Neue Forschungen zu einem alten Thema

Ein Sammelband beleuchtet „Lessing und das Judentum“

Von Irmela von der LüheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Irmela von der Lühe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit dem ersten Band der vom Lessing-Museum in Kamenz verantworteten neuen Reihe haben die Herausgeber Dirk Niefanger, Gunnar Och und Birka Siwczyk einen –  wie man schnell merkt – keineswegs „ausgeforschten“ Themenkomplex gewählt. Band 1 der neuen „Kamenzer Lessing-Studien“ widmet sich aus unterschiedlichen methodischen und disziplinären Perspektiven dem Thema „Lessing und das Judentum“.

Im ersten der vier großen Abschnitte des gewichtigen Bandes wird „Lessing im Horizont seiner Zeit“ situiert; dies geschieht mit Aufsätzen über „Die Juden“ und „Nathan der Weise“ sowie über Parodien und antisemitische Travestien vor allem des „Nathan“. Der zweite Abschnitt widmet sich „wissenschaftliche(n) und ideologische(n) Narrative(n)“; es folgen Beiträge zur jüdischen Lessing-Rezeption in Literatur und Bildender Kunst des 19. Jahrhunderts. Ein Abschnitt über „ost-und westeuropäische Perspektiven“ rundet den Band ab, so dass das Spektrum von frühen Nach- und Umdichtungen der Lessing’schen Dramen über Formen des Lessingkults im 19. Jahrhundert bis zur Lessing-Rezeption in Galizien, Polen, Spanien und Israel reicht. Thematisch und methodisch gelingt in fast allen Beiträgen eine Stringenz im Umgang mit dem Rahmenthema, wie man sie in Sammelbänden, die zudem auf Tagungen zurückgehen, nur selten findet. Materialreich und präzise in der Argumentation verfolgen die Beiträge durchweg ein ebenso überzeugendes wie dringliches Anliegen: nämlich sichtbar zu machen, welchen diskursiven und diskurspolitischen Adaptions-und Abwehrstrategien Lessings Stücke mit ihrem Plädoyer für Toleranz und natürliche Religion und ihrer aufklärerischen Attacke gegen Antisemitismus und die Macht der Vorurteile ausgesetzt waren.

Schon der den Band eröffnende Aufsatz von Gisbert Ter-Nedden (†) setzt in dieser Hinsicht Maßstäbe, denn er verortet Lessings thematisch so folgenreiche Stücke in einem in dieser Weise noch nicht exponierten Kontext und analysiert sie damit als „Modernisierungen des Samariter-Gleichnisses“. Von dem wirkungsmächtigen Vorwurf ausgehend, dass Lessings Juden im Grunde gar keine Juden seien, weist Ter-Nedden nach, dass die Fixierung der bisherigen Forschung auf das Thema „Judentum“ den Blick dafür verstellt habe, dass Lessing die Fabel für sein frühes Lustspiel im Gleichnis vom barmherzigen Samariter und damit bei den „Juden“ des orthodoxen Judentums gefunden habe. Die Rolle einer verachteten Minderheit, die Juden im Christentum spielten, nahmen die Samaritaner im orthodoxen Judentum ein. Im Rückgriff auf die neutestamentliche Forschung Johannes von Lüpkes entwickelt Ter-Nedden eine brisante und plausibel begründete These: „Lessing macht also das biblische Lehrstück über wahres und falsches Judentum zu seinem ersten Lehrstück über wahres und falsches Christentum. (Das zweite wird dann der „Nathan“ sein)“. Der Gegnerschaft Lessings gegen die protestantische Orthodoxie, seinem Plädoyer für die rechtliche und soziale Gleichstellung der Juden tut dies keinen Abbruch; auch mindert dieser Befund keineswegs die Bedeutung der Freundschaft zwischen Lessing und Mendelssohn, freilich wird die ideen- und intellektuellengeschichtliche Relevanz dieser Freundschaft anders und neu akzentuiert. Sie zeigt „zwei junge hochbegabte Intellektuelle, die sich in vergleichbarer biographischer Situation befanden“ und sich die Freiheit nahmen, „ihr Curriculum selbst zu bestimmen und sich dem ganzen Reichtum der modernen philosophischen, wissenschaftlichen und ästhetischen Kultur zu öffnen, die weder jüdisch noch christlich war“. Die „überindividuelle, historische Signifikanz“ dieser Freundschaft besteht darin, dass beide sich von der „Orthodoxie“ verabschieden und als moderne Intellektuelle an „kontroverstheologischen Fragen“ nicht länger interessiert waren. Das gilt für Lessing zweifellos noch entschiedener als für Mendelssohn; vor allem aber beweist eine solche Argumentation, dass ein vereinseitigender Blick auf „Lessing und das Judentum“ nur allzu leicht in eine „Identitätsfalle“ gerät, der zu entgehen auch das Anliegen vieler anderer  Beiträge des Bandes ist.

Das gelingt in Fällen, wo es um die Rekonstruktion des literarischen und politischen Antisemitismus innerhalb der Lessing-Rezeption (Gunnar Ochs, Dirk Niefanger) oder den „Einfluss Lessings auf David Friedländer“ und die „ideengeschichtlichen Hintergründe des Sendschreibens an Propst Teller“ (Uta Lohmann) geht, naturgemäß leichter als im Falle einer Beschäftigung mit „Lessing in der Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts“ (Bernadette Malinowski) beziehungsweise mit „Lessing in der jüdischen Historiographie“ (Gabriele von Glasenapp). So instruktiv und informativ diese Untersuchungen sind, so hilfreich und kompilatorisch angesichts eines in diesem Sinne zugerüsteten Forschungsanliegens, so sehr operieren sie dann doch zumindest implizit mit den methodischen Vorgaben einer entweder „jüdischen“ oder nicht-jüdischen „Identität“, die in den einleitenden Aufsätzen gerade problematisiert worden ist.

Einem solchen Dilemma ist schwer zu entkommen, umso spannender der Versuch, die „deutsch-jüdische Gedächtniskultur“ im Jubiläumsjahr 1879 aus der Perspektive einer „paradoxe(n) Überschneidung mehrerer Diskurse“ zu rekonstruieren (Markus Fauser). Im selben Jahr, da der 150. Geburtstag von Lessing und Mendelssohn einerseits und 100 Jahre „Nathan der Weise“ andererseits gefeiert wurden, begegnet erstmals der Begriff des Antisemitismus, der wenig später zu einem diskurspolitischen Leitmotiv avancieren und die „postemanzipatorische“ Zukunftsgewissheit großer Teile des assimilierten jüdischen Bürgertums als Illusion entlarven sollte. In welcher Weise das 1879 veröffentlichte „Lessing-Mendelssohn-Gedenkbuch“ die entstehende „Wissenschaft des Judentums“ sowie den „Deutsch-Israelitischen Gemeindebund“ stimulierte und zum wichtigen Instrument im argumentativen und institutionellen Abwehrkampf gegen den Antisemitismus wurde, wird ebenso quellengestützt nachgezeichnet wie die diskursive Analogie in den jüdisch-orthodoxen und in den antisemitischen Attacken auf die Dioskuren des christlich-jüdischen Dialogs. Auf diesem Hintergrund wird der von Philipp Theisohn vorgeschlagene Begriff einer „paranoischen Literaturgeschichtsschreibung“ ausgesprochen plausibel, denn mit ihm werden nicht nur programmatisch antisemitische Autoren wie Eugen Dühring und der nicht minder populäre Adolf Bartels fassbar, sondern eine seit der Kaiserzeit dominante Tendenz, „den Toleranzgedanken aus der deutschen Literaturgeschichte zu tilgen“ und Autoren, die sich auf Lessing beziehen, entweder zu „dekanonisieren“ oder zu „judaisieren“. Das selbstzerstörerische Potenzial eines solchen chauvinistisch-antisemitischen Blicks auf die deutsche und europäische Literaturgeschichte zeigt sich freilich nicht nur bei Eugen Dühring, sondern in den pseudowissenschaftlichen Verlautbarungen eines Sebastian Brunner, der unter anderem mit dem Pamphlet „Lessingiasis und Nathanologie“ (1890) zur Galionsfigur des klerikal-katholischen Antisemitismus in rassistisch-antikapitalistischer Absicht wurde (Victoria Gutsche).

