Der Gesellschaft seiner Zeit ein Gesicht geben

„Max Beckmann und Berlin“ setzt einen neuen Baustein in der Beckmann-Literatur

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Max Beckmann kehrte aus dem Ersten Weltkrieg mit einem traumatischen Schock zurück. Als Sanitäter in den Schützengräben von Flandern war er fast wahnsinnig geworden – wie Ernst Ludwig Kirchner und George Grosz erlitt er einen psychischen und physischen Zusammenbruch. Den dramatischen Abschluss einer langen Reihe von Gewaltdarstellungen, die er vor und während des Ersten Weltkrieges geschaffen hatte, bildet „Die Nacht“ (1918/19). In einer engen Dachkammer wird vor den Augen eines entsetzten Kindes ein Mann (der Vater?) stranguliert und eine Frau (die Mutter?) vergewaltigt. Wer sind die Täter? Einer von ihnen, die Pfeife im Mund, mit einem Kopfverband – ist er vielleicht auch Opfer? – renkt dem Strangulierten noch zusätzlich den Arm aus; ein Anderer mit Schiebermütze – sucht er das Kind zu entführen oder zu retten? Das Bild ist höchst vieldeutig und ohne das kompakte Gefühl für Raum und Volumen könnte es  kaum mit einer solchen Intensität zu uns sprechen. Beckmann berief sich auf die „Kunst des Raumes und der Tiefe“ – als die einzige, die die Last sozialer Bedeutungen tragen könnte. So ließ er die Gewalttätigkeit in seinen Bildern zu sich langsam bewegenden oder vollkommen statischen Formen gerinnen – wie hier die Balken, Tischplatten, Körper und Beine – oder er drückte sie durch steife, verlängerte Formen aus, die aus der Bildebene herausspringen, oder durch die übertriebenen Kreuz- und Querverbindungen zwischen Vorder- und Hintergrund, die seinen Szenen ein klaustrophobisch zusammengepresstes Aussehen geben. Aus der räumlichen Verdichtung gotischer Altarbilder entsteht so der Schauplatz moderner Kreuzigungen und Kalvarien.

Erstmals widmet sich die Berlinische Galerie mit „Max Beckmann in Berlin“ einem Thema, das bisher im Kanon der vielen Beckmann-Ausstellungen ein Desiderat war. Von 1904 bis 1914 und von 1933 bis 1937 lebte der in Leipzig geborene Künstler in Berlin, aber auch in der Zwischenzeit war er oft hier, pflegte Kontakte und stellte hier aus. Berlin blieb ein wichtiger Bezugspunkt in seinem Leben und Schaffen. Neben Werken aus eigenem Bestand hat das Berliner Landesmuseum auch Leihgaben aus anderen deutschen Museen und aus Privatbesitz zusammengetragen. Beckmanns große Triptychen konnten allerdings den Weg nach Berlin nicht antreten, auch das Schlüsselbild „Die Nacht“ fehlt. Doch die Ausstellung verweist auf die Arbeiten, die mit „Die Nacht“ in Verbindung gebracht werden können. Motivische, stilistische und formale Bezüge in seinem Werk sichtbar zu machen, die ästhetischen Strategien dieses Malers auszuloten, der identische Motive mit verschiedenen Bedeutungen auflädt oder für identische Bedeutungen unterschiedliche Formen und Sujets findet, ist das Anliegen der Kuratorin Stefanie Heckmann und ihres Ausstellungsteams.

Der Katalog lotet – begleitet von ganzseitigen Abbildungen – die vielfältigen Beziehungen Beckmanns zu Berlin aus. Nach einer Einführung von Stefanie Heckmann, „Beckmann ist Berliner“, werden in fünf Kapiteln mit der Darstellung von Leben und Schaffen des Malers, der Interpretation seiner Werke und Werkkomplexe neue Aspekte der Kunstgeschichte der ersten vier Jahrzehnte des vergangenen Jahrhunderts eingebracht. Beispielsweise widmet sich Christiane Zeiller dem „Einfluss Edvard Munchs auf Beckmanns Frühwerk“, Cathrin Klingsohr-Leroy der Beziehung von Franz Marc und Beckmann, Nina Peter und Barbara Werr beschäftigen sich in ihren Texten mit der Rolle Berlins bei Beckmann, während Barbara Copeland Buenger und Stephan von Wiese Beckmanns Verhältnis zum NS-Regime unter die Lupe nehmen. Ein Verzeichnis der Berliner Ausstellungen Beckmanns von 1906 bis in die 1930er-Jahre (Dirk Weilemann, Janina Nentwig) mit Auszügen aus zeitgenössischen Kritiken, eine Beckmann-Biografie (Barbara Werr), ein historischer Stadtplan Berlins, ein Verzeichnis der ausgestellten Werke und ausführliche Literaturangaben schließen den ebenso material- wie ergebnisreichen Band ab.

Von den „Jungen Männern am Meer“ (1905), dem impressionistischen Stimmungsbild einer Harmonie von Mensch und Natur, bis zu dem „metaphysisch codierten“ Bild „Der Leiermann“ (1935), das die Bedrohung in Hitler-Deutschland spüren lässt, führen Ausstellung wie Katalog. In der frühen Berliner Zeit stand Beckmann der Berliner Sezession nahe, dem deutschen Impressionismus begegnete er jedoch mit einem thematisch und formal übersteigerten, auf existentielle Aussagen drängenden Ausdruckswillen. Im „Selbstbildnis Florenz“ (1907) präsentiert er sich ohne jeden Selbstzweifel in der Pose eines eleganten Weltmannes. Eine hochdramatische großformatige Komposition wie „Sintflut“ (1908) weist schon auf seine tragische Weltstimmung hin. Neben anderen Großstadtmotiven arbeitete er an einer ganzen Serie von Berliner Straßenbildern, unterschied sich aber im impressionistischen Duktus von den zur gleichen Zeit entstandenen Großstadtbildern der Expressionisten Ludwig Meidner und Ernst-Ludwig Kirchner.

