Nicht nur bei Kerzenschein

Ein Tagungsband versammelt neue Perspektiven auf die europäische(n) Romantik(en)

Von Jochen StrobelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Strobel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Niemand weiß genau, was ‚Romantik‘ eigentlich ist, die Romantikforscher schon gar nicht. Bereits die Wort- und Begriffsgeschichte, erst recht die Forschungsgeschichte und damit die semantischen Zuschreibungen zum Begriff sind so reich und disparat, dass Arthur O. Lovejoy schon 1924 davon abriet, ‚Romantik‘ als Terminus in der wissenschaftlichen Beschreibungssprache überhaupt zu verwenden – oder ihn jedenfalls im Singular zu verwenden. Romantiken allerorten: Nimmt man heute oft stillschweigend an, ‚Romantik‘ sei mit dem Ideenreichtum und der symphilosophischen Geselligkeit der Jenaer Frühromantik um 1800 mehr oder weniger identisch, so sprach man schon seit dem frühen 20. Jahrhundert komplementär von der stärker literarisch ausgerichteten Hoch- und Spätromantik. Doch wann beginnt, wann endet die Romantik? Gibt es eine romantische Vorgeschichte in der Aufklärung, eine Nachgeschichte bis heute? Gehören Ausläufer des 19. Jahrhunderts in Dresden, München oder Stuttgart eigentlich noch dazu? Wie steht es mit romantischen Praktiken wie der nationalen Fest- und Denkmalskultur im 19. Jahrhundert und darüber hinaus? Sind Literatur, Malerei und Musik auf den einen Nenner ‚Romantik‘ zu bringen? Dass es in den europäischen Kulturen je nationale Romantiken gab, natürlich auch zeitversetzt, verkompliziert die Fragestellung noch einmal.

Helmut Hühns forschungsgeschichtlicher Beitrag arbeitet unter anderem heraus, dass ausgerechnet die Romantikkritiker des 19. Jahrhunderts ein bis heute zukunftswirksames Konzept ‚Romantik‘ modelliert haben. Mit Christoph Reinfandt will er ‚Romantik‘ sehr inklusiv als charakteristische Denkhaltung der Moderne verstehen, die man, so wieder Hühn selbst, ausschließlich „problem- und konfliktgeschichtlich“, aus Kontroversen heraus, beschreiben kann und die als Projekt „bis heute fortläuft“.

Gerhart Hoffmeister hatte in seinem 1990 zuletzt aufgelegten Buch „Deutsche und europäische Romantik“, das mehr war als ein bloßer Forschungsbericht, mehrere methodische Anläufe genommen: Nach einer wort- und begriffsgeschichtlichen und einer auf politikgeschichtliche Kontexte verweisenden Legitimation seines Unternehmens bot er erst historische Narrative zu allen Nationalromantiken, um dann die Wechselbeziehungen zwischen diesen darzustellen und schließlich anhand einer sicher problematischen (da auf intuitiv ausgewählten Kriterien beruhenden) Entfaltung von „Wesenszügen“ schlagende Gemeinsamkeiten darzustellen.

Schiedermairs und Hühns Band verfährt anders, indem er Wissenschaftler/innen aus mehreren Ländern und Disziplinen zu Wort kommen und individuelle Problemkonstellationen und Forschungsfragen entwickeln lässt. Heraus kommt dabei ein Panorama möglicher Fragen, die bei der Vermessung einer „Europäischen Romantik“ (der Titel verzichtet irritierenderweise auf den Plural) zu stellen sind. Auf diesem riesigen, kaum begehbaren Feld Forschung zusammenzuführen, Zusammenhänge aufzuzeigen, wie es in der Einleitung heißt, ist ein sehr ehrgeiziges Ziel. In der Leistung mancher Querverbindungen darf es auch als erreicht gelten, doch stehen viele der Beiträge ganz berechtigterweise zunächst einmal für sich oder eben für ein bestimmtes Konzept von Romantik. Dies zeugt aber bereits von der Qualität des Bandes. Ein gesamteuropäisches Forschungsdesign wird in der Vielfalt und vielleicht sogar Vollständigkeit der Paradigmen sichtbar.

Ein Forschungsprojekt, das sich der oder einer ‚Europäischen Romantik‘ widmen möchte, macht es sich nicht leicht. Nachzulesen ist das in den 20 Beiträgen, die sich mit den Künsten, mit Philosophie und Wissenschaftsreflexion sowie den Literaturen beschäftigen. Die dem Band zugrunde liegende Tagung ging von der „Forschungsstelle Europäische Romantik“ an der Universität Jena aus, die Hühn leitet. Es ist sehr zu wünschen, dass einige der angeschnittenen Themen und Methoden künftig weiter verfolgt und systematisiert werden.