Auch der dritte Abschnitt des Bandes, der nach der Präsenz Lessing-Mendelssohns in Literatur und Bildender Kunst fragt, liefert sachlich gewichtige und systematisch weitreichende Beiträge: etwa zum Gespräch über Lessing zwischen Rahel Levin und David Veit (Barbara Hahn), zur An- beziehungsweise Abwesenheit Lessings in Liebesbriefen des 19. Jahrhunderts (Jörg Paulus), zur Bedeutung Lessings für das Sprachdenken sowie für Fritz Mauthners letztes großes Werk „Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande“ (Jacque Le Rider); schließlich zur Konstruktion und Diskussion über die Lessing-Denkmale seit 1781 (Birka Siwczyk) sowie – besonders aufschlussreich – zu Lessing und den „Anfänge(n) einer jüdischen Malerei“ bei Moritz Daniel Oppenheim (Karl Möseneder). Mag man anfänglich über den unter Essentialismus-Verdacht stehenden Terminus „ jüdische Malerei“ noch gestutzt haben, so wird man im Laufe des Beitrags und anhand genauer Beschreibungen der Skizzen zu dem Gemälde „Moses Mendelssohn empfängt Johann Caspar Lavater“ aus der Zeit um 1856 eines anderen belehrt: nämlich über die religions-und emanzipationspolitische Relevanz einer künstlerischen Anstrengung, die im Medium der Genremalerei christlichen Bekehrungsversuchen eine Absage erteilt und reformjüdisches Toleranzdenken zu bekräftigen versucht.

Ob den Beiträgen des Abschlusskapitels die in sich ohnehin divergenten „ost-und westeuropäischen Perspektiven“ gemeinsam sind, darf getrost offenbleiben; denn mit Gewinn liest und versteht man (Anke Detken), dass die spanische Übersetzung des „Nathan“ einschließlich der vom Übersetzer beigefügten Kommentare als Kritik an der Intoleranz des spanischen Katholizismus angelegt ist und zugleich ein editionsphilologisches Novum darstellt: Anders als in Deutschland, wo eine entsprechende Ausgabe bis heute fehlt, bietet die spanische Übersetzung sowohl Lessings Text als auch Friedrich Schillers Bühnenbearbeitung. Den Besonderheiten der Lessing-Rezeption in der polnischen Literatur und in Polen (Pawel Zarychta), im Theater sowie in Schulprogrammen des österreichischen Kronlandes Galizien (Isabel Röskau-Rydel) sind eigene Beiträge gewidmet. Ebenso den freilich ein wenig forciert aufgespürten intertextuellen Bezügen zwischen der Ringparabel und der Erzählung „Schiller in Barnow“ von Karl Emil Franzos (Marta Muzychuk).

Kaum überraschend, in der konzisen Beschreibung aber höchst aufschlussreich, sind die Überlegungen zum „Schweigen des Zionismus zu Lessing“ (Malgorzata A. Maksymiak). Lessings „Nathan“ war alles andere als der von Max Nordau propagierte „Muskeljude“ und auch Theodor Herzl kritisiert ihn bei allem Respekt als Repräsentanten eines inzwischen nicht mehr zeitgemäßen „Mendelssohnismus“. Wie eine Fortschreibung unter politisch radikal veränderten Bedingungen lesen sich solche Befunde angesichts der Nathan-Rezeption in Israel (Jan Kühne). Vergeblich hatte Max Brod als Dramaturg des israelischen Nationaltheaters Habima auf die Möglichkeit einer Inszenierung des Stückes gehofft; erst 1966 ging sie mit Shimon Finkel über die Bühne – freilich in einer Bearbeitung, die Nathan zum zionistischen Juden machte, der die Diaspora verlassen hat und alle Anstrengungen um Assimilation und Akkulturation als von Grund auf verfehlt ansieht. Als Schlusspunkt eines ungewöhnlich facettenreichen Bandes mag dies ernüchternd erscheinen, markiert aber doch die fortdauernde kulturgeschichtliche Brisanz des Themas. Auf den angekündigten Folgeband, der speziell das 20. Jahrhundert behandeln soll, darf man also gespannt sein.

Titelbild

Dirk Niefanger / Gunnar Och / Birka Siwczyk (Hg.): Lessing und das Judentum. Lektüren, Dialoge, Kontroversen im 18. und 19. Jahrhundert.
Georg Olms Verlag, Hildesheim 2015.
472 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-13: 9783487147505

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch