Die damals „Junge Kunst“ ist heute die Klassik der Moderne

Die neu aufgelegte Reihe „Junge Kunst“ des Verlages Klinkhardt & Biermann ist ein Kompendium der Protagonisten der europäischen Avantgarde

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Jahr 1907 wurde von dem Kunsthistoriker Georg Biermann und dem Verleger Werner Klinkhardt die Klinkhardt & Biermann Verlagsbuchhandlung in Leipzig gegründet. Sie brachte kunsthistorische Fachliteratur heraus, auch Reihen wie „Meister der Graphik“, „Stätten der Kultur“, die „Monatshefte für Kunstwissenschaft“ und den „Cicerone“, eine Halbmonatsschrift für Künstler, Kunstfreunde und Sammler. Vor allem aber die Reihe „Junge Kunst“, eine moderne kunsthistorische Sammlung bibliophiler Bände zur europäischen Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts, machte Furore. Hier erschienen bereits ausgewiesene, aber auch noch in der Entwicklung befindliche Künstler wie Max Pechstein, Pablo Picasso, Emil Nolde, Heinrich Campendonk, Paula Modersohn-Becker, Otto Dix, Oskar Kokoschka, Vincent van Gogh oder Paul Klee.

Nach einer wechselvollen Geschichte des ab 1981 nach München übergesiedelten Verlages erhielt dieser 2010 wieder ein eigenes, seiner Tradition entsprechendes kunsthistorisches Profil und bringt seit 2014 in unregelmäßiger Folge Neubearbeitungen und Fortsetzungen der Reihe „Junge Kunst“ heraus. An den Lebensbildern und dem Schaffensprozess der bedeutendsten Künstler der europäischen Avantgarde wird mit überzeugenden Bildbeispielen, Fotografien und Auszügen aus Selbstzeugnissen demonstriert, wie Kunstwerke entstanden sind und welchen Einfluss dieses Jahrhundert des Umbruchs auf die Kunst genommen hat.

Mit Paul Klee wurden die überarbeiteten Neuauflagen dieser kunsthistorisch bedeutsamen Reihe eingeleitet. Wer war Paul Klee, fragt  Cathrin Klingsöhr-Leroy, Direktorin des  Franz-Marc Museums in Kochel am See, in ihrem einführenden Essay: ein Maler-Poet, ein künstlerischer Bürokrat, ein Hausmann avant la lettre, ein malender Philosoph? All das mag er gewesen sein, aber dennoch lässt sich so seine auf Selbstinszenierung bedachte Persönlichkeit nicht fassen. Klees Arbeiten waren erfüllt von der Suche nach Symbolen und Sinnbildern, die sein Anliegen, „die Realität der sichtbaren Dinge offenbar“ zu machen, optisch verdeutlichen konnten. Wie ein Miniaturenmaler wollte er die Natur ganz exakt für die Sprache des Stils durchlässig machen – und das bedeutete nicht nur genaue, sondern auch ekstatische Beobachtung der natürlichen Welt und ein Sich-zu-Eigen-Machen der  Extreme von Nah und Fern, der Nahaufnahmen des Details und der von fern gesehenen „kosmischen“ Landschaft. Mit diesen Bildern wollte Klee der Kunst ein Symbol zurückgeben, das in den alptraumartigen Gewalttätigkeiten des Ersten Weltkrieges und den darauf folgenden sozialen Unruhen für immer abhanden gekommen zu sein schien: den Paradiesgarten, eines der wichtigsten Gleichnisse der religiösen Romantik – das Sinnbild der Schöpfung selbst mit all ihren Arten, die unter dem Auge einer natürlichen (oder göttlichen) Ordnung friedlich zusammenleben.

„Vogelgarten“ heißt ein Aquarell von 1924 – da war Klee schon drei Jahre am Bauhaus, begeistert von der Idee, dass die Einheit aller Künste wiederentdeckt und sichtbar gemacht werden müsste. Das Bild ähnelt der Vorlage für einen Teppich, der von verschiedenen Seiten gesehen werden kann. Es gleicht auch einer Bühnendekoration. Im Schutz der Dämmerung, die sie umgibt, genießen die Vögel die stille Intimität eines nächtlichen Gartens. Aber die Finsternis kann auch unvermutete Gefahren bergen. Wie der „Seiltänzer“ (1923) aus einem seiner unvergesslichen Bilder geschickt über das Seil läuft, so bemühte sich auch Klee, ein gespanntes Gleichgewicht zwischen Pathos und Humor, Dunkelheit und Licht herzustellen und dies auf seinen Bildern in weithin verständlicher Form zu vermitteln.

Die noch von dem Maler autorisierte Biografie wurde in dem Klee-Band um die fehlenden Lebensdaten ergänzt und Auszüge aus dem Tagebuch halten die Eindrücke Klees von seiner Tunis-Reise aus dem Jahre 1914 fest. Das Verhältnis zu Franz Marc beleuchtet ein Briefdokument, und wie Klee sich selbst gesehen hat und wie die Zeitgenossen ihn gesehen haben – so wurde er insgeheim als „Bauhausbuddha“ bezeichnet –, wird in Bild und Text dargestellt.   Vincent van Gogh – kein Künstler hat so sehr unter dem Zwang sich auszudrücken gestanden wie dieser reizbare und ungeduldige Holländer. Was er seine „schreckliche Klarsichtigkeit“ nannte, wirkt heute genauso frisch wie damals, deshalb sind auch die 1888 gemalten „Sonnenblumen“, die gleich eingangs des Van Gogh-Bandes auf einer Doppelseite abgebildet werden, immer noch das populärste Stillleben in der Geschichte der Kunst. Der Künstler  hoffte, dass das Licht des Südens seine Bilder mit einer so starken chromatischen Intensität erfüllen würde, dass sie Einfluss auf die Seele und den Geist nehmen könnten. Klaus Fußmann, selbst Maler, 1974 bis 2005 Professor an der Berliner Hochschule der Künste, spürt in seiner Einführung dem ‚Mythos‘ van Gogh nach, der den Künstler in Höhen des Ruhmes gehoben hat, wie dieser es sich niemals hatte träumen lassen. In Augenblicken von äußerster visionärer Ekstase – Bilder wie „Sternennacht“ (1889) schildern sie – verwandelte sich alles, was van Gogh sah, zu aufwärts strömender Energie. Die Vision wird in ein dickes, eindringliches Farbplasma umgesetzt, das an den Linien entlangfließt, die der wild geführte Pinsel gezeichnet hat, als ob die Natur selbst ihre Adern geöffnet hätte. Mit einigen seiner Selbstporträts, wie etwa dem hageren Gesicht, das uns vor einem Hintergrund von eisblauen Wirbeln anstarrt (1889), hat er einen Grad der Selbsterforschung erreicht wie nach dem alternden Rembrandt kein anderer Maler.

Selbstbildnisse dokumentieren van Goghs Bemühen, mit sich zu leben. Nach dem Besuch von Paul Gauguin, bei dem die Temperamente der beiden Künstler aufeinanderprallten und van Gogh sich aus Verzweiflung ein Ohr verstümmelte, malte er sich 1889, in einen Mantel eingehüllt, die Pelzmütze auf dem bandagiertem Kopf („Selbstporträt mit verbundenem Ohr“) – nirgends ist die Dynamik seiner irrationalen Kraft stärker zu spüren, nirgends aber auch die Stärke seines Willens, die Kraft unter Kontrolle zu halten.

Paula Modersohn-Becker ist die wohl wichtigste deutsche Malerin des 20. Jahrhunderts, wurde aber erst nach ihrem frühen Tod 1907 als bedeutende Wegbereiterin der Moderne entdeckt. Während ihr Ehemann Otto Modersohn zeitlebens ein genuiner Landschaftsmaler blieb, orientierte sich Paula Modersohn-Becker, die „rücksichtslos geradeaus malende“ Künstlerin, wie Rainer Maria Rilke sie nannte, weniger am Naturvorbild, sondern vielmehr an der Kunst Paul Cézannes, Paul Gauguins und Maurice Denis‘, die sie bei ihren mehrfachen Aufenthalten in Paris verarbeitete. In Worpswede, der Moorregion mit den ständig wechselnden Farbreizen der Natur, hatte sie sich der Landschaftsmalerei gewidmet, aber „in der Ferne glüht[e], leuchtet[e] Paris“. Und zwischen diesen beiden Polen tendiert auch ihr Werk, das Frank Laukötter, Direktor des Paula Modersohn-Becker Museums in Bremen, in dem ihr gewidmeten Band beschreibt.

Eine tiefe Einfühlung in die soziale Situation und persönliche Befindlichkeit ihrer Modelle verbindet die frühen Bildnisse in ihrer schweren und ernsten Form mit ihren mittleren und späten Gemälden, die Kinder und Erwachsene aus ihrem Umkreis, aus der bäuerlichen Umgebung in Worpswede darstellen. Paula Modersohn-Beckers Vorgehensweise radikaler Vereinfachung, die sie von der Skizze auf das Gemälde überträgt – „die große Einfachheit der Form“, wie sie sagt –, zielt auf ein Allgemeingültiges, ein Elementares, das Monumentalität und Lebendigkeit, Zartheit der Empfindung und Entschiedenheit des Ausdrucks vereint.

Das „Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag“ (1906), eine symbolisch Schwangere, stellt den ersten Selbstakt einer Frau dar, ihr letztes, „Selbstbildnis mit zwei Blumen in der erhobenen linken Hand“ (1907), zeigt sie dann wirklich schwanger, ihre rechte Hand ruht über ihrem Bauch, ihre linke hält zwei Blüten als Symbole für die werdende Mutter und für das kommende Kind. In der „Sitzenden Bäuerin mit Kind auf dem Schoß“ (1903) hat die Malerin die noch frische Farbe mit dem Pinselstiel aufgeraut. Von allem Zeitgebundenen befreit, wird die Mutter aus Worpswede zur „Gottesmutter“, deren Körper mit den Konturlinien des Kindes verschmilzt. Fast immer bettet Paula Modersohn-Becker die Figuren in Naturausschnitte mit Bäumen und Tieren ein, so auch den „Sitzenden Jungen mit Apfel in den Händen“ (1904), der ein wenig bang, aber doch erwartungsvoll in die Welt schaut. Dagegen lässt die Verflechtung von Mensch und Natur in „Zwei Kinder zwischen Birken“ (um 1904) die fast märchenhafte Harmonie von Kind und Baum erst glaubhaft werden. Die Malerin wollte das Bild als Fläche und nicht als imaginierten Tiefenraum verstehen. Im Stillleben, in Arrangements zwischen Einfachheit und Festlichkeit, entdeckte sie eine neue Herausforderung für sich. In ausschnitthafter Nahsicht und leuchtender Farbigkeit bringt sie den visuellen Reiz, das „Vibrieren der Dinge“ zum Ausdruck („Stillleben mit Milchsatte“, 1905). Paula Modersohn-Becker hat ein erstaunliches, aber nicht abgeschlossenes Werk hinterlassen, das der Autor Frank Laukötter als ein gleichsam aus beständiger Selbstverwirklichung hervorgegangenes großes Experiment bezeichnet.

Eine Frau vor dem Hutladen – das ist das Thema eines der bekanntesten Bilder von August Macke („Der Hutladen“, 1914), einem der Hauptvertreter und Initiatoren des Rheinischen Expressionismus. Mackes Bilder strahlen in leuchtenden Farben und scheinen eine Feier des Stadtlebens zu sein, in der die dargestellten Gestalten – wie hier die elegante, aber ganz entspannte Dame  – sich in einer idyllischen Umwelt bewegen. Sein Werk entstand in gut sieben Jahren, zwischen 1907 und 1914, und Hajo Düchting, Maler, Kunstdozent und ein Kenner der Kunst des 20. Jahrhunderts, bringt es uns in dem August-Macke-Band nahe. Der Autor  geht vor allem auf das Zentralthema in Mackes Schaffen, das „Irdische Paradies“ oder auch das „Goldene Zeitalter“, eine aus der Antike stammende sozialutopische Vorstellung einer Welt in friedlichem Einklang von Mensch und Natur, ein. Margarethe Joachimsen, Gründungsdirektorin des August-Macke-Hauses in Bonn und langjährige Herausgeberin der Schriftenreihe des Vereins August-Macke-Haus, beschäftigt sich dagegen mit der Beziehung Elisabeth und August Macke – „Menschen, die zusammengehören bis zur letzten Faser ihres Herzens“ (August Macke).

Schon in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg war Macke ganz er selbst geworden und zu einer völlig eigenen Sicht des Lebens seiner Zeit gelangt. Noch eine Steigerung gelang ihm, bevor er in den Schützengräben bei Perthes in der Champagne fiel, mit und nach der Tunesienreise 1914. Die Aquarelle, die er und Klee zurückbrachten, sind in der Intensität ihrer Farben faszinierend. In Bonn vollendete er noch zahlreiche bedeutende Bilder, die  er bereits vor der Reise begonnen hatte. Franz Marc schrieb in seinem Nachruf: „Macke malte in lichteren und strahlenderen Farben als irgendeiner von uns. So licht und strahlend, wie er selbst war.“1913 hatte Franz Marc, der bald darauf – 1916 – vor Verdun fiel, eine Vision der Apokalypse gemalt, wie sie das unschuldige Leben überwältigt, und ihr den Titel „Tierschicksale“ gegeben. Diese tragische Vision von Materie – die Erde und ihre Pflanzen wie auch die Tiere –, von unerbittlichen Energiestrahlen auseinandergerissen und zerstört, erscheint heute noch als wirklich prophetisch. Das Ich oder die Leere, Ekstase oder Chaos – das waren die Wahlmöglichkeiten eines Expressionisten wie Marc, dem sich keine Berufenere als Cathrin Klingsöhr-Leroy, die Direktorin des Franz-Marc-Museums in Köchel am See, in dem Franz-Marc-Band widmet.

Menschenferne im Werk Marcs schließt Menschen nicht aus, wie „Lesende Frau im Grünen“ (1906), „Zwei Frauen am Berg“ (1906) oder „Akt mit Katze“ (1910) bezeugen. Aber die Tierdarstellung, in offensichtlichem Gegensatz zu traditionellen Bildern dieses Genres, stand doch im Zentrum seines Schaffens. Das Tiermotiv, so die Autorin, sollte die große, umfassende Harmonie der Natur, ihren Rhythmus und Kreislauf wiedergeben und fühlbar werden lassen. Schon „Blaues Pferd I“ (1911) steht ein für die neue Symbolsprache. Blau, in der Farbe des Immateriellen, des Himmels, steht das junge ungestüme Tier kraftvoll da, mit Pathos, aber ganz unheldisch. „Der Tiger“ (1912) – das Geschmeidige, Glatte  der Raubkatze ist in flächig erscheinendes kristallines Gefüge übersetzt. Statt eines Abbildes  gewinnt Marc ein Sinnbild. „Das Reh im Walde“ (1912) wiederum ist integrierter Elementarteil des Waldes. Nie verniedlichte oder monumentalisierte Marc seine Tiere; sie haben ihre Qual, ihre Schicksale. Sie sind ihnen ausgeliefert. 

Mit seinen eckigen Konturen, dem starren inquisitorischen Blick und dem allgemeinen Gefühl der Instabilität ist Picassos Bild „Les Demoiselles d’Avignon“ (1907) noch nach mehr als einem Jahrhundert ein bestürzendes, ein einmaliges Bild geblieben. Anstelle körperhafter Formen malte Picasso die Figuren – wir wissen, es sind Prostituierte –, als ob sie aus einer zusammenhängenden Substanz, einer Art dickem und alles durchdringendem Plasma gemacht wären. Die Blicke der fünf Mädchen konzentrieren sich auf jeden, der das Bild anschaut. Sie sind keine sich Anbietenden, sie sind moralisch Richtende.Markus Müller, langjähriger Leiter des Kunstmuseums Pablo Picasso Münster, betreut den Picasso-Band der Reihe „Junge Kunst“. Auf 80 Seiten ist es gelungen, eine gedankliche und optische Vorstellung von diesem bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts zu geben. „Die vielen Verwandlungen des Minotaurus“ hat der Autor seinen ebenso eindringlichen wie einfühlsamen Beitrag überschrieben, in dem er den unterschiedlichen künstlerischen Perioden und Richtungen, Gattungen und Medien, Themen und Motiven dieses Universalgenies nachgeht. So bereitete Picasso zusammen mit Georges Braque den Boden für den Kubismus vor. Die Welt wurde als eine Fläche voller sich verschiebender Beziehungen dargestellt, die den Betrachter mit einbeziehen. Der Künstler ging auch hier wieder bis zum Äußersten, er nahm ein erkennbares Teilchen der wirklichen Welt, ein Stück Wachstuch mit einem Rohrgeflechtmuster, das als Decke für einen Caféhaustisch gedacht war, und klebte es auf eines seiner Stillleben („Stillleben mit Rohrgeflecht“, 1912).

Picassos plastische Konstruktionen von 1912, besonders aber die „Gitarre“ (1912, Metall und Draht), hatten seit der Erfindung des Bronzegusses die Plastik am radikalsten verändert: Zum ersten Mal lag die Betonung nicht auf der Masse, sondern auf der Fläche, nicht auf dem Block, sondern auf den Einzelelementen, nicht auf dem geschlossenen Volumen, sondern auf der offenen Assemblage.

Weltweiten Ruhm erlangte „Guernica“ (1937), die machtvollste Diffamierung der Gewalt in der modernen Kunst. Picassos Motive – die weinende Frau, das Pferd, der Stier –, vorher schon immer wieder in seinen Werken aufgetaucht, trafen hier zusammen und wurden Formen für Extremsituationen. Sie wären für den Betrachter unerträglich, wenn ihre Spannung nicht in die gebrochene, aber sichtbare Ordnung des Bildes abgeleitet würde. Da Picasso sich weigerte, die Symbole zu erklären, muss „Guernica“ immer vieldeutig bleiben. Aber auch wenn man das Bild nicht in allen Einzelheiten entziffern kann, so ist „Guernica“ doch eine zeitlose Aussage über die Schrecken des Krieges und die Leiden der Unschuldigen.

Picasso hat die lebendigsten Bilder sinnlicher Lust gemalt, die je in der Kunst entstanden sind. Dabei projizierte er seinen eigenen Erregungszustand auf den Körper der Geliebten wie auf eine Leinwand („Akt im Garten“, 1934). In einer Serie von Radierungen der Suite Vollard begann er an seinem eigenen Mythos als mediterraner Künstler zu arbeiten. Er verband ihn mit dem Thema vom Bildhauer und seinem Modell. Andererseits verformte er den weiblichen Körper, baute ihn aus Knochen und Stein zusammen („Sitzende Badende“, 1930). In ihrer fast physischen Präsenz lässt die flächige und eckige Gestalt an ein Insekt denken, an eine Gottesanbeterin, die mit ihren Zangenzähnen und Klauen unbeweglich auf das bedauernswerte Männchen wartet. Das Bild der „Verwandlungsmaschinerie“, das Picassos Biograf Pierre Daix gebrauchte – Biografie und Kunst sind bei Picasso aufs Engste miteinander verbunden –, trifft ebenso zu wie der „Selbstäußerungszwang“, die autobiografische Verwurzelung seiner Kunst, in der Markus Müller den Grund für die existenzielle Tiefe des Picassoschen Werkes sieht, die ihm jenseits aller Moden und Stile permanente Aktualität sichert.

Wassily Kandinsky fing erst ziemlich spät an zu malen – 1896, als er nach München kam. Aus der russischen Volkskunst hatte er eine Vorliebe für flächige Farbtupfer übernommen. Die Murnau-Landschaften von 1909 zeigen eine üppig farbige, spielzeugartige, lustvolle Welt – und diese romantische Vision der Unschuld tauchte in seinen Arbeiten als Relikt einer vergangenen slawischen Märchenwelt immer wieder auf. Indem er aber die Farbe zum Selbstzweck erhob, konnte er die allzu simplen Assoziationen dieser Bilder unter Kontrolle bekommen. Seine Bilder sollten einen Geisteszustand schildern, sollten Manifestationen der Seele sein.

„Die abstrakte Kunst verzichtet auf Gegenstände und ihre Verarbeitung. Sie schafft sich die Ausdrucksformen selbst“, schrieb Kandinsky 1938. Hajo Düchting, Autor des Kandinsky-Bandes, sieht in „Komposition V“ (1911) – zwischen den abstrakten Formen erscheinen noch gegenständliche Hinweise, und alle diese Elemente verbinden sich zu einer Szenerie des Jüngsten Gerichts – bereits ein Schlüsselbild für den Übergang des Künstlers zur abstrakten Malerei. Kandinsky war sicher einer der ersten, die den Gegenstand aus ihren Arbeiten verbannten und damit eine größere Gefühlsintensität erreichen wollten. Man kann in seinen expressionistischen Abstraktionen – wie „Lyrisches“ oder „Romantische Landschaft“ (beide 1911) – nicht einmal mehr allegorische Inhalte entdecken. Was zählt, ist das lustvolle Gefühl, die frühlingshafte Freude, die die leuchtenden und transparenten Flecke aus Primärfarben auslösen – Rot, Blau, Gelb und Weiß –, die sich sanft wie verschwommene Lichtquellen im Nebel vor dem Auge entfalten. Für Kandinskys transzendentalen Idealismus begeisterten sich die Maler, die mit ihm die expressionistische Gruppe des ‚Blauen Reiter‘ bildeten. Aber er beeinflusste auch die Bauhaus-Philosophie und – Arbeit, denn die war den weltverbessernden Bestrebungen des Expressionismus keineswegs fremd.

Kandinskys Bilder nehmen den Betrachter heraus aus der sichtbaren Welt, sie konfrontieren ihn mit einer bestürzenden Alternative – der Welt, die Kandinsky in seinem Innern erlebte. Alles ist in Bewegung, alles ist mehrdeutig an diesen visionären Bildorten. Hajo Düchting untersucht den neuen Formenreichtum der späten Bilder, der durch Anklänge an biologische Strukturen eine lebendige, fantastisch wirkende Beweglichkeit erhält. Der „innere Blick“ geht durch die äußere „Form“ zum Inneren der Dinge hindurch. Bis zuletzt war sich Kandinsky seiner „inneren“ Welt sicher, aus der er seine Formen und Farben in unerschöpflichem Reichtum bezog. 

Der Amerikaner deutscher Herkunft Lyonel Feininger war 1887 nach Deutschland gekommen, stand dem Kreis des ‚Blauen Reiter‘ nahe, wurde Mitbegründer der Gruppe „Die Blauen Vier“, wirkte als Formmeister am Weimarer Bauhaus und kehrte 1936 in die USA zurück, nachdem seine Bilder von den Nationalsozialisten als entartet deklariert worden waren. Feininger, der sich selbst als Expressionist gesehen hat, schuf eine durch das Kristallprisma eines lyrischen Kubismus gesichtete gotisch-gläserne Welt, deutete Natur und Architektur in strengem, fugenartigem Rhythmus als kosmisch-geometrische Abstraktion.

In dem von dem Feininger-Spezialisten Ulrich Luckhardt kommentierten Feininger-Band kann man verfolgen, wie das einzelne Sujet in immer neue Denkkonstruktionen und Bilder überführt wird, wie der Linie, Farbe und Flächenbehandlung in den unterschiedlichen Darstellungsgattungen eine immer wieder andere Funktion zukommt. Die einzelnen Motivreihen umfassen alle Phasen des Feiningerschen Werkes, sie ermöglichen die Sicht auf die jeweiligen Kristallisationen der Bilder aus den vorgefundenen Sujets. Das ist alles andere als eine langweilige didaktische Demonstration, sondern ein gleichermaßen faszinierendes Augen- wie Denkerlebnis.

Feininger konnte, schon wegen seiner früheren Beschäftigung als Karikaturist, sehr schnell und prägnant das Besondere und Außerordentliche, aber auch das Sinnbildliche von Formen erfassen, und diesen Formvorrat, der bereits durch das denkende Sehen gegangen war und unterschiedliche Aspekte der Form mit einschloss, hatte er in seinen „Natur-Notizen“ angelegt und konnte er nach Belieben wieder aufgreifen und neu variieren. Es waren vielfältige, komplexe Sichten ein und desselben Sujets, einer Mühle, einer Kirche, einer Düne, von Schiffen, Orten und Wolken möglich, die er jeweils mit neuen, anderen Kraftlinien und energetischen Strukturen versah. Jede Darstellung des vorausgesetzten ‚gleichen‘ Motivs weist so einen anderen Charakter auf und macht nicht nur das Motiv, sondern immer auch die Art der Entstehung und die jeweilige Arbeitsweise in der realisierten Darstellung sichtbar.

Eines der ersten Feininger-Gemälde überhaupt ist die „Küstenlandschaft“ von 1907. Sie steht am Anfang der Bildfolge „Dünen“, die dann in den 1920er- und 1930er-Jahren durch Aquarelle, Federzeichnungen und Ölarbeiten fortgesetzt wird. Vor allem in Deep hat er sich mit den abstrahierenden Dünenformen beschäftigt. Den dominierenden Horizontalen setzte er senkrechte Luftgebilde entgegen, Strahlungen als eigentümliche Lufterscheinungen. Einmal werden die Häuser des Dorfes vor der dahinter liegenden Düne nah herangeholt, wobei Vertikalschraffuren die Darstellung über den Bildrahmen hinaus fortzusetzen scheinen („West-Deep“, Feder, aquarelliert, 1934), dann wieder wird der Detailreichtum reduziert und der Landschaftsraum in nuancierten Braun- und Blautönungen ausgeführt („Dünen-Küste III“, Aquarell, 1924) oder ein erdiges Braun des Dünengrundes schiebt sich wie eine Barriere in die azurblaue Lichtsphäre („Düne am Abend“, Öl auf Leinwand, 1927). Wasser, Licht, Luft und Architekturformen werden immer wieder in andere bildnerische Phänomene überführt. Atmosphärische wie elementare Energiefelder visualisieren das Einzigartige der Landschaft und die Unbeherrschbarkeit der Elemente.

Wie Ulrich Luckhardt zeigt, ist es Feininger gelungen, eine ergreifende Transparenz von Gegenständlichem und Immateriellem zu verbildlichen, einen Schwebezustand zwischen Realität und Vision zu beschwören. In die Weite und Unendlichkeit des Raumes wird der unscheinbar am Ufer stehende Mensch einsam und verloren hineingestellt. Vor ihm – und vor dem Betrachter – breitet sich die Farbe über Land, Meer und Himmel aus, werden Metaphern für das Sein gegeben, leuchtet das Geistige auf.

Corinna Thierolf, Hauptkonservatorin in den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen München, eine Spezialistin der Amerikanischen Kunst, zeichnet für den Band zu Willem de Kooning verantwortlich. Der aus Rotterdam stammende Künstler, einer der Pioniere der modernen amerikanischen Kunst, hat seine eigene Malerei als „Ereignis“ verstanden, das heißt, so führt die Autorin aus, dass er in jedem Bild eine Fülle von äußeren und inneren Eindrücken festhielt, die niemals vollständig und richtig nacherzählt werden können. Seinen „Women“, die er zwischen 1948 und 1953 gemalt hatte, liegt eine kräftige Zeichnung aus dem Handgelenk heraus zugrunde, so dass die hüftartigen Bauchungen und die ellenbogengleichen Winkel der zusammengepressten Motive an Reibung von Fleisch an Fleisch denken lassen. Das Vor- und Zurückschwingen des farbentriefenden Pinsels auf den wie improvisiert wirkenden Bildoberflächen war das genaue Gegenteil des kurzen und tupfenden Pinselduktus im analytischen Kubismus. De Koonings Gefallen an der Bilderwelt der Massenmedien spiegelt sich in „Women“ wider, ihr zähnefletschendes und beunruhigendes Lachen ist De Koonings Version des Mädchens, das auf den alten Camel-Reklamen sein gesundes Zahnfleisch entblößte. Mit diesem amphibischen Wesen, das zwischen Atavistischem und Trivialem angesiedelt ist, gelang De Kooning eines der eindrucksvollsten Bilder sexueller Verunsicherung in der ganzen amerikanischen Kultur.

Corinna Thierolf macht Korrespondenzen zwischen Kandinsky, Marc und De Kooning sichtbar und verweist auf die Kontinuität in den einzelnen Werkphasen des Künstlers: „Wie ein roter Faden zieht sich das Spannungsverhältnis von Figur und Abstraktion sowie von Figur und Raum durch das gesamte Werk.“

Lesen und Betrachten sind in den Bänden der Reihe „Junge Kunst“ untrennbar miteinander verbunden. Die subjektiv geschriebenen Texte – der Zugang zum jeweiligen Künstler wird immer wieder auf eine andere Weise vermittelt – regen den Leser zum Betrachten der Bilder und die Auswahl und Gruppierung der Bilder den Betrachter zum Lesen der Texte und zum Weiterdenken an. Dazu erhalten die kunstgeschichtlichen Bände durch ihre bibliophile Ausstattung einen besonderen Wert.

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Cathrin Klingsöhr-Leroy: Paul Klee. Junge Kunst Bd. 1.
Klinkhardt & Biermann Verlag, München 2012.
72 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-13: 9783943616002

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Klaus Fußmann: Vincent van Gogh. Junge Kunst Bd. 3.
Klinkhardt & Biermann Verlag, München 2012.
64 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-13: 9783943616026

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Christian Ring / Hans-Joachim Throl: Emil Nolde. Junge Kunst Bd. 11.
Klinkhardt & Biermann Verlag, München 2013.
72 Seiten, 11,90 EUR.
ISBN-13: 9783943616118

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Cathrin Klingsöhr-Leroy: Franz Marc. Junge Kunst Bd. 8.
Klinkhardt & Biermann Verlag, München 2013.
64 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-13: 9783943616071

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Gisela Geiger: Heinrich Campendonk. Junge Kunst Bd. 9.
Klinkhardt & Biermann Verlag, München 2013.
80 Seiten, 11,90 EUR.
ISBN-13: 9783943616088

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Paula Modersohn-Becker. Junge Kunst Bd. 7.
Klinkhardt & Biermann Verlag, München 2013.
80 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-13: 9783943616057

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Markus Müller: Pablo Picasso. Junge Kunst Bd. 14.
Klinkhardt & Biermann Verlag, München 2014.
80 Seiten, 11,90 EUR.
ISBN-13: 9783943616217

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Corinna Thierolf: Willem de Kooning. Junge Kunst Bd. 13.
Klinkhardt & Biermann Verlag, München 2014.
72 Seiten, 11,90 EUR.
ISBN-13: 9783943616200

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Frances Archipenko Gray: Alexander Archipenko. Junge Kunst Bd. 17.
Klinkhardt & Biermann Verlag, München 2015.
72 Seiten, 11,90 EUR.
ISBN-13: 9783943616262

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Ulrich Luckhardt: Lyonel Feininger. Junge Kunst Bd. 15.
Klinkhardt & Biermann Verlag, München 2015.
72 Seiten, 11,90 EUR.
ISBN-13: 9783943616248

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Christian Ring: Otto Modersohn. Junge Kunst Bd. 16.
Klinkhardt & Biermann Verlag, München 2015.
72 Seiten, 11,90 EUR.
ISBN-13: 9783943616255

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Hajo Düchting: Wassily Kandinsky. Junge Kunst Bd. 19.
Klinkhardt & Biermann Verlag, München 2015.
72 Seiten, 11,90 EUR.
ISBN-13: 9783943616309

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