Briefe? – Lassen sich nicht edieren!

Ein Sammelband richtet von Theodor Fontane aus den Blick auf Chancen und Risiken der Briefedition heute

Von Jochen StrobelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Strobel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Theodor Fontane, so liest man im 2007 erschienenen „Fontane-Lexikon“, war „einer der großen Epistolographen“ der deutschen Literatur. Seine Briefe werden von der Forschung seinem Werk zugerechnet; das heißt, dass man ihnen hohe ästhetische Qualität beimisst. Helmuth Nürnberger, dem großen Fontane-Kenner und -Editor, gebührt das Verdienst, auch knapp die Hälfte der überhaupt bekannten Briefe Fontanes – 2.500 von etwa 6.000 – in einer fünfbändigen Ausgabe der denkbar großen Gemeinde erschlossen zu haben. Vorher und seitdem erschienen Einzelbriefwechsel, seit 1988 gibt es bereits ein umfassendes Verzeichnis mit Regesten. Ein sehr großer Teil der Briefe ist inzwischen ediert. Fontane kann also als exemplarisch für die Briefpraxis eines kanonischen Schriftstellers und zugleich für die Geschichte der Briefedition gelten. Für deren Fortsetzung ins 21. Jahrhundert hinein unabdingbar ist die Suche nach einer digitalen ‚Lösung‘. Hier tritt das Potsdamer Theodor-Fontane-Archiv auf den Plan, das die allermeisten der überlieferten, inzwischen einen geschlossenen Bestand ausmachenden Fontane-Briefe besitzt. Das Archiv projektiert eine lange aufgeschobene, aber durchaus notwendige historisch-kritische Briefedition, die künftig als digitale Edition in open access im Netz verfügbar sein soll. Aus diesem Anlass fand 2013 in Potsdam eine Tagung statt, deren wichtigste Beiträge im vorliegenden Band versammelt sind.

Das Thema bringt es mit sich, dass die Leser/innen über Fontanes Briefe weniger erfahren als über deren Überlieferung und (editorische) Zurichtung sowie, davon lediglich ausgehend, über die Kommunikationsform Brief und die Chancen der digitalen Briefedition. Der Titel des im Aufbau etwas zerklüftet wirkenden, aber sehr lesenswerten Bandes führt also ein wenig in die Irre. Tatsächlich enthält er eine ganze Reihe erwägenswerter, hochreflektierter Beiträge zum Thema Briefedition.

Einige brieftheoretische Aufsätze reißen Grundprobleme dieser Kommunikationsform und ihrer Edition an. Insbesondere Konrad Ehlich setzt dem Band mit einer Pragmatik des Briefs ein Glanzlicht auf. Er liest den Brief als eine „geradezu prototypische Form“ der Verdauerung sprachlichen Handelns in der Schriftlichkeit, unter anderem mit seinen typischen Vorzügen wie Formentlastung, Verdinglichung (die eine Nachgeschichte aus multipler Lektüre und Archivierung erst möglich macht) sowie einer Differenzbildung zwischen authentisch, gefälscht und fingiert – inklusive einer besonderen und sehr wirkmächtig gewordenen Option, der Fiktionalisierung. Dass der Korrespondenzcharakter ein „kulturspezifisches Erwartungsmanagement“ einschließt, wissen bis heute alle Nutzer/innen digitaler Nachformen des Briefs – ein Großteil dieser Kommunikation scheint ihm geschuldet zu sein. Zahlreich sind die Eigenschaften, die den Verdacht einer Affinität des Briefs zur Literatur, der er keineswegs per se zugehört, wecken: Adressaten können fingiert, ganze Gruppen adressiert und der Schreibprozess als literarische „Übung“ begriffen und genutzt werden.

Von brieftheoretischem Interesse ist auch Wolfgang Bunzels Aufsatz zur epistolaren Interkonnektivität, der sich einem Beschreibungsmodell für die vielfache ‚Vernetzung‘ von Briefschreiber/innen untereinander zuwendet und unterscheidet zwischen (potenziell ja kaum begrenzbaren und somit auch kaum darstellbaren!) „rhizomatischen Knotennetzen“ sowie den davon zu separierenden, begrenzbaren Familien- und Freundschaftsnetzwerken. Es dürfte freilich Kontingenzen der Überlieferung, aber auch langlebigen Kanonisierungsprozessen geschuldet sein, wenn als ‚Knoten‘ eher Johann W. v. Goethe, Clemens Brentano oder Friedrich Schlegel angenommen werden als etwa umtriebige Briefschreiber wie Karl. A. Böttiger, Friedrich v. Raumer oder Adam Müller. Auf diesem Feld sind in den kommenden Jahren spannende Entdeckungen zu erwarten.

Es folgt eine Bestandsaufnahme der Fontane-Briefeditorik – Nürnberger kommt mit einem sehr autobiographischen Beitrag zu Wort, Eda Sagarra erinnert an Charlotte Jolles. Das Augenmerk richtet sich auf institutionelle Voraussetzungen und Hemmnisse des Edierens, vor allem aufgrund der bald nach dem Tod des Autors einsetzenden briefeditorischen Manipulationen. Eine durch den Erblasser selbst noch eingesetzte Nachlasskommission verantwortete sinnentstellende Texteingriffe bei den recht rasch erscheinenden Briefen des späten Fontane, die schon Thomas Mann rühmte. Diskretion einerseits, eine gewisse Lenkung der Leser auf zuspitzende und ‚interessante‘ Stellen andererseits dürften die dahinterstehenden Motive gewesen sein. Ob der von Uta Beyer für diese Praxis reklamierte Palimpsest-Begriff stichhaltig ist, steht auf einem anderen Blatt; vergleichbare Verfahrensweisen waren im 19. und frühen 20. Jahrhundert aber gang und gäbe – und dürften vom Lesepublikum auch in etwa so in Kauf genommen worden sein. Beyer spricht von einer durch den Nachlassverwalter „vollstreckten Briefautorschaft“.

Ohne das seit etwa zwanzig Jahren zunehmend fokussierte Paradigma der Materialität kommt die Briefforschung, wie es scheint, nicht mehr aus. Lothar Müller, Autor einer ausgezeichneten Geschichte des Papiers, befasst sich mit dem Briefpapier.

Thorsten Gabler liest Fontane-Briefe als Produkte von „Schreibszenen“ (Rüdiger Campe) und äußert die beherzigenswerte These, dass Fontane die von seinen Briefen als Gaben und Gegenständen bei den Adressat/innen hervorgerufene sinnliche Wahrnehmung selbst steuerte. Anhand von Leerflächen, geometrisch gelesener Zeichenensembles, anhand der Beschreibdichte und des Wechsels der Schreibrichtung, die qua Wechsel der Leserichtung den Brief zum „Rotationskörper“ in den Händen der Adressatin machte, weist Gabler überzeugend eine je doppelte, sprachliche sowie schrift- und briefkörperliche, Codierung nach. Seine Schlussfolgerung, aufgrund ihres materialitätsinduzierten Bedeutungspotenzials seien Briefe nicht edierbar, ist logisch gewiss haltbar, pragmatisch gewiss nicht. Allerdings muss im Zeitalter des digitalen Edierens immer wieder neu über Verfahren der Briefedition nachgedacht werden, die eine weitgehende Annäherung des edierten Textes oder besser: Objektes an das Original erzielen.

Schließlich wird doch eine Lanze für das digitale Edieren von Briefen gebrochen, zugleich aber auf damit verbundene Probleme hingewiesen. Angesichts der wie Pilze aus dem Boden schießenden, sich technisch aber stets unterscheidenden digitalen Editionsprojekten erörtert Peter Stadler die Problematik der Interoperabilität: Projektdaten sollten auch in einer neuen (oder einer Meta-) Projektumgebung verwendbar sein, ohne dass große Anpassungsleistungen erfolgen müssen. Das von Stadler mitgetragene, von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften verantwortete Projekt „Correspsearch“ versucht erstmals erfolgreich, die Metadaten unterschiedlicher digitaler Briefeditionsprojekte zusammenzuführen. Um Interoperabilität zu gewährleisten, sollte ein weitgehender Auszeichnungsstandard (der derzeit in der TEI Special Interest Group „Correspondence“ erarbeitet wird) erreicht, Normdaten verwendet und besonders auf tiefe Auszeichnung verzichtet werden. Das sind in der Tat Gebote, die sich Briefeditor/innen ins Stammbuch schreiben sollten.

Daniel Hochstrasser hat seine „Anforderungen an digitale Briefeditionen“ – so der Titel seines Aufsatzes – auf induktivem Weg gewonnen, indem er Daten bei schon existenten Editionen einholte. Hier kann man vieles nachlesen, was Patrick Sahle in seinem Standardwerk zur digitalen Edition bereits ausgeführt hatte. Unbedingt zukunftsträchtig und gut für neue Erkenntnisse sind wiederum die Verwendung von (XML-codierten) Normdaten, die Visualisierung von Netzwerken und Orten, differenzierte Suchmöglichkeiten (die früher oder später zu Data mining an großen Briefkorpora führen werden), Verlinkungen und Interaktivität. Chancen digitalen Edierens sind die Versionierung freigeschalteter Daten und die Verpflichtung zur Angabe des jeweiligen Status.

Dies alles geht weit über Fontane hinaus, und gern erführe man mehr über das Editionsprojekt des Fontane-Archivs. Doch auch ohne diese Informationen zeugt der Sammelband von den derzeit steil anwachsenden Aktivitäten auf dem Gebiet der Briefedition.

Titelbild

Hanna Delf von Wolzogen / Rainer Falk (Hg.): Fontanes Briefe ediert. Internationale wissenschaftliche Tagung des Theodor-Fontane-Archivs Potsdam, 18. bis 20. September 2013.
Fontaneana Bd. 12.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2014.
322 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783826055317

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