Schlagworte: Werk – Weltbild – Willkür

Das neue Handbuch zu E.T.A. Hoffmann bietet wenig Neues

Von Sabine HauptRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Haupt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Literaturwissenschaftliche Handbücher haben drei Funktion: Sie dienen erstens der Einführung in ein zentrales wissenschaftliches Gebiet, sie gliedern zweitens eine komplexe Materie in sinnvolle und übersichtliche Einheiten, und sie geben drittens einen umfassenden Überblick über Forschungsstand und Forschungsgeschichte. Das von Christine Lubkoll und Harald Neumeyer bei Metzler herausgegebene neue E.T.A. Hoffmann-Handbuch erfüllt die erste Aufgabe rundum, die zweite im Wesentlichen, die dritte leider nur partiell.

Es ist gewiss das große Verdienst dieser neuen Publikation zu einem Werk der Weltliteratur, dessen ästhetische und inhaltliche Komplexität sich auch in der Vielzahl seiner wissenschaftlichen Rezeptionen widerspiegelt, hier erstmals den Versuch einer vollständigen und repräsentativen Darstellung zu wagen. In diesem Anspruch liegt auch der entscheidende Vorteil gegenüber anderen Hoffmann-Handbüchern wie dem vor 30 Jahren von Brigitte Feldges und Ulrich Stadler bei C.H. Beck herausgegebenen ersten Hoffmann-Handbuch mit dem bereits nahezu gleichlautenden Titel: „E.T.A. Hoffmann. Epoche – Werk – Wirkung“ sowie dem von Detlef Kremer vor sechs Jahren bei de Gruyter verlegten „E.T.A. Hoffmann. Leben – Werk – Wirkung“. Während Feldges/Stadler sich damals auf die umfangreiche Darstellung von nur elf Werken beziehungsweise Werkkomplexen konzentrierten, die durch einige Kontextkapitel sowie Überlegungen zur speziellen Poetik Hoffmanns ergänzt wurden, und Kremer in über 30 Einzelkapiteln zu allen wichtigen Werken sowie umfangreichen Kontextkapiteln über die „literarischen und diskursiven Voraussetzungen“ (mit Kapiteln zur frühromantischen Poetik, zur romantischen Psychologie, Natur- und Sprachphilosophie et cetera.) gewisse Schwerpunktsetzungen vornimmt, erstreckt sich der Gegenstandsbereich des neuen Handbuchs auf das Gesamtwerk E.T.A. Hoffmanns. Was dieses jedoch wissenschaftlich und konzeptuell von seinen Vorläufern unterscheidet, erklären die Herausgeber ihren Lesern nicht. Im Gegenteil: Der gleichlautende Titel sowie die Übernahme gewisser Strukturen, wie zum Beispiel die Darstellung „systematischer Aspekte“ in einer gesonderten Abteilung, deuten auf eine enge Anlehnung an die älteren Handbücher hin.

Bereits der von Feldges/Stadler beziehungsweise Kremer übernommene (und an bekannte geistesgeschichtliche Muster angelehnte) Untertitel „Leben – Werk – Wirkung“ ist schlicht irreführend. Denn über das hochinteressante und äußerst bewegte Leben des romantischen Schriftstellers, Juristen, Kapellmeisters und Künstlers Ernst Theodor Amadeus Hoffmann (1776 – 1822) erfahren wir auf den wenigen einleitenden Seiten zur Biografie nur das Nötigste. Doch ist dieses Manko nicht wirklich gravierend, da es inzwischen ja mehrere gute und sehr ausführliche Biografien über Hoffmann gibt. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint die Beschränkung auf eine biographische Übersicht sogar als kluge Entscheidung, die es dennoch gestattet, gewisse Akzentuierungen vorzunehmen. Christine Lubkoll tut dies, indem sie die wirtschaftlichen und sozialen Umstände beleuchtet und E.T.A. Hoffmann als einen in jeder Hinsicht couragierten Zeitgenossen darstellt. Dennoch hätte man an dieser Stelle auf gewisse blinde Flecken in der Hoffmannbiografie, die unter anderem seinen Aufenthalt in Polen betreffen, hinweisen können (vgl. das den Herausgebern des Handbuchs offenbar noch unbekannte Buch von Peter Lachmann: „DurchFlug“, Potsdam 2011).

