Abschied von Umberto Eco

Zu den Zeichen und Werken einer Ikone der Weltkultur

Von Jürgen TrabantRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Trabant

Vorbemerkung der Redaktion: Jürgen Trabant, Übersetzer, Freund und einer der besten Kenner Umberto Ecos, veröffentlichte vor vier Jahren in der Süddeutschen Zeitung zum 80. Geburtstag des Philosophen, Wissenschaftlers und Künstlers eine persönliche Würdigung. Auf dieser basiert der folgende Beitrag. Aus der Gratulation ist hier ein Abschied geworden. (TA)

Drei Jahre vor seinem 80. Geburtstag überraschte Umberto Eco die Öffentlichkeit damit, dass er keinen Bart mehr hatte. Manche nahmen ihm das ein bisschen übel. Umberto Eco ist nämlich seit Jahrzehnten eine Ikone der Weltkultur – wie Che Guevara oder Mickey Mouse –, und zu der gehörte der Bart. Stellen Sie sich Che ohne die Baskenmütze mit Stern oder Mickey Mouse ohne die beiden großen Ohren vor. Aber anscheinend hatte sich das Aussehen des wirklichen Eco dramatisch von der Ikone entfernt. Umberto Eco wollte jedenfalls nicht wie Dschingis Khan aussehen, das heißt, er wollte nicht einer anderen, eher unsympathischen Ikone ähneln: finster, bärtig, gewalttätig. Das kann man verstehen. Aber sah Eco wirklich aus wie Dschingis Khan (der nach meinen ikonischen Erkundungen gar nicht so finster aussah)? Und war der nunmehr nur noch schnurrbärtige Eco wirklich noch Eco? Es spricht zwar einiges dafür, aber diese Frage werden wir nie mit völliger Sicherheit beantworten können. Jedenfalls hatte der Mann, der Umberto Eco war/ist, unsere Wahrnehmungs-Konventionen schwer erschüttert, als er sich den Bart abrasierte und damit die prekären semiotischen Gewohnheiten zerstörte, mit denen wir die Welt zu verstehen versuchen und ohne die wir in der Welt nicht zurechtkommen. Die Debarbierung Umberto Ecos machte die Kluft zwischen Sache und Zeichen wieder einmal schmerzlich deutlich. Sie stieß uns allerdings auch in einen kreativen Lernprozess, sofern wir Eco neu sehen lernen mussten. Und sie zeigte des Weiteren, dass man sich auch mit fast achtzig Jahren noch neu erfinden kann.

Aber auch in anderer Hinsicht ist der Mann schwer zu fassen: Umberto Eco ist ein Philosoph. Für die meisten Menschen ist er aber eher ein Romancier, auf seinen Romanen beruht sein Weltruhm. Er ist ein Erschaffer von Wort-Gebäuden, deren labyrinthische Kompliziertheit die Freude und süße Verzweiflung seiner Leser ausmacht. Vom „Namen der Rose“ bis zum „Friedhof von Prag“ entfalten diese Roman-Welten (die meisterhaft mit der Wahrheits-Fiktion spielen) unendliche Versuche der Welt-Interpretation ihrer Protagonisten und sind gerade deswegen auch Welten, die die Interpretations-Leidenschaft der Leser in fieberhafte Aktivität und geradezu hemmungsloses hermeneutisches Entzücken versetzen. Der Mensch, das wusste Eco, ist das interpretierende Tier, animal interpretans, zoon hermeneutikon. Und niemand gab diesem Tier so sehr, was es braucht, wie Umberto Eco.

Aber dieser Weltenhersteller war dennoch zunächst ein Philosoph. Vor seinem literarischen Ruhm als Romanschriftsteller war er schon lange als wichtigster Intellektueller Italiens bekannt, wurden seine kultursemiotischen Werke in die Sprachen der Welt übersetzt. Er beginnt erst mit knapp fünfzig Jahren zu erzählen. Da liegen schon mehr als drei Jahrzehnte des Philosophierens hinter ihm, des Philosophierens über Kunst oder besser: über alle Formen kreativen Schaffens, von der Musik, über Literatur, die bildende Kunst, hohe und niedrige (gerade für die Beschäftigung mit populärer Kunst wird er als Theoretiker berühmt), also des Philosophierens über die menschliche Kultur, über den mondo civile, wie ein anderer großer italienischer Philosoph, Giambattista Vico, dies genannt hat. Der mondo civile ist das Ensemble aller Zeichen, mit denen sich der Mensch die Welt geistig zueigen macht. Aber wie Vico ist auch Eco kein Sparten-Philosoph, also kein Philosoph der Kunst oder der Kultur. Es geht wie bei jedem echten Philosophen um die Frage aller Fragen, nämlich darum, was wir wissen können. Was Eco also an der vom Menschen gemachten Welt interessiert, ist die Art und Weise, wie der Mensch sich die Welt denkend aneignet. Die Ästhetik, von der Eco herkommt und die er in eine Zeichentheorie transformiert, ist gerade eine Form der Erkenntnistheorie. Die „Theorie der Formativität“ seines Lehrers Luigi Pareyson verbindet Eco mit der semiotischen Philosophie von Charles S. Peirce, den er seinen zweiten Lehrer nennt. Der Mensch versteht die Welt nicht durch reines Denken, sondern nur indem er sein Denken in von ihm geschaffenen Handlungen, Artefakten, Zeichen verkörpert. Diese Philosophie ist eine Theorie des verkörperten Denkens.

Dann aber ist es gleichsam, als brauche Ecos denkerische Kreativität nach Jahrzehnten der Produktion von Theorie über das verkörperte Denken des Menschen eine weitere, eben körperlichere Form des Denkens, nämlich die künstlerische. In ihr kann er experimentieren und ausprobieren, was er gedacht hat. Die Philosophie der kreativen Weltaneignung durch den schöpferischen Menschen und der sich daran anschließenden unendlichen Interpretationen will sich in einer Praxis der Welterschaffung selbst erproben. Es ist aber immer noch – wenn auch eine andere Form – eine Suche nach Erkenntnis, vor allem, wenn man an Vicos philosophischen Kernsatz denkt, dass man das am besten versteht, was man selbst gemacht hat. Was der Mensch als Poet schafft, das hat er wirklich verstanden, er hat es ja selbst gemacht. Das Machen verschafft dem Denken die höchste Gewissheit. In den Romanen kann der dichtende Philosoph Gott sein. Das Dichten radikalisiert somit die elfte Feuerbach-These: Die Philosophen haben die Welt nur interpretiert, es kommt aber darauf an, sie – wie der Künstler – zu schaffen.

In Wirklichkeit kann man daher das philosophische nicht von dem künstlerischen Werk trennen. Eco ist ja derselbe Mensch, als Philosoph oder als Künstler. Und es ist dieselbe Suche, dieselbe geradezu manische Leidenschaft des Denkens, die Suche nach den Grundlagen des Verstehens der Welt. Die beiden Formen des Schaffens sind einfach zwei Formen derselben Tätigkeit. Das Denken formt das Sein, so wie ein Bildhauer den Marmor oder das Holz formt – oder wie ein Dichter Sprache formt. Die Theorie der Formativität wird konkrete Formativität. Ecos Erzählungen schaffen narrativ, was seine theoretischen Werke durchdenken. So zum Beispiel ist der „Name der Rose“ eine Welt des Zeichen-Lesens, ein Verstehen und Interpretieren der Welt. Diese sagt nämlich nicht als solche, was sie ist, wie sie verstanden werden will. Deswegen arbeitet der Mensch sich an ihr ab, auf dem schon erwähnten schwankenden Boden der Zeichen und Bilder. Nichts ist für den Erkennenden richtig sicher. Deswegen öffnet sich die Welt auch nicht nur dem Verstehen in Zeichen, sondern sie ist immer auch der Täuschung ausgesetzt, die eine so große Rolle in Umbertos erzählerischem Werk spielt. Aber Ecos Botschaft ist keine eines zynischen oder tragischen Relativismus. Denn es gibt schon etwas in der Welt oder in den Texten, was bestimmte Interpretationen nahelegt und andere abwegig erscheinen lässt. Die Struktur ist zwar keine ontologische, wie er einmal gegen Lévi-Strauss eingewandt hat, sie ist aber letztlich weder im Sein noch im Text völlig abwesend.

Die Diskurse der Philosophie und der Dichtung sind in der Vergangenheit nicht so scharf getrennt gewesen wie heute. Platon ist auch ein großer Schriftsteller, und die Dialogform, in der die Philosophie bei Platon in die Welt tritt, ist noch dem Drama verwandt. Es gibt in der Literatur- und Philosophiegeschichte eine ganze Reihe von philosophierenden Dichtern, es gibt aber nicht so viele dichtende Philosophen. Während Dichter sich öfter in philosophischen Texten theoretisch-rational Gewissheit verschaffen, drängt das denkerische Temperament anscheinend weniger zur künstlerischen Gestaltung. Die Verwissenschaftlichung von Philosophie hat in der aktuellen Kultur die beiden Diskurse noch einmal schärfer getrennt als je zuvor. Man vollzieht diese Trennung anscheinend ganz intuitiv mit. In meiner Bibliothek zum Beispiel, das bemerke ich gerade, stehen die Romanwerke Ecos an einer anderen Stelle als die philosophischen Arbeiten. Sie gehören aber gerade zusammen, und ich werde Ecos Werke in meiner Bibliothek jetzt wieder vereinen. Als dichtender Philosoph ist Umberto Eco mit Jean-Paul Sartre oder mit Voltaire vergleichbar. Wie diese beiden ist er gerade durch die Doppelfunktion zu einem der wichtigsten Intellektuellen der westlichen Welt geworden: Die Literatur wirkt eben doch weiter und eindringlicher als die Philosophie. Sicher stand Eco dem geistvollen und heiteren Voltaire und dessen philosophischen Romanen bedeutend näher als dem strengen und finsteren Sartre. Man konnte sich auch kaum vorstellen, dass Eco, dieser Philosoph des bon sens, in die Falle ideologischer Verblendung gehen würde, in die der alte Sartre geraten war. Von vielen anderen „wichtigen“ Intellektuellen, seien sie Medientheoretiker, Genderphilosophinnen oder Psychomarxisten, unterschied Eco sich durch die Abwesenheit ideologischer Selbstfesselung. Ihm war nicht nur das dazugehörige pfäffische Wesen fremd, sondern er war sich auch durch seine Philosophie der Interpretation der Welt der eigenen Interpretations-Codes kritisch bewusst und eignete sich daher nicht zum Guru, dem man gehorsam anhängt. Dass er dennoch weltberühmt ist, spricht im Übrigen nicht nur für ihn, sondern auch für die Welt.

Ich habe es immer als ein ganz besonderes Glück betrachtet, dass ich vor vierzig Jahren, kurz nach der Promotion, Umberto Ecos erster deutscher Übersetzer sein durfte. Ohne die Arbeit an seiner „Struttura assente“ wäre ich vermutlich nicht in die Wissenschaft zurückgekehrt. Unter seinen vielen herrlichen Büchern sind mir das Buch über die vollkommene Sprache und das Buch über das Übersetzen mit dem schönen Titel „Dire quasi la stessa cosa“ die wichtigsten. Bei einer Tagung zum Übersetzen haben wir uns auch zum letzten Mal getroffen und in einer richtigen Berliner Kneipe, wie Umberto sie liebt, zusammen getrunken und geredet. Damals hatte er noch den Bart. Für mich bleibt der Bart dran, Dschingis Khan hin, Dschingis Khan her. Mein Umberto, meine Ikone, hat einen Bart. Grazie di tutto, caro amico!

Hinweis der Redaktion: Der Beitrag ist seit dem 1.3.2016 auch bei Literatur Radio Bayern zu hören.