segmente“ werden dabei nicht nur mit ihren jeweiligen Bezeichnungen vorgestellt, sondern in ihrer Lebensweise, Weltanschauung oder auch in ihrer Selbstwahrnehmung detailliert beschrieben. Derartige Einlassungen, die in ihrem lexikonartigen Stil an ethnographische Berichte erinnern, führen die Rezipienten stückweise in die Gesellschaftsordnung der Union ein. Es dürfte früh auffallen, dass der fiktive Verfasser dieser Artikel aus einer Position der Überlegenheit agiert, womit ein wichtiges Merkmal der gesellschaftlichen Realität in der Union erkennbar wird. Was dagegen eventuell erst nach und nach deutlich wird, ist die Tatsache, dass diesen Beschreibungen eine implizit geäußerte Überzeugung zu Grunde liegt, nach der Individualität so gut wie nicht vorhanden ist und alle Angehörigen der jeweiligen Gruppe ihre Überzeugungen, Vorlieben und den Habitus teilen. Dieser Homogenität innerhalb der einzelnen Segmente steht eine gesellschaftliche Pluralität gegenüber, die in ihrer großen Vielfalt die Staatsbürger unter allen möglichen Aspekten erfasst. Im Stil ähnlich, liefern ganzseitige Artikel allgemeinere Informationen zu Themen wie Stadtplanung, Wirtschaft oder Medien. Diese, durch ein Piktogramm gekennzeichneten Texte stehen in keinem unmittelbaren Zusammenhang zur Handlung und bilden ein eigenständiges Element des Romans.

Eine weitere Ebene des Textes stellen die Geschichten dar, die der Cyberpeut an seine Nutzer verschickt. Sie werden durch den jeweiligen Titel und eine abweichende Textformatierung gekennzeichnet. Diese Fabeln stehen ebenfalls in keinem expliziten Zusammenhang zur Handlung und bleiben vieldeutig, sowohl für die Romanfiguren, die sie erhalten, wie auch für den Rezipienten.

Zusammenfassend betrachtet bietet der Roman wie sein auf Anthony Burgess 1962 erschienenes, von Kubrick verfilmtes Werk anspielender Titel, an vielen Stellen ein Wiedersehen mit klassischen Gestaltungselementen und Topoi der utopischen und dystopischen Literatur. Dazu gehören etwa die Herausgeberfiktion, lexikalische Artikel oder Neologismen. Auf inhaltlicher Ebene gibt es eine Reihe von Topoi, die als prototypisch für utopische Werke bezeichnet werden können: Die Vorstellung einer supranationalen Union ist dabei nicht nur als Leitmotiv sehr eingängig, sondern stellt auch eine von lediglich zwei Optionen dar, die bereits Aldous Huxley im Vorwort zu Schöne neue Welt als alternative Zukunftsvision für die Menschheit bezeichnet hatte. Die Vorstellung, dass ein solcher Staatenbund scheinbar keine gesellschaftlichen Konflikte und Nöte mehr kennt, lässt sich in vielen utopischen Romanen nachweisen, wobei auch das Aufbrechen dieses Verdrängten zu den bekannten Topoi der Gattung dazugehört.

Die Tatsache, dass der Roman im Jahre 2025 angesiedelt ist, stellt nur auf den ersten Blick eine Besonderheit dar. Die Zukunft, die hier beschrieben wird, liegt nämlich nur zehn Jahre vom Erscheinungsjahr des Romans entfernt. Auf diesen Umstand spielt auch die im Klappentext aufgeworfene Frage an, ob das Geschilderte „schon Realität“ wäre. Bei näherer Betrachtung relativiert die in utopischer wie dystopischer Literatur häufige Fokussierung auf Kritik oder Ironisierung zeitgenössischer Gesellschaften diese zeitliche Nähe. Eine besondere Stellung nimmt dabei nicht eine besonders weit entwickelte Technologie ein, sondern das konsequente Weiterdenken bereits jetzt vorhandener gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Strömungen. Die Netzwerk-Orange weiß gerade dann zu überzeugen, wenn scheinbar groteske Phänomene wie eine zwingende Konsequenz aus der Wirklichkeit unserer jetzigen Gesellschaft erscheinen. Als exemplarisch dafür kann die unauffällige Erwähnung gelten, dass gesellschaftlich oder rechtlich gefährliche Publikationen um der Anonymität willen nicht im Internet, sondern in Print-Form erscheinen. Diese Umkehrung der Verhältnisse lenkt die Aufmerksamkeit auf die Kontroversen um den Umgang mit personenbezogenen Daten in der heutigen Gesellschaft und wirkt trotzdem zunächst abwegig. Im Text lassen sich zahlreiche Beispiele für die Technik des Weiterspinnens vorhandener Trends auffinden: So wird unter anderem die Tendenz zu Unternehmensfusionen in Form zusammengesetzter Marken-Namen persifliert, ein Kaffeeautomat der Marke DeLonghi-BMW taucht leitmotivisch immer wieder auf. Die fortwährende Benutzung fiktionaler Markennamen wirkt gleichwohl befremdlich, da schon recht früh deutlich wird, welche wirtschaftliche Entwicklung damit karikiert werden soll. Anstatt immer wieder diesen fiktiven Markennamen zu begegnen, wäre es interessanter gewesen, etwas über die Konsequenzen der Fusionen zu erfahren.

Daneben gibt es allerdings auch erstaunliche Anachronismen, etwa wenn scheinbar überall geraucht werden darf oder wenn ein männlicher Vorgesetzter seine Mitarbeiterin mit „Meine Liebe“ anspricht. Auf sprachstilistischer Ebene wirkt der Text ausgesprochen originell durch seine gezielt eingesetzten, jeweils drei Wörter umfassenden Ellipsen, die kommentierend oft mehr auszudrücken vermögen als die den Text dominierenden Dialoge – so zum Beispiel, wenn an die Beschreibung einer Hochzeitsgesellschaft ein von Verben befreiter Satz angefügt wird: „Die Eitelkeit, das Tun, die Chirurgie.“ Die Leerstellen, die durch diese Technik eröffnet werden, steigern durchaus das Lesevergnügen und entschädigen gewissermaßen für den inflationären Gebrauch der direkten Rede. Wenn auch auf der Handlungsebene schnell deutlich wird, wohin der Plot steuert, lohnt sich die Fortsetzung der Lektüre alleine wegen dieser sprachlichen Gestaltung und der vielen originellen Ideen, die in ihrer Schlichtheit eine unaufdringliche Kritik an der beschriebenen Gesellschaft üben. Exemplarisch kann hier eine im Roman beschriebene Technik namens „Smile-Shutter“ genannt werden. Diese in Smartphones verwendete Vorrichtung erlaubt nur, Fotos von lachenden Gesichtern aufzuzeichnen und verhindert dementsprechend, dass während einer Kunstausstellung eine der Figuren von einer Freundin fotografiert wird. Diese Episode wird, wie viele ähnliche, im Roman nicht weiter kommentiert oder vertieft. So bleibt es dem Rezipienten überlassen, eine persönliche Lesart zu verfolgen.

Die eingangs aufgeworfene Frage, ob dieser Roman als Utopie, Dystopie oder gar als realistischer Entwurf einzustufen ist, könnte man am ehesten durch den Vergleich der jeweiligen Anteile zu beantworten versuchen. Unabhängig von einer favorisierten Lesart können im Text alle drei Bezüge festgestellt werden. Was diesen Roman am stärksten von klassischen Dystopien unterscheidet, ist – neben dem ironischen, verlachenden Sprachgebrauch – seine Leichtigkeit, die auch durch die Abwesenheit drastischer Gewalt wie Folter oder auch durch das Fehlen totaler Hoffnungslosigkeit erreicht wird. Als dystopisch, im schlichten Sinne einer Anti-Utopie, können zwei inhaltliche Aspekte genannt werden: Zum einen wirkt die porträtierte Gesellschaft ausgesprochen unecht und trügerisch. Oberflächlich betrachtet gibt es in der Union zum Beispiel Bildung, Glaubensfreiheit oder Kunst, wobei beim genaueren Hinsehen deutlich wird, dass es sich nur noch um Fassaden dieser Konzepte handelt. Genauso wie die Natur im Roman durch künstliche „Analogiefichten“ oder „Forstattrappen“ ersetzt wurde, handelt es sich um den Anschein von Freiheit oder um eine nur scheinbare Bildung. Des Weiteren erscheint die Union in ihren Grundlagen erstaunlich instabil, da selbst eine äußerst ziellose und unvorbereitete Rebellion zu schweren Unruhen führt. Utopische Elemente dagegen lassen sich in der rationalen Art erblicken, mit der die einzelnen Figuren, mit scheinbarer Selbstverständlichkeit, stets das Wohl der Menschen anstreben. Diese Rationalität, die eine ideologische Verblendung zu verhindern scheint, trägt allerdings auch den Keim einer empathielosen Technokratie in sich. Eventuell wäre es angebrachter, den Roman als eine Parodie des utopischen Romans zu bezeichnen. Wenn aber die Realität als Referenzpunkt herhalten soll, kann das Geschehen im Roman nur eingeschränkt mit ihr in Verbindung gebracht werden. Auch wenn Ähnlichkeiten zwischen unserer Lebenswirklichkeit und der im Roman beschriebenen Welt auszumachen sind, kann man erleichtert feststellen: Es ist dann doch nicht unsere Realität. Zumindest noch nicht.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Thomas Raab: Die Netzwerk-Orange. Roman.
Luftschacht Verlag, Wien 2015.
328 Seiten, 24,20 EUR.
ISBN-13: 9783902844521

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