Das 453 Seiten starke Handbuch ist unterteilt in vier große Kapitel, in denen erstens auf jeweils drei bis acht Seiten die einzelnen Werke vorgestellt werden (Entstehungskontext, Inhalt, Struktur, Rezeption, et cetera), zweitens und drittens gewisse mit Hoffmann in Verbindung stehende (von den Herausgebern seltsamerweise „Schlagworte“ und nicht „Schlagwörter“ genannte) Themencluster aus „Kultur und Wissenschaft“ beziehungsweise „Ästhetik und Poetik“ erörtert werden, um viertens, in einem letzten, kürzeren Kapitel, spezielle Fragen der Rezeptionsgeschichte vorzustellen. Der Aufbau der jeweiligen Artikel ist zwar weitgehend homogen, bei fast 60 verschiedenen AutorInnen überrascht es jedoch nicht, dass die Qualität der Einzeldarstellungen erheblich variiert (zum Vergleich: an dem von Detlef Kremer herausgegeben Handbuch waren 30 Autoren beteiligt). Auch die (höchst selektive!) Gesamtbibliografie des Bandes und die in den Einzelbeiträgen weitgehend einheitlich verwendete Forschungsliteratur kann dabei nicht darüber hinwegtäuschen, dass es hier – vor allem bei der Gewichtung der jeweiligen Aspekte und Horizonte – doch gravierende Unterschiede gibt. Als herausragend ist die geradezu mustergültige Darstellung des hinsichtlich seiner poetologischen Relevanz so bedeutsamen Romans „Lebensansichten des Katers Murr“ durch die Bochumer Komparatistin Monika Schmitz-Emans zu nennen. Allein schon die grandios klare Zusammenfassung der überaus verwickelten Romanhandlung ist eine Glanzleistung synoptischer Schreibweisen. Hinzu kommen eine vollständige Zusammenstellung der wesentlichen stilistischen und poetologischen Besonderheiten des Werkes sowie eine ebenso vollständige Übersicht über die hier ganz zentralen intertextuellen Vernetzungen. Als Zugabe erhält die Leserschaft eine völlig neue, in dieser Form meines Wissens bisher noch nicht diskutierte Interpretation des Romans von 1821. Dieser nämlich sei, so Schmitz-Emans, als selbstreflexives „Pastiche aus typischen Figuren und Motiven“ des Autors zu lesen, also gewissermaßen als mise en abyme seines Gesamtwerks.

Auch die anderen 15 Unterkapitel bieten gute und dem derzeitigen Forschungsstand weitgehend entsprechende Einführungen in über 70 Werke. Der bisweilen etwas vage bis zweifelhafte Gebrauch von Zuweisungen wie „Moderne“ oder „Spätaufklärung“, allzu forciert konstruierte Antagonismen zu anderen Romantikern, zum Beispiel zu Jean Paul, und andere Kleinigkeiten trüben bisweilen den Gesamteindruck, auch fragt man sich bei so mancher Textanalyse, beispielsweise über Hoffmanns Bemerkungen zu Ja[c]ques Callot, ob dieses oder jenes Detail tatsächlich in ein Handbuch gehört, doch sind die meisten Werk-Kapitel ganz gewiss ein Gewinn für die Hoffmann-Literatur, insbesondere, wenn sie so gut informiert und durchdacht, klar strukturiert und gut lesbar sind wie das bereits erwähnte Kapitel über die Lebens-Ansichten des Katers Murr oder wie die Kapitel über Hoffmanns Kreisleriana (Nicola Gess), über Die Jesuiterkirche in G. (Sabine Schneider), Klein Zaches genannt Zinnober (Volker C. Dörr), Der Artushof (Christian Begemann), Der unheimliche Gast, Das Fräulein von Scuderi (beide: Antonia Eder), Vampyrismus (Claudia Barnickel), Die Königsbraut (Günter Oesterle) oder Meister Floh (Aura Heydenreich).

