Realität oder Traum?

Tzvetan Todorovs „Einführung in die fantastische Literatur“ in einer Neuauflage

Von Kay WolfingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kay Wolfinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass in unserer scheinbar entmystifizierten Welt die Sehnsucht nach einer neuen Verzauberung größer wird, ist eine These, die nicht mehr bewiesen werden muss. Das Verlangen nach dem anderen Zustand, der unsichtbaren Welt und dem Unheimlichen, das in vertrauten Gefilden lauert, befriedigen wir mit zahlreichen Bestsellern und Fantasy-Filmen. Dies ist umso mehr ein Argument dafür, dass der Wagenbach Verlag einen Klassiker der Theorie zur literarischen Fantastik wiederaufgelegt hat. Die „Einführung in die fantastische Literatur“ des bulgarischen Semiotikers und Literaturwissenschaftlers Tzvetan Todorov erschien im Original bereits 1970 und zwei Jahre später in der deutschen Erstausgabe im Carl-Hanser-Verlag. Seitdem wurde das Buch, dessen Methodik deutlich am französischen Strukturalismus geschult ist und auch seine Nähe zum russischen Formalismus nicht verleugnen kann, im Laufe der Jahrzehnte zu einem Grundlagenwerk, sofern man zu den vielen verschiedenen möglichen Definitionen des Fantastischen arbeitet. Dabei reicht das inhaltliche Spektrum von Todorovs Buch von Reflexionen zur Poesie und zur Allegorie bis zum „fantastischen Diskurs“ und zu den Themen des Fantastischen, die er in Ich-Themen als Reflexion zwischen Mensch und Welt und Du-Themen als Auseinandersetzung mit Mensch und Sexualität einteilt. Hilfreich ist, dass sich unter den einzelnen Kapitelüberschriften wiederum jeweils eine kleinteilige Inhaltsangabe findet, die dem Leser die inhaltlichen Abschnitte der einzelnen Kapitel andeutet und so Orientierung und Vorabinformation leistet.

Grundlegend an diesem frühen Buch Todorovs, der in den Folgejahren auch zur Zeichentheorie und zu kulturwissenschaftlichen Fragestellungen publizierte, ist vor allem das erste Drittel zur Definition des Fantastischen, des Unheimlichen und Wunderbaren. Etwas ausgewalzt und wohl nur noch von forschungshistorischem Interesse ist das erste Kapitel „Die literarischen Gattungen“, in dem sich Todorov auf die Tatsache konzentriert, dass der „Ausdruck ‚fantastische Literatur‘ […] sich auf eine Variante der Literatur oder, wie man gewöhnlich sagt, auf eine literarische Gattung“ bezieht. Im Folgenden widmet er sich dieser Frage nach der Gattung des Fantastischen mithilfe des deduktiven Erfahrens; das wissenschaftliche Vorgehen bedeute die Beschreibung eines Phänomens und setze nicht die Beobachtung sämtlicher Einzelmomente voraus. Im Anschluss an seine recht ausführlich geratene Auseinandersetzung mit der Gattungstheorie Northrop Fryes und der Zurückweisung seiner Forschung gelangt Todorov in Bezug auf die Fantastik als Gattung zu ersten Ergebnissen. Insbesondere stellt er drei Aspekte eines literarischen Werkes heraus: den verbalen (auf die konkreten Sätze und den Stil bezogen), den syntaktischen (die Komponiertheit eines Werkes), den semantischen (die Thematik des Werkes). Todorovs Studie ist immer noch dann am interessantesten, wenn er allgemeine Beobachtungen zur Ästhetik und zur Literaturtheorie macht, die nur sekundär mit dem Sujet des Fantastischen zu tun haben. Beispielsweise schreibt Todorov an einer Stelle: „Nun besteht aber die Literatur, wie wir wissen, gerade in der Anstrengung zu sagen, was die gewöhnliche Sprache nicht sagt und nicht sagen kann. Aus diesem Grund neigt die Kritik (die beste) stets dazu, selbst Literatur zu werden. Man kann von dem, was die Literatur macht, nur reden, indem man selbst Literatur macht.“ Insofern ist wahrscheinlich das Literaturwerden dieser Fantastikstudie selbst tatsächlich eine von Todorovs Bestrebungen.

Kernbereich des Buches ist jedoch das Hauptkapitel „Definition des Fantastischen“, in dem Todorov seine Hauptthese setzt, die er in den weiteren Teilen des Buches an verschiedenen Beispielen und unter weiteren Blickwinkeln durchdekliniert. Obwohl seine These zum Wesen des Fantastischen auf den ersten Blick kontraintuitiv scheint, Teile der Literatur ausblendet, von denen man wie selbstverständlich annehmen würde, dass sie zum Bereich des Fantastischen gehören, und sich – zumindest was das Allerweltsverständnis des Terminus ‚Fantastik‘ betrifft – auch nicht durchsetzen konnte, lohnt es, sich auf Todorovs Überlegungen einzulassen, um etwa die Texte Edgar Allan Poes oder Henry James’ The Turn of the Screw zu erschließen. Todorov besteht auf einem Charakteristikum seiner Fantastikdefinition, dass überirdische oder märchenhafte Elemente in einem Text nämlich nicht ausreichten, diesen zu Fantastik zu machen, sondern dass das Wesen des Fantastischen vielmehr in einer Unentschiedenheit in Bezug auf den Realitätsstatus von Ereignissen zu sehen sei, die sich die Figuren eines Textes (und dann auch der Leser) selbst nicht erklären können. Daher proklamiert Todorov:

In einer Welt, die durchaus die unsere ist, die, die wir kennen, eine Welt ohne Teufel, Sylphiden oder Vampire, geschieht ein Ereignis, das sich aus den Gesetzen eben dieser vertrauten Welt nicht erklären läßt. Der, der das Ereignis wahrnimmt, muß sich für eine der zwei möglichen Lösungen entscheiden: entweder handelt es sich um eine Sinnestäuschung, ein Produkt der Einbildungskraft, und die Gesetze der Welt bleiben, was sie sind, oder das Ereignis hat wirklich stattgefunden, ist integrierender Bestandteil der Realität. Dann aber wird diese Realität von Gesetzen beherrscht, die uns unbekannt sind.

Das Fantastische liege im Moment dieser Ungewissheit. Sobald man sich aber für die eine oder die andere Antwort entscheidet, verlasse man das Fantastische. „Das Fantastische ist die Unschlüssigkeit, die ein Mensch empfindet, der nur die natürlichen Gesetze kennt und sich einem Ereignis gegenübersieht, das den Anschein des Übernatürlichen hat.“

Abgegrenzt wird das Fantastische von Todorov sodann vom Unheimlichen und vom Wunderbaren, die beide ganz wesentlich eher zu einer wie selbstverständlich verzauberten Welt gehören. Die von ihm hier in Anschlag gebrachten literarischen Beispiele erstrecken sich auf Guy de Maupassants und Honoré de Balzacs Romane, analysieren auch Matthew Gregory Lewis’ Der Mönch oder Novellen von E.T.A. Hoffmann, die dem deutschen Leser eher vertraut sein dürften.

Das Cover der lohnenden Neuauflage der „Einführung in die fantastische Literatur“ zeigt einen Ausschnitt aus Francisco de Goyas Gemälde Der Behexte wider Willen (1798). Die dort auftretenden magischen Geistererscheinungen erscheinen allerdings in der Ontologie der dargestellten verzauberten Welt intendiert und haben also den Bereich des Fantastischen in Todorovs Sinne bereits verlassen. Zu einer wie auch immer heilsamen oder unheilsamen Remystifikation unserer Welt würde allerdings der Einbruch von Zeichen schon reichen, deren Herkunft aus der Fantasie oder doch aus einer jenseitigen Sphäre wir uns nicht erklären können, und wir wären im Reich des Fantastischen angekommen.

Titelbild

Tzvetan Todorov: Einführung in die fantastische Literatur.
Übersetzt aus dem Französischen von Karin Kersten, Senta Metz und Caroline Neubaur.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2013.
224 Seiten, 11,90 EUR.
ISBN-13: 9783803126986

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