Grenzfall

„Sin Nombre“ – Die Flucht von Zentralamerika in die U.S.A. als schicksalhafte Expedition

Von Nathalie MispagelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nathalie Mispagel

Bunter Herbstwald, ein einsamer Weg zwischen den Bäumen, Stille – Für einen kurzen kostbaren Moment versenkt sich Willy (Edgar Flores) in den Anblick der Phototapete, hängt seinen Gedanken nach, ahnt nicht, dass er so etwas wie den Herbst, ob in der Natur oder als Lebensalter, niemals erleben wird. Dann geht er raus auf die staubigen Straßen von Tapachula, einer mexikanischen Stadt in der Nähe zur Grenze Guatemalas, wo er im Auftrag der ’Mara Salvatrucha’ neue Mitglieder rekrutiert. Als eine der gefährlichsten, streng militärisch organisierten Gangs Zentralamerikas ist sie in schwerste Verbrechen und brutale Bandenkriege verwickelt, erhält gleichwohl rasanten Zulauf von Jugendlichen, weil sie im Gegensatz zu den wirtschaftlich zerrütteten Staatssystemen Schutz, Halt und Sicherheit offeriert. Der 18-jährige Willy, in der Gang El Casper genannt, hat sich bedingungslos den Fängen der Mara ausgeliefert.

Ein Hügel voller Hütten, ärmliche Umgebung, Stillstand – Wenn die junge Sayra (Paulina Gaitan) auf ihr Viertel in Tegucigalpa, Hauptstadt von Honduras, blickt, ahnt sie, dass hier keinerlei Perspektiven auf sie warten. Kürzlich ist ihr Vater nach langen Jahren in den U.S.A., wo er sich ein neues Dasein mit neuer Familie aufgebaut hat, zurückgekehrt, um seine Tochter sowie seinen Bruder zu sich nach New Jersey zu schleusen. Sayra wird mit dem inzwischen für sie fremden Mann gehen, ohne zu wissen, ob sie in den Staaten eine Zukunft finden kann. 

Trip ins Ungewisse

Armut in Zentralamerika sowie restlichem Mexiko und die daraus resultierenden Begleiterscheinungen wie Gewalt, Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung sind Hintergrund für eine sich vom spannenden Gangsterfilm zum menschlichen Drama entwickelnde Story. Weil der soziale Rahmen zwar visuell authentisch, jedoch weder gesellschaftlich noch politisch reflektiert dargestellt ist, tendiert er zur Sozialkulisse, wirkt jedoch nie artifiziell in Szene gesetzt. Auch wenn die Luft weich, die Vegetation üppig und die Friedhöfe idyllisch sind, erscheint der ernüchternd raue Alltag in Mexiko bzw. Honduras ungleich erbarmungsloser als in den U.S.A. Ohnehin verheißt Woanders-Sein für Menschen wie Willy und Sayra immer den diffusen Hoffnungsschimmer eines alternativen Lebens.

Zufall und Gewalt führen die beiden zusammen. Willy, Anführer Lil’ Mago (Tenoch Huerta Mejía) und das jüngste Gangmitglied El Smiley (Kristyan Ferrer) überfallen nahe Tapachula den Zug mit illegalen blinden Passagieren, die sich nach Nordamerika durchschlagen wollen. Als Lil’ Mago Sayra bedroht, wird er von Willy, dessen Freundin er zuvor bei einem Unfall getötet hat, umgebracht. Diese ungeheuerliche Tat geht weit über bloße Rache hinaus; sie macht Willy zu einem Feind der Mara, zu einem besessen gejagten Verräter. Indem er Sayras Leben rettet, verwirkt er sein eigenes. Die Mara vergisst nie. Aber Sayra ebensowenig.

Stundenlang sitzt Willy gleich einer stark tätowierten Gallionsfigur auf dem Zugdach, argwöhnisch von den verunsicherten Flüchtlingen beäugt, die den mit einer Machete bewaffneten Mörder am liebsten vom Waggon werfen würden. Nur Sayra nähert sich ihm mit ernsthaft-vorsichtiger Zuneigung, als würde sie mehr ahnen, als die anderen sehen. Ihr aufrichtiges, unergründliches Vertrauen ist es, das Willy schließlich zum Deserteur seiner bisherigen Existenz macht. 

Spurwechsel

„Sin Nombre“ dringt zur Essenz eines Road-Movies vor. Während die Eisenbahnfahrt durch Mexikos phantastisch weite Landschaften führt, eingefangen von Adriano Goldmans angenehm distanzierter, den touristischen Blick meidenden Kamera, wird sie für Willy zur Reise in die Menschwerdung. Das erfüllt zwar durchaus auch die erzählerischen Genre-Konventionen eines Gangster- oder Fluchtdramas, bricht sie hingegen aufgrund der stimmungsvoll-ambitionierten Regie von Cary Joji Fukunaga (u.a. „Jane Eyre“, 2011; „True Detective, 1. Staffel“, 2014) vielfach wieder auf. Allein die Beziehung zwischen Sayra und Willy versagt sich gängigen Mustern. Nie wechseln sie ein Wort zu viel, nie müssen sie einander erklären, nie liegen sie sich in den Armen. Das ist keine Liebe, das ist mehr. Sayra versteht, ohne gleich wissen zu müssen, Willy wandelt sich, ohne es begründen zu brauchen. Beider Schicksal ist auf stumme Weise verflochten. Ebenso schweigsam folgt ihm Sayra, als Willy heimlich den Zug verlässt, um seine Flucht vor der Mara alleine fortzusetzen.

Dass diese Geschichte glaubwürdig, gar eindringlich wirkt, ist vor allem den beiden wunderbar unprätentiösen Hauptdarstellern zu verdanken. Obendrein weiß die ebenso schnörkellose wie packende Inszenierung den sich gelegentlich in die Narration einschleichenden pathetischen Ton zu unterlaufen. Freilich bleibt bei all dem wenig Raum für eine komplex-fundierte Kritik an den gesellschaftlichen Bedingungen in Zentralamerika und restlichem Mexiko. Aber vielleicht ist es auch ein typisch westlicher Reflex, eine solche in einem regionalen Werk zu erwarten. Ein gewisser sozialrealistischer, tendenziell kritischer Impetus muss dem Film sowieso zugebilligt werden, präsentiert er doch die gnadenlose Gangkultur der Mara mit all ihrer martialischen Symbolik, etwa Ganzkörpertattos, und unerbittlichen Gewaltmaschinerie. Daneben setzt er einen singulären Akzent; er rückt das schuldbeladene Individuum in den Fokus, das vor seiner gewalttätigen Vergangenheit flieht und tatsächlich eine Chance bekommt: nicht auf Zukunft, aber auf Transfer. Dann braucht es für Willy kein Anderswo mehr zur Befreiung; es reicht sein Anderssein im Hier und Jetzt.

Kein Zurück

„Sin Nombre“ zelebriert den Grenzübertritt auf differenzierte Weise, lässt die Erzählebenen dynamisch ineinanderfließen. Nicht nur Willy sucht (Er-)Rettung. Jeder, der sich als illegaler Migrant auf einem Zug in Richtung Norden befindet, ist ein Grenzgänger. Er will das Land, die Identität wechseln, will von nun an auf der richtigen Seite des Lebens stehen. Ungeschönt werden die lebensgefährlichen Strapazen während der Eisenbahnfahrt gezeigt, die sich oft genug als vergeblich erweisen. Selbst wer es an Migrationspolizei und Grenzpatrouillen vorbei in die Staaten schaffen sollte, hat noch lange kein neues Leben erlangt. Was sollte dort drüben schon warten, wer einen erwarten? Auf Willy wartet in Mexiko nur die Mara, und zwar als Exekutionskommando in Gestalt des Kindes El Smiley. Ein Entkommen ist illusorisch, aber wer weiß, vielleicht ist Willy längst eine innere Grenzüberschreitung gelungen.

Bevor Sayra in Honduras zu ihrer schweren Reise aufgebrochen ist, wurde ihr prophezeit, dass sie diese nicht mit Gottes Hilfe, sondern an der Seite des Teufels überstehen würde. Das dürfte ebenso richtig wie falsch formuliert sein und macht deutlich, wie sehr sich Menschen zwischen den Extremen bewegen, wie schnell scheinbar gültige Demarkationslinien überschritten sind. Tatsächlich wird Willy Sayra in die U.S.A. bringen, und auch wenn er selbst zuletzt anonym im Grenzfluss zwischen den Ländern treibt, musste er nicht als ein Niemand sterben. Sayra kennt seinen wirklichen Namen und wer er wahrhaftig war. Mehr hat er möglicherweise nie gewollt. 

„Sin Nombre“ (Mexiko, U.S.A. 2009)
Regie: Cary Joji Fukunaga
Darsteller: Paulina Gaitan, Edgar Flores, Tenoch Huerta Mejía, Kristyan Ferrer
Laufzeit: 91 Min.
Verleih: Prokino
Format: DVD / Blu-ray

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

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