Doch ließe sich vieles auch anders gewichten. So referiert der Artikel über Der goldene Topf zwar recht ausführlich die intertextuellen Beziehungen zur italienischen Märchentradition, erwähnt hingegen Novalis und die hermetische Tradition nur en passant. Es ist überhaupt erstaunlich, wie wenig sich die einzelnen Autoren für den okkultistisch-naturphilosophischen Kontext und die großen Geheimlehren interessieren, die für E.T.A. Hoffmann doch so zentral waren. Den Namen Emanuel Swedenborg zum Beispiel sucht man vergeblich im Personenregister des Bandes. An diesem grundsätzlichen Eindruck ändert auch der Beitrag von Harald Neumeyer zum Thema „Arkanwissenschaften“ nichts, in dem zwar die wichtigsten Textstellen und Deutungsaspekte zusammengefasst werden, der jedoch gerade auch hinsichtlich des macht- und rationalitätskritischen Impetus der Hoffmannschen Anverwandlungen im wissens- und ideengeschichtlichen Kontext um 1800, in dem eine – im heutigen Sinne – trennscharfe Ausdifferenzierung von Naturphilosophie und Naturwissenschaft noch nicht vollständig vollzogen war, eine zu einseitige Gewichtung vornimmt, wenn er behauptet: „Die Kenntnisse, Verfahren und Ziele der Geheimwissenschaften werden in Hoffmanns Texten massiv in Frage gestellt […] Ihre Fähigkeiten und Leistungen beruhen entweder auf einer unbeabsichtigten Täuschung oder auf einer gezielten Irreführung.“ Hier liegt meines Erachtens ein ganz grundsätzliches Missverständnis vor. So bereitwillig man Neumeyer folgt bei seiner Skizze einer Ästhetisierung der „Arkanwissenschaften“, so bleibt doch festzuhalten, dass sich Hoffmanns Texte auch an diesem Punkt ganz fundamental von der Gothic novel und der Gespenstergeschichte der Aufklärung unterscheiden. Denn eine Leistung der Hoffmannschen Beschäftigung mit ,nicht-hegemonialen Wissensformen‘ ist ja gerade die Herstellung literarischer und erkenntnistheoretischer Ambivalenz. Wie nach ihm bei Edgar Allan Poe oder Guy de Maupassant geht es auch bei Hoffmann um eine Art literarische Versuchsanordnung, in der okkulte Phänomene und Diskurse getestet und diskutiert werden. Um ein Beispiel zu nennen: Selbst in einer scheinbar klar Mesmerismus-kritischen Erzählung wie Der Magnetiseur sorgt letztlich die Verschachtelung der Erzählperspektiven für finale Uneindeutigkeit.

Doch es lassen sich noch weitere Kritikpunkte dieses ersten und umfangreichsten Kapitels anführen. Hier eine kleine Auswahl:

1. Bei der gattungstheoretischen Einordnung des ersten Hoffmann-Romans Die Elixiere des Teufels erfährt das (parodistische) Spiel mit den Topoi und Stereotypen des nach 1800 stark verbreiteten ,Schicksalsromans‘ beziehungsweise der ,Schicksalstragödie‘ keinerlei Beachtung.
2. Bei der Zusammenfassung der überaus komplexen Rezeptionsgeschichte des Nachtstücks Der Sandmann erfährt man zwar alles Mögliche über diverse TV- und Spielfilm-Produktionen der letzten 20 Jahre, doch so gut wie nichts über die so wichtige Rezeption zentraler Motive in der französischen und russischen Spätromantik. Die Darstellung der Forschungslage ist leider nicht auf dem neuesten Stand, Studien aus dem kognitionswissenschaftlichen Bereich bleiben unberücksichtigt (vgl. etwa Peter Tepe et al., 2009). Auch Meilensteine der Interpretationsgeschichte, unter anderem die psychoanalytischen respektive ideengeschichtlichen Ansätze von Peter Von Matt, Hartmut Böhme und Manfred Frank aus den 1970er-Jahren fallen völlig unter den Tisch, dafür aber findet Tzvetan Todorovs „Einführung in die fantastische Literatur“ Erwähnung, dies jedoch, ohne den Text unter den Todorovschen Vorgaben zu diskutieren. Der enttäuschende Eindruck verstärkt sich noch, wenn man den Artikel mit den entsprechenden Passagen in den älteren Handbüchern vergleicht, insbesondere mit dem von Ulrich Stadler verfassten Sandmann-Artikel von 1986.
3. Bei der Interpretation von Prinzessin Brambilla fehlen explizite Verweise auf die (hier ganz zentrale!) Geschichtsphilosophie der Frühromantik, bei der serapionistischen Erzählung Die Automate dagegen Hinweise auf sozialhistorische Interpretationen, die sich mit dem (hier ganz zentralen!) Umfeld der Automatisierung und Industrialisierung im frühen 19. Jahrhundert befassen und Hoffmanns Auseinandersetzung mit dem technischen Pygmalionismus in den anthropologischen und politischen Zusammenhang einer Fragilisierung der Arbeitswelt stellen. Ein Manko, das auch im späteren Sachkapitel zum Thema „Automaten/Künstliche Menschen“ nicht behoben wird.
4. Während manches nur ein wenig subjektiv bis skurril anmutet, beispielsweise die Forderung, das satirische Fantasiestück Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza im „Lichte bürgerlicher Haustierhaltung“ und aus der Perspektive der „Animal Studies“ zu lesen, (eine These, die in einem eigenen Kapitel über „Tiere“ und den „Animal turn in der Literaturwissenschaft“ dann später nochmals wiederholt wird), fällt auch in einigen anderen Kapiteln auf, dass die ohnehin etwas knapp referierten Entwicklungen und Ergebnisse der Forschungsliteratur oftmals pointierter und weniger beliebig hätten ausfallen können.
5. Bei der Interpretation der späten Erzählung Des Vetters Eckfenster wäre es meines Erachtens produktiver gewesen, die wahrnehmungspsychologischen Diskurse der Zeit zu berücksichtigen, als aus einer abstrakten literaturhistorischen Perspektive lang und breit die Frage zu diskutieren, ob der Text noch zur Romantik oder schon zum Realismus gehört.

In erfreulich breitem Umfang werden auch Hoffmanns Briefe und Tagebücher, seine Rezensionen und juristischen Schriften berücksichtigt, insbesondere sein Gutachten im Fall Schmolling, aus dem sich auch interessante Schlüsse auf sein Verständnis der zeitgenössischen Psychiatrie ziehen lassen. Leider fehlt in diesem Zusammenhang der Hinweis auf den grundlegenden Aufsatz von Wulf Segebrecht aus dem Jahr 1967.

Während das erste Kapitel mit seinem klar strukturierten, chronologischen Aufbau, seinen zahlreichen exzellenten Übersichtsdarstellungen nur an einigen Stellen wirklich ergänzungs- und korrekturbedürftig ist, erweisen sich die beiden folgenden Kapitel „Kultur und Wissenschaft“ beziehungsweise „Ästhetik und Poetik“ als teilweise problematisch. Dies betrifft weniger die meist völlig korrekte Darstellung der kontextuellen oder poetologischen Zusammenhänge als vielmehr Auswahl und Struktur der ausgewählten Themen respektive „Schlagworte“. Während wissens- und kulturhistorische Einzeldarstellungen zu Gebieten wie „Elektrizität“, „Künstlerische Geselligkeit“, „Optik“, „Magnetismus“ oder „Wahnsinn“ beziehungsweise „Aisthesis“, „Arabeske/Groteske/Satire“, „Bild/Gemälde“, „Humor/Ironie/Komik“ oder „Zeichen/Schrift“ durchaus Sinn ergeben und dabei weitgehend den aktuellen Forschungsstand reflektieren, fragt man sich bei anderen – in der Struktur des Buches als gleichwertig (!) eingeordneten – Schwerpunkten, ob hier die offenbar intendierte „flache“ Themenhierarchie des Buches nicht überstrapaziert wird. Vergleicht man diese beliebigen „Schlagworte“ mit der in Detlef Kremers Handbuch „systematische Aspekte“ genannten Auswahl (wie: ,Arabeske‘, ,Automaten‘, ,Doppelgänger‘, ,Fragment‘, ,Wahnsinn‘, ,Serapiontik‘, ,Magnetismus‘, ,Phantastik‘, ,Wiederholung‘), wird die Willkür der Selektion noch augenfälliger. Braucht es tatsächlich ein eigenes Kapitel über „Berlin“, in dem weitgehend Biografisches erzählt wird, über „Geld“, in dem die spannendste Publikation zu den politischen und philosophischen Bezügen des Themas, nämlich Manfred Franks Aufsatz „Steinherz und Geldseele“ fehlt? Braucht es ein eigenes Unterkapitel über „Architekturen/Topographien“, in dem mehrfach zugegeben wird, dass Hoffmann sich zwar mit architektonischen Fragen gar nicht beschäftigt hat, was aber weiter kein Hindernis zu sein scheint, die eigene projektive Hermeneutik in geradezu selbstparodistische Auslegungen gipfeln zu lassen, wenn zum Beispiel „das Gitterwerk der Gartenlaube“ zur poetologischen Allegorie für „die durchbrochene Arbeit des Erzählens, in der sich zwei Erzählperspektiven durchkreuzen“, mutiert, oder Analogien zwischen typografischen „Gedankenstrichen“ und architektonischen „Gitterstäben“ hergestellt werden? Erstaunlicherweise geraten Topographien wie die Ruine des gespaltenen Majorats oder die Analogie zwischen der (optisch verzerrenden) Turmperspektive und dem magischen Taschenperspektiv in Der Sandmann bei diesen Spekulationen nicht einmal in den Blick.

Die meisten Kapitel sind jedoch von begrüßenswerter gedanklicher Klarheit, dies gilt insbesondere für die Kapitel „Optik“ (Aura Heydenreich), „Aisthesis“ (Sabine Schneider), „Arabeske und Groteske“ (Günter Oesterle), „Humor/Ironie/Komik“ (Johannes F. Lehmann), „Zeichen/Schrift/Partitur“ (Sigrid Nieberle) und  „Bild/Gemälde/Zeichnung“ (Bettina Brandl-Risi), in dem auch höchst taugliche Hinweise auf Forschungsdesiderate zum Bereich ,Bildmagie‘ respektive ,Bildperformanz‘ gegeben werden. Bei anderen wichtigen Kapiteln fallen zwar kleinere Mängel auf, zum Beispiel:

– im Kapitel über „Magnetismus“ das Übergehen eines so zentralen Texts wie Lebensansichten des Katers Murr,
in den beiden Kapiteln „Recht/Gerichtsverfahren“ und „Verbrecher/Verbrechen“ die Nichtberücksichtigung der Publikationen von Wulf Segebrecht und Georg Reuchlein,
– in den Kapiteln zur Serapionistik die fehlenden Hinweise auf neueste Publikationen (z.B. auf Petra Zaus In Leonardos Manier von 2012),
– im Kapitel über die „Ästhetik des Schreckens / Das Unheimliche“ das Fehlen des ideen- und philosophiegeschichtlichen Kontextes des englischen Sensualismus mit seinem Konzept des „delightful Horror“,
– im Kapitel „Wahnsinn“ das Desinteresse an den französischen Quellen wie Philippe Pinels für Hoffmann ganz zentraler Abhandlung über die „Aliénation mentale“ von 1801 sowie die für diesen Bereich erste und grundlegende, im ganzen Band jedoch nirgends erwähnte Studie Les Sources du merveilleux chez E.T.A. Hoffmann (1912) von Paul Sucher.

Insgesamt aber sind die meisten Artikel informativ, gut geschrieben und entsprechen weitgehend dem Stand der Forschung. Stellenweise hätte man sich zwar gewisse Differenzierungen gewünscht (beispielsweise den nicht unwichtigen Hinweis darauf, dass Hoffmann sich bei seinen Kenntnissen über den Magnetismus weniger auf Franz Anton Mesmer denn auf Armand Marie Jacques de Chastenet de Puységur beruft und damit den magnetischen ,Rapport‘ also als hypnotisch-suggestive und telepathischen Kraft versteht), sowie etwas mehr Einblick in die Forschungsgeschichte und in kontroverse Forschungsdiskussionen. Doch sind solche Anliegen bei der breiten Konzeption des Bandes und dem notwendig begrenzten Umfang der Einzelartikel vermutlich nur schwer zu befriedigen.

Zwei grundsätzliche Einwände seien an dieser Stelle jedoch vermerkt: Trotz des dezidiert kultur- und wissenshistorischen Ansatzes gelingt es an vielen Stellen leider nicht, plausibel zu machen und am konkreten Textbeispiel zu illustrieren, worin die ganz besondere poetologische Leistung des Hoffmannschen Œuvres besteht. Diese nämlich liegt – und darauf wird leider nicht in gebührendem Maße hingewiesen – in der Erschließung zeitgenössischer Diskurse und wissenschaftlicher Kontexte zu ästhetischen und poetischen Zwecken. Dieses Manko lässt sich besonders klar an dem ansonsten durchaus informativen Artikel von Maximilian Bergengruen über das Themenfeld des „Wahnsinns“ beobachten. Bergengruen skizziert hier zwar den psychiatriehistorischen Kontext, nennt die wichtigsten Publikationen und biografischen Berührungspunkte Hoffmanns mit der zeitgenössischen Medizin, konzentriert sich sodann aber ganz auf die Inhaltsebene der Texte beziehungsweise auf die bei Hoffmann dargestellten „wahnsinnigen“ Figuren. Solche Analysen sind zwar gut und schön, doch verfehlen sie das Spezifikum von Hoffmanns Ansatz. Die poetische Anverwandlung der neuen nosologisch-symptomologischen Ansätze hat nämlich nicht nur Auswirkungen auf die Gestaltung der Figuren und Handlungen, sie hat auch direkte ästhetische Konsequenzen. Bergengruen erwähnt zwar en passant, dass Hoffmann „auf diesem Weg literarische Modelle für sein eigenes Schreiben generiert“, welche das aber sind und wie sie funktionieren, erfährt man nicht. Dabei sind wir hier an einer der wichtigsten, spannendsten und wirkmächtigsten Schaltstellen der Hoffmannschen Poetologie. Wie sich aus Magnetismus und Somnambulismus, Traum- und Natursprache im Verlauf des 19. Jahrhunderts eine Poesie des Unbewussten und der Phantastik herausbildet, wie sich aus monomanisch-magischen Fixierungen, konkret: aus Johann Christian Reils „idée fixe“ und Philippe Pinels „frénésie“ eine literarische und musikalische Leitmotivtechnik entwickelt, wie sich aus dem Faszinosum des Wahns Umwertungen ergeben, die maßgeblich den französischen Symbolismus und die gesamte Dekadenzdichtung des Fin de Siècle beeinflussen, kurz: wie der Wahnsinn zur poetischen Produktivkraft wird  – das sind Entwicklungen, die hier bei E.T.A. Hoffmann beginnen und die es zu verstehen gilt. Meine Bemerkungen verstehen sich als Ergänzung des Artikels von Bergengruen, der ansonsten durchaus dem Forschungsstand entspricht.

Ärgerlich hingegen ist der Artikel „Phantastik“ von Hans Richard Brittnacher, der sich zwar sehr viel Mühe gibt den – meines Erachtens immer noch brauchbaren – Ansatz von Tzvetan Todorov karikierend misszuverstehen, diesem dann aber nichts anderes entgegenzusetzen hat als eine weitgehend „motivorientierte Definition des Phantastischen“. Neuere Studien zur Funktionsweise phantastischer Literatur, zum Beispiel die Monografien von Uwe Durst oder von Jan Erik Antonsen, werden gar nicht erst erwähnt, obwohl man es als ausgewiesener Phantastikspezialist eigentlich besser wissen sollte.

Die mangelnde Systematik bei der Zusammenstellung der Unterkapitel hat nun nicht nur Auswirkungen auf die größtenteils fehlende interne Vernetzung der Beiträge, sie führt außerdem zu einigen nicht immer produktiven Redundanzen und Überschneidungen. So wird das zentrale Prinzip des sogenannten „Serapionismus“ an mehreren, voneinander getrennten Stellen des Bandes diskutiert, zum Teil mit, zum Teil aber leider auch ohne Berücksichtigung der Imaginationslehren des deutschen Idealismus und der Frühromantik. Schwierig ist auch die genaue systematische Verortung der ebenfalls ganz zentralen Intermedialitätsproblematik, der mehrere Kapitel gewidmet sind, ohne dass die thematischen Schwerpunkte und speziellen Bezüge der einzelnen Kapitel klar wären. Ähnliches gilt für das Stichwort „Geheimnis“ oder für die mehr als freischwebende Kategorie des „Erzählens“. An diesen und anderen Überlappungen zeigen sich die Grenzen einer solch offenen, ja nahezu beliebigen ,Systematik‘ in aller Deutlichkeit. Hält man die an dieser Stelle reichlich konfuse Architektur des neuen Handbuchs von Lubkoll und Neumeyer gegen die der älteren Handbücher, fällt der Vergleich eindeutig zugunsten der älteren aus.

Das letzte Kapitel behandelt die philologischen, rezeptionsgeschichtlichen und didaktischen Aspekte des Werks: Hoffmann-Editionen, Hoffmann-Gesellschaften, die zahlreichen Adaptationen im Film, in der Musik und der bildenden Kunst. Gut recherchiert ist das Kapitel über die Rezeption in der Musik. Für den Bereich Film, in dem vor allem die einschlägigen Literaturverfilmungen genannt werden, keineswegs aber Filme, die ,nur‘ motivisch oder ästhetisch von Hoffmann beeinflusst sind wie etwa Die zwei Leben der Veronika von Krzysztof Kieślowski (1991), hätte man sich unter anderem ein paar Sätze über das immerhin erwähnte Andrej Tarkowski-Drehbuch Hoffmanniana (1974 und nicht 1987!) gewünscht. Der Artikel zur bildenden Kunst beschränkt sich weitgehend auf die Buch-Illustrationen und fällt damit ebenfalls hinter dem entsprechenden Kapitel im Handbuch von Brigitte Feldges und Ulrich Stadler, in dem unter anderem auf den wichtigen Aspekt der Hoffmann-Porträts eingegangen wurde, zurück.

Der rezeptionsgeschichtliche Teil, mit Unterkapiteln zur literarischen Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert zeigt, wie stilprägend einzelne Werke Hoffmanns, allen voran seine Fantasie- und Nachtstücke, für eine große Anzahl von Autoren gerade des frühen 20. Jahrhunderts waren. Genannt werden unter anderen Alfred Kubin, Oskar Panizza, Franz Kafka und Carl Einstein. Die wichtige Vermittlerrolle von Franz Blei, der sich sehr für die Hoffmann-Renaissance um 1900 einsetzte, bleibt leider unerwähnt. Besonders lang ist die Liste der Vermissten in dem nun folgenden Kapitel zur internationalen Rezeption, das sich ganz auf die anglo-amerikanische, französische und russische Literatur konzentriert. Die interessanten Spuren, die Hoffmannlektüren im skandinavischen und japanischen Fin de Siècle, aber auch in der lateinamerikanischen Phantastik gezeitigt haben, bleiben außen vor. Während der philologisch nicht eindeutig zu belegende Einfluss Hoffmanns auf Poe wenigstens erwähnt und relativ breit diskutiert wird, werden zahlreiche im französischen Kontext wichtige Vermittlerfiguren nur en passant oder gar nicht genannt. Dies gilt sowohl für Personen aus dem Umfeld von Hoffmann wie David Ferdinand Koreff, der Hoffmanns Texte in Paris verbreitete, wie auch für mehrere Generationen von französischen Hoffmannforschern und Literaten, angefangen bei seinem Übersetzer François-Adolphe Loève-Veimars, über den als Vermittler zwischen Romantik und Symbolismus überaus wichtigen Théophile Gautier, dessen Poetik des „Conte fantastique“ direkt auf Hoffmann zurückgeht, bis hin zu Paul Sucher und Albert Béguin, deren Studien und Übersetzungen im ganzen Handbuch mit keinem Wort erwähnt werden. Auch ein weiterer, gerade in Frankreich zentraler Aspekt, fällt unter den Tisch: die Faszination für die Person des Dichters und für das seit Walter Scott immer wieder kolportierte Bild des „wahnsinnigen Genies“, das integraler Bestandteil der gesamten Hoffman-Rezeption ist. Diese Mängel mögen auch mit dem Umstand zusammenhängen, dass von den drei einschlägigen Monografien zur Hoffmann-Rezeption den Handbuch-Autoren offenbar nur eine bekannt ist. Die Arbeiten von Elizabeth Teichmann (1961) und Ute Klein (2000) werden nirgends erwähnt.

Deutlich besser und vollständiger sieht es beim „slawischen Bereich“ aus. Die textnah präsentierten Rezeptionsbeispiele zeigen die Werke von E.T.A. Hoffmann, den neben Friedrich Schiller lange Zeit wichtigsten deutschen Dichter in Osteuropa, als Prätexte für zahlreiche russische Erzählungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Hoffmann wird – ähnlich wie in Frankreich – zwar bereits ab den frühen 1820er-Jahren gelesen, sein Einfluss auf die russische Romantik beginnt aber erst in den 1830er- und 1840er-Jahren mit Wladimir F. Odoevskij, Nikolai Gogol und Fjodor M. Dostoevskij und reicht bis in die frühsowjetische Avantgarde. Der polnische Kontext, zum Beispiel der enge Bezug der polnischen Dekadenzdichtung zur deutschen Romantik und zu Hoffmann, man denke hier vor allem an Stanisław Przybyszewski, wird leider weder erwähnt noch als Forschungsdesiderat genannt.

Zu der den Band abschließenden Auswahlbibliografie ist leider auch nicht viel Löbliches zu sagen. Die bereits erwähnten Lücken bei der nach jedem Kapitel aufgelisteten Forschungsliteratur – die sich keineswegs auf neuere und neueste Publikationen beschränkt – werden auch hier nicht geschlossen. Vergleicht man zudem das 6-seitige Verzeichnis mit der 50-seitigen (ebenfalls noch lückenhaften) Bibliografie des Handbuchs von Kremer wird auch hier wieder die Beliebigkeit der Selektion deutlich, beschränkt sich die enge Auswahl des neuen Handbuchs doch keineswegs auf die Publikationen der letzten zehn Jahre. Warum die Herausgeber darauf verzichtet haben, hier klare Akzente zu setzen, ist schlechterdings nicht nachvollziehbar.

Fazit: Als Erstorientierung im Studium gewiss geeignet, vor allem auch wegen der Vollständigkeit der behandelten Werke, als Orientierung im Dschungel der Hoffmann-Forschung jedoch nur sehr bedingt tauglich, vor allem, wenn man das Preis-Leistungsverhältnis ins Auge fasst: Das umfangreichere und wissenschaftlich empfehlenswertere Handbuch von Detlef Kremer kostet genau die Hälfte.

Titelbild

Christine Lubkoll / Harald Neumeyer (Hg.): E.T.A. Hoffmann Handbuch. Leben – Werk – Wirkung.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2015.
453 Seiten, 99,00 EUR.
ISBN-13: 9783476025234

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