Schon in den Jahren des Ersten Weltkrieges fand Beckmann einen Stil von äußerster Gespanntheit, fast unerträglicher Dissonanz und rücksichtsloser Heftigkeit – die menschliche Existenz wurde als chaotische Ausweglosigkeit, als blindes Getriebensein und als grauenhafte, sinnlose Qual empfunden. Seine Absicht war es, den Expressionismus durch eine direkte, „objektive“ Sicht der Ereignisse hinter sich zu lassen, expressives Selbstmitleid durch ein umfassenderes Mitleid für die Opfer der Geschichte zu ersetzen.   

Jede der vier Grafikfolgen, die Beckmann zwischen 1919 und 1922 veröffentlichte, beginnt mit einem Selbstbildnis, das auch in verfremdeter Physiognomie in manchen anderen Blättern auftritt. Er macht sich damit gleichzeitig zum Regisseur und Mitspieler menschlicher Tragödien. Marktschreierisch führt er dem Betrachter Revuen mit Material vor, das ihm der ‚Schauplatz Leben‘ bot. So in der Litho-Folge „Die Hölle“ (1918/19), auf dem das Berlin der Nachkriegszeit, des mörderischen Bürgerkriegs, des Schiebertums und des kleinbürgerlichen Miefs dargestellt ist. Das Blatt 6, „Die Nacht“, ist dem Thema des gleichnamigen Gemäldes gewidmet. Die Welt als Theater, Zirkus, Jahrmarkt – Beckmann selbst in der Rolle des Beobachters –, die Welt ist nur noch in Szenen einzelner Wirklichkeitsfragmente überblickbar. In blitzartiger Verdichtung geschaffene Gleichnisse werden aneinandergereiht, wie auf zersplitterten Spiegeln ist der Zusammenbruch einer Welt aufgezeichnet. In dem Mappenwerk „Berliner Reise“ (1922) setzt dann eine Beruhigung der Form ein. Beckmann führt uns zu den Nervenzentren des öffentlichen und halböffentlichen Lebens der Großstadt Berlin. Grafik als massenwirksames Flugblatt – diese Wunschvorstellung teilte Beckmann mit Otto Dix, George Grosz und anderen. 

Die Hölle des Krieges findet für Beckmann in der Großstadt, dem „großen Menschenorchester“, ihre Fortsetzung. Es sind Bilder der verstörten Menschenmasse in Kneipen, Bars, Tanzlokalen – den kleinen Spiegelbildern der Gesellschaft. Im Rückgriff auf mittelalterliche Darstellungsweisen staffelt er Figuren in die Höhe, wechselt Perspektiven und Größenverhältnisse und erzeugt beengende Räume ohne Nischen für die individuelle Entfaltung. Beziehungslosigkeit herrscht trotz größter Nähe von Dingen und Menschen. Der hohe Blickpunkt lässt den Betrachter wie vom Rang eines Theaters auf die Bühne menschlichen Lebens blicken, wo die Masken der Menschen – oder die zur Grimasse verzerrten Gesichter – zur Chiffre für die verlorene Individualität werden. Der Blick auf die Kulissen wird zu einem Blick hinter die Kulissen.

Als teilnehmender Bürger („Selbstbildnis mit Sektglas“, 1919), mitspielender Clown („Selbstbildnis vor rotem Vorhang“, 1923) oder Schauspieler („Selbstbildnis mit schwarzer Kappe“, 1934) mischt sich der Künstler selbst unter die Leute. Wie viele Selbstbildnisse – versteckt und offen – hat er geschaffen! Als Individuum ist er Teil der Masse und bleibt gleichzeitig von ihr geschieden. Das Motiv einer kopfüber stürzenden Figur wird zur Metapher der eigenen Situation als Künstler. Der strangulierte Mann vereinigt Elemente aus der christlichen Passion. Wie Beckmann seine eigene Person grausamen Metamorphosen  unterworfen hat, so wurden auch Freunde zu Modellen. Der Bürger mit Pfeife trägt Kopfverband, ist Opfer, aber zugleich grausamer Folterer, der Anderen Leid zufügt. Die Frau in Rot erscheint als Komplizin der Täter, Freundin der Familie oder Personifikation des Schicksals. Beckmann ordnet allein die Gesichter als Typen in seine Kompositionen ein und löst sie von der tatsächlichen Person. So ist auch der Regisseur Beckmann Teilnehmer an einem Spiel, dessen Verlauf er nicht vorausahnen kann. Regisseur und Akteur erscheinen oft in einer Person. 1937 – seine Bilder waren bei der Aktion „Entartete Kunst“ beschlagnahmt worden – konnte er das nationalsozialistische Berlin nicht länger ertragen und emigrierte nach Amsterdam. 

Der Betrachter seiner Bilder wird gleichsam zum Zeugen wider Willen. Auf beängstigende Weise scheint Beckmann alle Personen, vor und in dem Bild, in das Geschehen einbezogen  zu haben.    

Titelbild

Thomas Köhler / Stefanie Heckmann (Hg.): Max Beckmann und Berlin.
Kerber Verlag, Bielefeld 2015.
280 Seiten, 44,90 EUR.
ISBN-13: 9783735601421

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