Stolz und Vorurteil

Im Roman „Der König“ zeichnet Kader Abdolah ein verzerrtes Bild der Kadscharen-Herrschaft im Iran

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Gretchenfrage der Iraner lautet: Wie hältst du es mit den Kadscharen? Will man wissen, wo jemand zu verorten ist, muss man ihn nach dem turkisch-aserbaidschanischen Stamm befragen, der den Iran zwischen 1796 und 1925 regiert hat. Es gibt wohl keine andere Dynastie, über die vor allem bei einer Vielzahl von Persern, also dem Farsi sprechenden Teil der Bevölkerung, mehr Unwahrheit und Falschinformationen zirkulieren. Die Ursache liegt in der Geschichtsschreibung unter den persischen Pahlewi. Sie stürzten die Kadscharen mithilfe der Briten und taten alles, um den Putsch und ihre künftige Politik – die Schaffung eines rein persisch geprägten, zentralistisch gesteuerten Landes – zu legitimieren. Berechtigte Kritik etwa an Korruption wurde in der Folgezeit bewusst verknüpft und zementiert mit rassistischen Ausfällen. Die Attacken gegen die Kadscharen zielten damit nicht nur gegen einen schwachen, bis dato föderal strukturierten Staat mit angeblich unfähigen Herrschern, sondern stets auch gegen ihre „niedere“, weil nicht-persische Abstammung.

Mit diesem Hintergrundwissen ist es spannend, den Blick auf einen historischen Roman zu werfen, der 2011 unter dem Titel De koning erschienen ist und seit 2013 auch auf Deutsch vorliegt. Autor ist der 1954 im iranischen Arak geborene Perser Hossein Sadjadi Ghaemmaghami Farahani. Dieser beendete 1977 ein Physikstudium und war Mitglied einer linken Untergrundbewegung – erst gegen den Schah und nach der Revolution von 1979 gegen Ajatollah Khomeini. 1985 floh Farahani in die Türkei und lebt seit 1988 in den Niederlanden, wo er unter dem Pseudonym Kader Abdolah ein erfolgreicher Schriftsteller und Kolumnist geworden ist, der auch des Öfteren ins Fernsehen eingeladen wird. Sein Pseudonym setzt sich aus den Namen zweier Freunde zusammen, die hingerichtet wurden.

Mit Der König beabsichtigt Abdolah die Geschichte von Nasereddin Schah und seiner Epoche zu erzählen. Dieser war der am längsten herrschende Kadschare. 1831 in Täbris geboren, regierte er ab 1848 fast ein halbes Jahrhundert, bis er 1896 einem Attentat zum Opfer fiel. Der Roman beleuchtet sein Leben in 64 Prosaskizzen: Man liest etwa von 230 Frauen, aus denen sein Harem bestehen soll, lernt seine mächtige Mutter Mahdolia kennen und erfährt von Prinzen und Geistlichen, die von Russen und Briten bestochen werden. Sie alle haben einen Gegner: Den Großwesir Mirza Kabir, der Iran ins industrielle Zeitalter führen will. Um Fabriken, Krankenhäuser, Bibliotheken und Hochschulen zu bauen, plant er große Reformen – und will Macht und Apanagen der Kadscharen zurückfahren.

Die erste Hälfte des Romans behandelt das Verhältnis von Nasereddin, Mahdolia und Mirza Kabir. Der Erzähler stellt den Schah durchgehend als unbeholfen, ängstlich, beeinflussbar, ausschweifend und faul dar. Der Hof wirkt wie ein Schlangennest. Insbesondere Mahdolia und ihre Entourage werden als selbstsüchtig beschrieben, die Macht und Reichtum vor die Entwicklung ihres Landes stellten. Ihr Gegenpart ist der als unbestechlich und heldenhaft gezeichnete Großwesir, ein Perser.

Abdolah besitzt das Talent, reportagehaft und dialogreich zu schreiben; er vermag es, beim Leser den Eindruck entstehen zu lassen, selbst dabei zu sein, und gibt die Stimmung und den plötzlichen Umschwung in einer Situation einprägsam und packend wieder. Ein Beispiel ist die Skizze „Der Albalu-Garten“, in dem Nasereddin Schah auf dem Landsitz eines Geistlichen Kirschen isst und sich mit seinen Frauen vergnügt, während er auf einen als Kaufmann verkleideten russischen Politiker wartet, um mit ihm eine Unterredung zu führen. Ein anderes Beispiel für Abdolahs Fertigkeit ist „Die schwarze Decke“, in der der Großwesir, der, obwohl er Böses ahnt, dennoch ein Anwesen des Schahs aufsucht, um mit ihm zu sprechen. Dort wird er von drei Männern geknebelt und verschwindet von der Bildfläche.

Doch so bestechend sich einige Miniaturen lesen: Die Konzentration auf die Hofintrigen ermüdet durch die Wiederholungen, sodass der Roman nicht vom Fleck kommt. Andere Ereignisse wie die Niederschlagung der „Babisten“, aus denen die Bahai-Bewegung entstand, oder die Rückeroberung und der Verlust von Herat kommen zwar vor, doch wird anderes – wie die Situation der Bevölkerung – nur erwähnt, nicht aber plastisch dargestellt. Um ein umfassendes Bild vom Iran im 19. Jahrhundert zu liefern, reicht nicht der Fokus allein auf die Oberschicht. Besonders im zweiten Teil wird das sichtbar, in dem Intellektuelle wie Dschamal Khan, ein Freund Mirza Kabirs, die im Ausland gelebt haben, sich mit Geistlichen zusammentun und sich mit britischer Hilfe gegen den Schah erheben.

Der König sollte nicht als ein Buch gelesen werden, das sich stur an die Fakten hält. So heißt es in der Einleitung, dass das Buch in der Tradition persischer Erzähler stehe. Diese „spielten mit der Zeit und ließen ihrer Phantasie freien Lauf, um die Vergangenheit so lebendig und farbenfroh wie möglich zu schildern. Sie veränderten manche Ereignisse, verzichteten auf andere und fügten wieder andere hinzu“. In seinem Roman hat Abdolah Personen und Ereignisse verdichtet. „Mirza Kabir“ setzt sich aus Mirza Abolghasem Ghaemmagham Farahani (1779–1835), einem Vorfahr des Schriftstellers, und Mirza Taghi Khan Amir Kabir (1807–1852) zusammen. Der Schah selbst ist auch eine Symbolfigur und steht nicht nur für Nasereddin Schah, sondern auch für seinen Vater Mohammed Schah (1808–1848), seinen Sohn Mozaffereddin Schah (1853–1907) und seinen Enkel Mohammed Ali Schah (1872–1924). Das erkennt man beispielsweise daran, dass Abdolah die Konstitutionelle Revolution von 1906/09 genauso in die Regierungszeit von Nasereddin zurückverlegt wie die Entdeckung des Öls.

Abdolah hat seinen König weder geschrieben, um bestehende Tabuthemen einer Reihe von Persern, wie etwa die Gleichwertigkeit der Völker im Iran, infrage zu stellen noch um bisher kaum hinterfragte Vorurteile gegenüber den Kadscharen abzubauen. Das liegt am Konzept des Romans. In der Einleitung erklärt der Erzähler, in die Fußstapfen des persischen Dichters Firdausi (940–1020) und seines Schahnameh zu treten. Dieses „Königsbuch“ ist das persische Nationalepos und erzählt die Geschichte Irans vor der islamischen Eroberung. So wundert es auch nicht, dass der Bezugspunkt des Erzählers in Der König das antike Persien ist und der Iran unter den Kadscharen den Vergleich stets verlieren muss.

Dies impliziert die unerreichbare Höhe der (antiken) persischen Kultur und scheint den Niedergang des Iran im 19. Jahrhundert in der vermeintlichen Kulturlosigkeit der nomadischen Kadscharen zu suchen. Mit Der König versucht Abdolah ein modernes Schahnameh zu schreiben und folgt der „alten persischen Tradition“, nach der die Erzähler der alten Königsgeschichten „den Verlauf der Handlung ganz den Bedürfnissen ihrer Hörer“ anpassten. Auch wenn der im Jahr 2000 zum Ritter des Ordens des Niederländischen Löwen geschlagene Autor seinen Roman nicht auf Persisch geschrieben hat – was seiner Absicht im Grunde widerspricht – und wie ein Zugeständnis an sein Exil wirkt, scheint er in erster Linie die Bedürfnisse seiner persischen Leser befriedigen zu wollen.

Um Sympathie für Mirza Kabir und Antipathie für Nasereddin Schah zu erzielen, arbeitet Abdolah mit Gegensätzen. Er spricht zwar viele wichtige Kritikpunkte an: die aggressive Expansionspolitik von Briten und Russen und Gebietsverluste im Norden und Osten des Iran, die Bestechlichkeit von Adel und Geistlichkeit und die Rückständigkeit von Wirtschaft und Militär etwa, doch schadet er seiner Arbeit und Reputation, indem er Unwahrheiten und Klischees über die Kadscharen seinerseits reproduziert. „Während der Schah feierte, lenkte Mirza Kabir das Land.“ Der Gegensatz zwischen gebildetem, aktivem Perser und beschränktem, passivem Turken durchzieht den Roman. Aus diesem Grund verwundert es auch nicht, dass der Autor nur am Rand und eher spöttisch auf die Europa-Reisen von Nasereddin Schah eingeht. Das Gleiche gilt für seine Leidenschaft für Fotografie.

Zudem fällt auf, dass Abdolah einen Roman über einen fast 50 Jahre regierenden Schah schreibt, den Namen seines Stammes in den fast 400 Seiten aber nur einmal erwähnt. In Der König erscheint der Iran als ethnischer und kultureller Monolith. Kein Wort verliert sein Erzähler über die turkisch-aserbaidschanische Herkunft und Sprache der Kadscharen. Ist Abdolah die Tatsache unangenehm, dass der Iran Jahrhunderte von Nichtpersern beherrscht wurde und diese es waren, die das Persische als Amts- und Literatursprache bis in die Moderne bewahrten? Bei ihm scheint eine von Klischees geprägte Geschichtsbetrachtung mit einem falsch verstandenen Nationalstolz Hand in Hand zu gehen. Der Iran war im 19. Jahrhundert nicht rückständig und schwach, weil die Herrscher Turken waren, sondern weil vor allem ein Faktor zentral gewesen ist: Das Ringen der Briten und Russen um die Vorherrschaft über den Mittleren Osten und Indien, das den Iran wegen seiner geostrategischen Lage zum Spielball machte und so eine Entwicklung ohne Einflussnahme von außen verhinderte.

Titelbild

Kader Abdolah: Der König. Roman.
Aus dem Niederländischen übersetzt von Christiane Kuby.
Ullstein Verlag, Berlin 2013.
396 Seiten, 21,99 EUR.
ISBN-13: 9783550088889

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