Von Séancen, Spuk und Trickbetrug

Roger Clarke liefert mit seiner „Naturgeschichte der Gespenster“ eine mäßig gelungene Übersicht zur Geschichte und Erforschung von Geisterphänomenen

Von Robin KuhnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Robin Kuhn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass sich Erzählungen über das Übernatürliche, das Unheimliche und Unerklärbare bis heute einer enormen Popularität erfreuen, müssen selbst die größten Skeptiker dieser Stoffe anerkennen. Auch das 21. Jahrhundert steht weiterhin in dieser Tradition. So greift im digitalen Raum immer stärker die Gattung der sogenannten Creepypastas um sich: von Internetnutzern konzipierte Horrorgeschichten, die ihren Reiz insbesondere dadurch erhalten, dass sie über ihre öffentliche Verbreitung im Netz immer wieder kopiert und verändert werden, bis ihre Entstehungsgeschichte und ihr möglicher Wahrheitsgehalt kaum mehr nachzuvollziehen sind. Dass derartige Mechanismen indes keineswegs neu, sondern bereits eng mit der Entstehung der ersten Geistergeschichten verknüpft sind, zeigt der Journalist Roger Clarke in seinem jetzt auch auf Deutsch erschienenen Buch Naturgeschichte der Gespenster. Eine Beweisaufnahme (Original: A Natural History of Ghosts: 500 Years of Hunting for Proof). Darin bemüht er sich anhand einer Mischung aus historischen Fakten und Fallbeispielen berühmt gewordener Geister, einen „Universalführer durch die Welt der Spuks [sic!]“ zu erstellen.

Gleich vorweg: Dieses hochgesteckte Ziel gelingt Clarke nur in Ansätzen, da er lokal und zeitlich viel zu stark dem modernen Großbritannien des 17. bis 20. Jahrhunderts verhaftet bleibt. Nur gelegentlich bindet er Kontinentaleuropa und den Rest der Welt in seine Ausführungen ein oder diskutiert das (ausgesprochen spannende) Bild der Geister in Mittelalter und Antike, womit der angestrebte wissenschaftliche Gehalt des Buchs zwangsläufig auf der Strecke bleibt. Was der Text im Wesentlichen bietet, ist die nähere Ausführung zahlreicher enthüllter sowie bislang ungeklärter britischer Gespenstererzählungen wie dem „Cock-Lane-Geist“, der „Braunen Lady von Raynham Hall“ oder dem „Trommler von Tedworth“, in die wiederholt Abrisse über die Historie der Geistererscheinungen, der Geisterjagd und -forschung sowie der zeitgenössischen Literatur (etwa die wohlbekannten gothic novels) eingeflochten werden. Erfahrenen Lesern, die sich mit derartiger Materie bereits eingehend beschäftigt haben, kann das Buch hier nur wenig Neues bieten.

Wer aber noch vollkommen unerfahren auf dem unübersichtlichen Gebiet von Spuk und Geistern ist, findet ein inhaltlich durchaus lohnenswertes Kompendium vor, um in die Thematik einzusteigen. Denn was Clarke hier gelingt, ist die Ausarbeitung eines anschaulichen historischen Beitrags zur Debatte um das Übernatürliche, indem er durch die Einbindung prominenter Persönlichkeiten in seine Darstellungen zeigt, wie präsent Geister im Diskurs der früheren Jahrhunderte – im einfachen Volk wie auch unter den Gelehrten und Geistlichen – tatsächlich waren. Immer wieder fallen so unter anderem die Namen von Henry James, Horace Walpole, Charles Dickens, Walter Scott, Isaac Newton sowie von zahlreichen Bischöfen und Regierungsvertretern, die mit einzelnen Akteuren bestimmter Spukgeschehnisse in näherem Kontakt standen und/oder durch diese Ereignisse in ihrem Leben und Schaffen maßgeblich beeinflusst wurden.

Nachvollziehbar zeigt Clarke auch auf, wie sich in Großbritannien allmählich die Strömungen des Methodismus, des Mesmerismus sowie des Spiritismus entfalteten und in der breiten Bevölkerung enorme Annahme fanden. Nicht zuletzt wird deutlich, wie sehr die frühen Geister das allgemeine Bild der heutigen Gespenster beeinflusst haben und wie sehr sie sich zugleich von unseren ‚moderneren‘ Vorstellungen unterschieden. So erörtert Clarke beispielgebend die Eigenschaft dieser alten Geister, üblicherweise nicht etwa nur um Mitternacht, sondern ebenso um 12 Uhr mittags zu erscheinen, und notiert dazu scherzhaft: „Die größte Chance, einen Geist zu sehen, haben Sie vor dem Mittagessen und nach dem Zubettgehen.“

Der lockere Schreibstil des Autors ist ein großes Plus. Er versteht es, humorvolle Anmerkungen dort zu setzen, wo sie angebracht sind und nicht gekünstelt wirken; damit findet er zugleich einen guten Weg, den nach wie vor hochumstrittenen Themenkomplex rund um das Übernatürliche, die Parapsychologie und die Geisterjagd sachlich zu präsentieren. Mitnichten kann man dem Autor vorwerfen, er würde Geistererscheinungen allzu sehr verklären. Im Gegenteil: In den meisten Fällen hinterfragt Clarke die überlieferten Daten. Er präsentiert eigene Lösungsvorschläge für die Mysterien und legt großen Wert darauf, falschen Spuk aufzuzeigen und etwa die trickreichen Täuschungsvarianten der vermeintlich übersinnlichen Medien zu benennen: Mädchen, die mittels Fingerknacksen ein Geisterklopfen erzeugen, oder eine Frau, die einen elektronischen Überwachungsapparat austrickst, der sie hätte entlarven sollen – all diese Spitzfindigkeiten stellen nur einen winzigen Teil einer ganzen Gewerbemaschinerie dar, in der clevere Geschäftsfrauen und -männer teilweise jahrzehntelang ein schaulustiges, gutgläubiges Publikum in die Irre führten.

Als problematisch erweist sich allerdings die recht lose Gliederung. Nicht nur dass die entscheidenden historischen Zusatzinformationen sehr frei über die einzelnen Kapitel hinweg verteilt sind: Häufig wird der Leser zu Beginn eines neuen Kapitels geradezu erschlagen von einer chaotischen Fülle an Namen von Hausherren und -damen, von Dienstboten, Verwandten und Orten, deren Rollen erst einige Absätze später, wenn überhaupt, näher ausgeführt werden.

Vom Text einmal abgesehen lohnt vor allem auch ein näherer Blick auf die ungewöhnliche Gestaltung des Buchs, zu der auch die Haptik zählt: Das angenehme Material des Einbands ist weder rau noch glatt, weder fest noch besonders biegsam. Hinzu kommt, dass der Kopfschnitt mit einer schwarzen Beschichtung versehen ist. Hier zeigt sich ein tatsächlich sehr gelungenes Design, das sich nicht nur im Regal deutlich von anderen Büchern abhebt. Umso unverständlicher erscheint damit die Nachlässigkeit, die der Matthes & Seitz Verlag dem Layout und der inhaltlichen Bearbeitung des Werks angedeihen ließ. So ist der Text durchgängig linksbündig formatiert, was bei der Lektüre regelmäßig für Verwirrung sorgt. Die Übersetzung von Hainer Kober erweist sich trotz kleinerer Fehler als flüssig lesbar, doch leider finden sich überdurchschnittlich viele orthografische Mängel – bis hin zur Verwechslung ganzer Namen und Daten –, die den Lesefluss und das Gesamtbild empfindlich stören. Immerhin hat die Reihenherausgeberin Judith Schalansky den Band vor der Veröffentlichung zumindest noch „durchgesehen“, was im deutschen Verlagswesen mittlerweile auch nicht mehr unbedingt Standard ist.

Ein Index ist zwar vorhanden, mit dem Umfang von lediglich einer Seite jedoch viel zu knapp gehalten und bei der Handhabung des Buchs nur wenig hilfreich. Man fragt sich, wieso Einträge wie „Lesbische Liebe“ oder „Schattenbilder“ aufgenommen wurden, von den zahlreichen beteiligten Personen und Spukorten, die den Kernpunkt von Clarkes Darstellung bilden, hingegen nahezu jede Spur fehlt. Der erhoffte lehrreiche Geisterabend kann so schnell in anstrengende Büffelei umschlagen. Mit derartigen, problemlos vermeidbaren Ausrutschern verschreckt die Naturgeschichte der Gespenster unnötigerweise gleich beide Zielgruppen: sowohl die interessierten Laien, die sich einen unterhaltsamen Einblick in die Gespensterwelt erhoffen, als auch die erfahrenen, fachspezifisch orientierten Leser. Letztere sollten aber ohnehin besser zu weiterführenden Werken greifen, für die wiederum das beigefügte Literaturverzeichnis (erfreulicherweise ebenfalls mit den deutschsprachigen Fassungen der englischen Originalliteratur versehen) eine hilfreiche Quelle darstellen kann.

Clarke hat einen zwiespältigen Text vorgelegt, dem es einerseits an grundlegenden wissenschaftlichen Prinzipien mangelt, der aber andererseits mit einem Fundus an lesenswerten Geschichten und historischen Exkursen (insbesondere in den letzten beiden Kapiteln) aufwarten kann. Hinzu kommen die Nachlässigkeiten des Verlags, die, das muss betont werden, so nicht vorkommen dürften. Zumindest bietet das Buch einen allerersten groben Einblick in das weitläufige Feld des Übernatürlichen – ganz unabhängig davon, wie man selbst zum Glauben an Geister stehen mag. Der stolze Preis von 38 Euro verdeutlicht dabei zugleich auf drastische Weise, dass neben den Geschichten selbst auch das alte Geschäft mit dem Jenseits nichts an seinem Reiz eingebüßt hat. Oder um Clarke selbst zu zitieren: „Zu jeder guten Geistergeschichte schien es jemanden zu geben, der von ihr profitierte.“

Titelbild

Roger Clarke: Naturgeschichte der Gespenster. Eine Beweisaufnahme.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2015.
335 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783957571021

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