Ich arbeite gern in der Notaufnahme

Lucia Berlin erkundet existentielle Grenzbereiche im Erzählungsband „Was ich sonst noch verpasst habe“

Von Johannes GroschupfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Groschupf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als im Sommer 2015 Lucia Berlins ausgewählte Erzählungen in A Manual For Cleaning Women erschienen, war die amerikanische Kritik über die Wiederentdeckung hellauf begeistert. „Lucia Berlin ist sicher die beste amerikanische Schriftstellerin, von der Sie bisher noch nie etwas gehört haben“, hieß es im „Publishers Weekly“. In der „New York Times“ schrieb John Williams: „Die Wiederentdeckung des Werks von Lucia Berlin, etwas mehr als ein Jahrzehnt nach ihrem Tod, gleicht weniger einem archäologischen Fund als einem strahlenden Licht, das, etwas verspätet, nun unsere Gegenwart erhellt.“

Jetzt legt der Arche Verlag mit Was ich sonst noch verpasst habe eine Auswahl der Auswahl vor. Immerhin 30 der 43 Erzählungen aus A Manual sind von Antje Rávic Strubel, die auch Joan Didion übersetzt hat, ins Deutsche übertragen worden. 

Ja, Lucia Berlin ist eine Entdeckung. Einige ihrer Erzählungen sind wirklich großartig. Ruppig, präzise, von kühner Schönheit und einem harten Humor. Berlin kennt sich aus mit ihren Motiven und Schauplätzen: Drogenschmuggel, Scheidung, Alkoholkrankheit, erster Entzug; Putzfrauendasein, Waschsalonlangeweile und Notaufnahmestress.

Sie berichtet aus dem low life einer Trinkerin, die morgens um vier wach wird und kurz vor dem Delirium tremens steht. „In der tiefen dunklen Nacht der Seele sind die Spirituosenläden und Bars geschlossen. Sie griff unter die Matratze; die Viertelliterflasche Wodka war leer.“ Die Story erzählt nicht mehr als den Gang durch die Nacht zum Schnapsladen, der um sechs Uhr öffnet, und wieder nach Hause, ehe die Söhne aufwachen. Und doch taucht man als Leser tief in die Verzweiflung, Scham und sture Selbstzerstörung einer Trinkerin ein.

Die stärksten Erzählungen neben den Suchtnotaten sind ihre Berichte aus der Arbeitswelt. Lucia Berlin hat gern in Grenzbereichen gearbeitet. Sie kennt sich aus in den Niederungen und reagiert als Autorin auch stilistisch darauf. Wenn es hart auf hart kommt, kann eine Story nicht mehr der Ort des wohligen Erzählens, der eleganten Sätze sein.

In Notaufnahme-Notizbuch, 1977 wird mit geradezu journalistischer Präzision der Krankenhausalltag skizziert: „Angst, Armut, Alkoholismus und Einsamkeit sind tödliche Krankheiten. Also Notfälle.“ Der Text öffnet sich zur Collage aus Sanitäter-Funkverkehr, Kollegensprüchen („Nimm’s mit Tumor“), Fallbeschreibungen, Kurzdiagnosen, Charakterskizzen von Selbstmördern, Trinkern und Unfallopfern. Dazwischen ein literarischer Satz, der das ganze Elend älterer Patientinnen umfasst: „Wenn ihre Handtaschen nicht längst gestohlen sind, dann scheinen alte Frauen nichts weiter darin zu haben als Unterkiefergebisse, den Fahrplan des 51er-Busses und ein Adressbuch, in dem keine Nachnamen stehen.“

Ebenso erfahrungssatt und literarisch gekonnt ist die Story Handbuch für Putzfrauen, in der Berlin auf ihre Jahre als Putzhilfe in fremden Häusern zurückblickt und eine großartige Innansicht dieses Jobs gibt. „Das Einzige, was ich tatsächlich stehle, sind Schlaftabletten, falls einer dieser dunklen Tage kommt.“ Staubsaugen, Fensterputzen, Puzzleteile suchen für eine ältere Dame, die um ihren Mann trauert. Berlin kombiniert das mit Hinweisen für etwaige Kolleginnen: Nie für Psychiater arbeiten, nie für Freunde, nie in einem Haushalt mit Vorschulkindern. „Putzfrauen: Ihr werdet einer Menge emanzipierter Frauen begegnen. Das erste Stadium ist eine Selbsterfahrungsgruppe, das zweite Stadium eine Putzfrau, das dritte die Scheidung.“ 

Die Erzählungen sind zu einem großen Teil deutlich autobiografisch. Lucia Berlin schreibt – oft als Ich-Erzählerin – von dem, was sie erlebt hat. Vermutlich macht das die Zuneigung ihrer Bewunderer aus. Sie wird für ihre stoische Überlebenskunst gefeiert, zumal ihr ein entsprechend harter, bisweilen sarkastischer Humor eigen ist.

Ihr Leben war reich an Unglücken, Misshandlungen, Trennungen, Katastrophen. Sie wurde 1936 in Alaska als Lucia Brown geboren und ist unstet aufgewachsen: „Mein Leben begann ruhig, ich wohnte in Bergbaustädten und zog zu oft um, um Freunde zu haben.“ Einige Jahre ihrer Jugend hat sie (ihr Vater war Bergbauingenieur) in Chile gelebt, danach fast überall im Westen der USA. Auch hier der scharfe Blick einer Trinkerin: „Die beste Stadt ist Albuquerque, wo die Spirituosenläden Drive-through-Fenster haben, sodass man nicht einmal den Pyjama ausziehen muss.“ Mit Anfang 30 hatte sie bereits die dritte Scheidung (den Nachnamen Berlin hatte sie von ihrem dritten Mann, dem Jazz-Musiker Buddy Berlin) hinter sich und vier Söhne, die sie allein aufzog, vornehmlich in Oakland in Nordkalifornien. Sie hielt sich mit prekären Jobs über Wasser und schrieb nebenher.

Zu Lebzeiten veröffentlichte Berlin 77 Erzählungen in sechs Bänden, die später in der Black Sparrow Press nochmals gesammelt veröffentlicht wurden. Der literarische Erfolg war indes gering; 1991 bekam sie für den Sammelband Homesick den American Book Award. In den letzten zehn Jahren ihres Lebens kam Berlin vom Trinken los; sie unterrichtete Kreatives Schreiben an der Universität von Boulder, Colorado, und wurde für ihr Wirken dort ausgezeichnet. „Zum ersten Mal lebe ich an einem Ort, wo es nicht an jeder Ecke einen Spirituosenladen gibt.“

Zeitlebens litt Berlin an einer Verkrümmung der Wirbelsäule, die sie als Kind zwang, ein eisernes Korsett zu tragen; im Alter war sie auf Atemgeräte angewiesen. Deshalb verbrachte sie die letzten beiden Jahre in Los Angeles, wo sie an ihrem 68. Geburtstag starb.

Ihr postumer Ruhm setzte im Sommer 2015 ein, als die neue Zusammenstellung ihrer besten Stories erschien und die amerikanischen Bestsellerlisten eroberte. Schön, dass der Arche Verlag so rasch reagiert hat und nun zumindest eine gekürzte Ausgabe auf Deutsch vorlegt. Der deutsche Titel ist allerdings rätselhaft: Der Satz Was ich sonst noch verpasst habe taucht nirgends in den Stories auf und entspricht auch nicht der Haltung der Erzählerin.

Die Übersetzung von Antje Rávic Strubel ist über weite Strecken gelungen, sie trifft den wilden, ruppigen, staccatoartigen und oft unvermittelt poetischen Ton von Berlin. Gelegentlich greift sie aber auch daneben: „Wir hoffen, ihr zwei habt bombige Outfits für die Party morgen“. So redet kein Mensch außerhalb einer Vorabendserie. Und auch von „Spriti“ als Selbstbezeichnung haben jedenfalls die in Berlin ansässigen Alkoholiker, wie eine Kurzumfrage ergibt, noch nie gehört (zumal das Original selbst das geläufige „alkie“ nennt).

In ihrem Vorwort betont Rávic Strubel den besonderen Humor der Erzählerin. „Das Absurde in der Verzweiflung zu sehen, im Schrecklichen den Witz, darin ist Lucia Berlin einzigartig.“ Sie stellt die Autorin in eine Reihe mit Carson McCullers, William Faulkner und Joan Didion, mit Anton Cechov und Charles Baudelaire; das ist der Ehre etwas zu viel. Auf jeden Fall aber verdanken wir Lucia Berlin eine präzise und überaus literarische Erkundung des Überlebenskampfes einer alleinerziehenden Mutter, Trinkerin, Putzfrau und Schriftstellerin, die nun auch auf Deutsch zu lesen ist.

Titelbild

Lucia Berlin: Was ich sonst noch verpasst habe. Stories.
Übersetzt aus dem amerikanischem Englisch von Antje Rávic Strubel.
Arche Verlag, Hamburg 2016.
384 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783716027424

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