Fünf Paradigmen sind zu unterscheiden: erstens Aktualität (und Analogiebildung), zweitens Vor- und Nachgeschichte, drittens (damit verwandt) Modernität, viertens Vergleich der Künste, fünftens Transnationalität – meist werden also Vergleiche angestellt, Analogien gesucht oder verworfen. Methodisch fällt neben einem medientechnischen Einschlag vor allem der ideengeschichtliche Schwerpunkt auf, der mitunter etwas verdünnt begriffsgeschichtlich daherkommt.

Ein Beispiel zu ‚Aktualität‘: Johannes Grave entwickelt ein bildtheoretisches Problem, mit dem sich die Kunstgeschichte heute befasst – die Zeitlichkeit der Bildbetrachtung und die ästhetische Erfahrung des Betrachters als ‚Zentrum‘ des Bildes –, anhand von Bildern romantischer Maler.

Eckhard Schumachers Aktualisierung wurde von Autoren und einer Literaturkritik bereits vorweggenommen, die immer wieder mit dem Stichwort ‚Romantik‘ hausieren gehen, von Rainald Goetz bis Christian Kracht. Als Selbstinterpretation und als nostalgisches Kokettieren ist es zu werten, dass Goetz in seiner Poetikvorlesung von 2012 die popliterarischen Jahre so zusammenfasst: „Wir waren Frühromantiker, eine Bewegung, jung, eine Wahrheit, und ganz schnell vorbei“.

‚Vor- und Nachgeschichte‘ liefert etwa Günter Oesterle mit seinem Aufsatz zu „Eigenarten romantischer Geselligkeit“, indem er die Begriffsgeschichte bis weit ins 18. Jahrhundert zurückverfolgt und zwei semantische Erweiterungen um 1800 erkennt, nämlich in moralischer und in konversationeller Hinsicht.

Die Schnittstelle zwischen Romantik und ‚Moderne‘ erkundet aus kunsthistorischer Sicht Kilian Heck, der Caspar David Friedrichs Bildverständnis als vorweggenommene Moderne wertet: Im Detail mimetische Anteile bilden ein fiktionales, auf Antiillusionismus zielendes Ganzes einer von Mehrdeutigkeit gekennzeichneten Neukomposition.

Edoardo Costadura diskutiert Forschungsmeinungen zur französischen Romantik: Handelt es sich um eine antipolitische Gegenmoderne oder ist sie der Beginn der Moderne? Costadura plädiert dafür, die semantische Relation zwischen ‚Romantik‘ und ‚Moderne‘ abwägend zu bestimmen – hier treten gleich zwei immens vielschichtige Begriffe in Beziehung zueinander.

Seltener als erwartet nehmen Beiträge des Bandes Vergleiche zwischen den Künsten vor. Walter Werbecks musikwissenschaftlicher Aufsatz geht von der Skepsis aus, überhaupt von einer musikalischen Romantik zu sprechen, bleibt dann aber doch dabei, indem er eine Vorgeschichte der Romantik (und den Beginn der Musik der Moderne) etwa 1770 mit Joseph Haydn ansetzt und zwei übergreifende ‚romantische‘ Merkmale der Musik annimmt, nämlich das Bewusstsein der Geschichtlichkeit und ein Fortschrittsdenken.

Der Kunsthistoriker Reinhard Wegner fokussiert, ausgehend von der romantischen Landschaftsmalerei, eine Analogie von Bildender Kunst und Literatur beziehungsweise Sprache: Zu der schon von Grave angesprochenen Verzeitlichung des Sehens gehören auch Selbstreferentialität und die Reflexion der Bildbetrachtung, die in den Bildern selbst erscheint – romantische Bilder zeigen das Sehen als Prozess, indem sie ihre Skizzenhaftigkeit und ihren Entstehungsprozess ausstellen – und die dann in der sprachlich fixierten Bildbetrachtung wiederkehrt. Mit Karl Philipp Moritz und August Wilhelm Schlegel treten ein Wegbereiter und einer der ‚zentralen‘ Protagonisten der literarischen Romantik als Gewährsleute für die behauptete Analogie zwischen den Künsten auf.

Schließlich befassen sich erstaunlich wenige Aufsätze mit Transnationalität. Thomas Stamm-Kuhlmann weist den Transfer der romantischen Idee ‚organische Natur‘ in der romantischen Kunst, Medizin und Anthropologie bei Carl Gustav Carus, bei Caspar David Friedrich und bei dem dänischen Physiker Hans Christian Ørsted nach.

Angela Esterhammer beschreibt die öffentliche Rezitation improvisierter Dichtungen als populäres, medientechnisch induziertes und transnationales Phänomen der 1820er-Jahre – doch ist es auch ein romantisches Phänomen? Dies wird zumindest vorausgesetzt.

Fazit: In der Summe handelt es sich um im besten Sinne anregende Studien, die für den gegenwärtigen Dialog in der Romantikforschung überhaupt stehen und auf Fortsetzung warten.

Titelbild

Helmut Hühn / Joachim Schiedermair (Hg.): Europäische Romantik. Interdisziplinäre Perspektiven der Forschung.
De Gruyter, Berlin 2015.
327 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110310900

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch