Bitterer Abschied

Das Jugendbuch „33 Bogen und ein Teehaus“ erzählt die autobiografische Geschichte der Flucht einer Familie aus dem Iran

Von Hannelore PiehlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hannelore Piehler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit zwei Koffern kamen sie an. Zwei Koffer, in denen alles war, was die sechsköpfige Familie noch besaß. Es war Weihnachten, doch das wussten sie nicht. Die Straßen in Westberlin waren leer, nicht ein Mensch zu sehen. „Ich dachte, es hätte sich eine Naturkatastrophe ereignet und die Leute wären aufgrund der beißenden Kälte zu Hause geblieben“, erinnert sich Mehrnousch Zaeri-Esfahani. Mit einer derartigen Kälte hatte die Familie aus dem Iran nicht gerechnet. Ohne Mützen, ohne Handschuhe und Winterjacken liefen die Eltern und Kinder los und fanden schließlich einen Taxifahrer, der sie in ein Hotel brachte. Der letzte Rest des Fluchtbudgets war damit aufgebraucht – und das neue Leben in Deutschland begann. Am Montag nach den Weihnachtsfeiertagen sprach der Vater das kleine Wort aus, in das die Familie ihre ganze Hoffnung gesetzt hatte: „Asyl“.

Über Flüchtlinge, ihre Motive und Ziele, ihre Aufnahme in Deutschland und Möglichkeiten der Integration wird seit Monaten diskutiert, doch selten genug kommen die Betroffenen selbst zu Wort. Das autobiografische Jugendbuch „33 Bogen und ein Teehaus“, in dem die 42-jährige Sozialpädagogin Mehrnousch Zaeri-Esfahani die Geschichte der Flucht ihrer Familie Mitte der 1980er-Jahre aus dem Iran nach Deutschland erzählt, bietet hier ganz authentische Einblicke in die Hoffnungen und Ängste von Flüchtenden, speziell in das Leben während des Iran-Irak-Krieges, vor dem sie flohen. Und es macht vor allem den Schmerz und den Verlust, den jedes einzelne Familienmitglied auf sich nahm, deutlich: „Der letzte Abschied war bitter und voll Tränen. Die letzten Worte meiner Großmutter schälten sich widerwillig aus den Tränen heraus: ,Sei nicht traurig. Ihr fahrt nicht für immer weg. Wir werden uns bestimmt bald wiedersehen. Und alles wird wieder wie vorher.‘ Sie gab mir einen Kuss und stieg aus. In diesem Moment starb ich ein bisschen.“ Denn natürlich würde nie mehr etwas sein, wie zuvor, das war auch dem Mädchen Mehrnousch damals klar. Von der Großmutter blieben ihr die schönen Erinnerungen: an ihre warme Stimme, an ihren einzigartigen Geruch von Lavendel und schwarzem Tee, von Zucker, Kardamom, Zimt und Safran. Aber eben nur Erinnerungen. Kein Wiedersehen.

Denn mit der Abreise aus dem Iran, als Urlaubsreise getarnt, gab es nur noch eine Richtung, so der Vater, ein angesehener Arzt in Isfahan: „Vorwärts“. Eindringlich und schlicht wird die Reise über die Zwischenstation Türkei nach Westdeutschland beschrieben, wo die eigentliche Odyssee der Familie durch verschiedene Flüchtlingsheime begann, bis sie schließlich in Heidelberg ein Zuhause erhielten. Die Autorin erzählt ganz aus der Perspektive des Kindes, schildert die Sorgen und Nöte der Familie, die Zweifel und Ängste der Eltern, die Konflikte unter den Flüchtlingen in den Unterkünften und schließlich das Gefühl der Reduktion auf den Status „Asylbewerber“: „Es interessierte niemanden, was mein Vater in seinem Leben geleistet hatte. Es zählte nur, dass wir kein Deutsch sprachen.“

Eine Sprache, die es nun auch für Mehrnousch zu lernen galt. Nicht nur die traurigen und heiteren Anekdoten, die Erinnerungen des kleinen Mädchens an ihre ersten Schultage ohne Deutschkenntnisse, an besondere Begebenheiten und Momente machen die Geschichte der Familie Zaeri-Esfahani lesenswert. Es bietet jugendlichen Leserinnen und Lesern auch eine kleine Zeitreise in die 1980er-Jahre, als ausgerechnet der Ost-West-Konflikt der iranischen Familie eine – angesichts heutiger Flüchtlingsrouten – mehr als komfortabel zu nennende Flugreise nach Deutschland ermöglichte. Vor allem aber die Sicht des iranischen Mädchens auf das neue Leben in Deutschland, das Staunen über die „komischen Dinge […], die die komischen Fremden in diesem komischen Land taten“, berührt und regt zum Nachdenken an. Hier hätte man gerne noch mehr erfahren, den Weg der Familie weiter verfolgt. Doch das Buch endet (literarisch überzeugend in einen Rahmen des Jahres 1986 eingebettet) mit den ersten Monaten in der ersten eigenen Wohnung in Heidelberg, in der die Familie leben sollte, bis über ihr Asylverfahren entschieden wurde.

Von der Autorin selbst sind als weitere Lebensdaten unter anderem das erfolgreiche Abitur und Studium bekannt, ihr älterer Bruder, ein Künstler, hat ihr Buch illustriert. „33 Bogen und ein Teehaus“ zeigt damit neben der lebendig erzählten Familiengeschichte auch eines: die Bereicherung für das Leben und die Literatur Deutschlands durch eine ehemalige Flüchtlingsfamilie.

Titelbild

Mehrnousch Zaeri-Esfahani: 33 Bogen und ein Teehaus.
Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2016.
146 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783779505228

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